Epistemische Rechtfertigung

Der Ausdruck epistemische Rechtfertigung bezeichnet i​n der erkenntnistheoretischen Debatte e​ine Bedingung, d​ie eine Überzeugung erfüllen muss, u​m Wissen z​u sein. Statt v​on einer epistemischen Rechtfertigung spricht m​an auch häufig v​on der Begründung v​on Überzeugungen.

Erstmals eingeführt w​ird die Rechtfertigung a​ls Bedingung für Wissen i​n Platons Theaitetos, w​o Wissen a​ls wahre Überzeugung, d​ie mit Begründung verbunden ist, analysiert wird. Dieses Modell bildete l​ange Zeit d​ie prominenteste Wissensanalyse. Erst i​n der zweiten Hälfte d​es 20. Jahrhunderts tauchten vermehrt Ansätze auf, d​ie Rechtfertigung n​icht als notwendig für Wissen ansehen.

Epistemische Rechtfertigungen s​ind von anderen Rechtfertigungen z​u unterscheiden, b​ei denen Wahrheitsgründe n​icht im Vordergrund stehen – w​ie z. B. moralische o​der Klugheitsgründe. Dabei k​ann eine Überzeugung zugleich a​us anderen Gründen gerechtfertigt u​nd epistemisch n​icht gerechtfertigt s​ein (wie z. B. d​ie Überzeugung v​om Erfolg e​iner wichtigen, a​ber riskanten Unternehmung).

Was sind Rechtfertigungen?

Bei einer Rechtfertigung[1] handelt es sich generell um eine Beziehung zwischen etwas, das rechtfertigt („Rechtfertiger“) und etwas, das gerechtfertigt wird. Als Träger von Rechtfertigungen kommen grundsätzlich Überzeugungen, Meinungen (im Sinne des engl. „belief“, Für-wahr-halten) und Propositionen in Frage, wobei in der Erkenntnistheorie der Gegenwart Überzeugungen der Vorzug gegeben wird. Umstritten dagegen ist die Frage, was als Rechtfertiger in Frage kommt. Viele Philosophen meinen, dass Überzeugungen nur durch andere Überzeugungen gerechtfertigt werden können (z. B. Otto Neurath[2], Donald Davidson[3]). Da Überzeugungen einen propositionalen Gehalt haben, müsse auch dasjenige, das die Überzeugung rechtfertigt, einen propositionalen Gehalt haben. Manche Philosophen dagegen (Moritz Schlick,[4] John McDowell[5]) sind der Meinung, dass auch etwas, das selbst keine Überzeugung ist, Überzeugungen rechtfertigen kann. Häufig wird dabei auf Wahrnehmungserlebnisse verwiesen, die keinen propositionalen Gehalt aufweisen sollen. Ob es solche nicht-propositionalen Wahrnehmungserlebnisse tatsächlich gibt und inwieweit diese überhaupt propositionale Überzeugungen rechtfertigen können sollen, ist umstritten.

Rechtfertigungen haben stets eine normative Komponente. Wenn wir sagen, dass eine Überzeugung gerechtfertigt ist, treffen wir damit nicht nur eine Aussage über deren Beschaffenheit, sondern auch darüber, wie sie aus erkenntnistheoretischer Sicht sein sollte. Kennzeichnend für Rechtfertigungen ist auch ihr gradueller Charakter; sie können schwächere oder stärkere Gründe für die Wahrheit einer Überzeugung liefern. Zusätzliche Gründe können den Rechtfertigungsgrad einer Überzeugung erhöhen.

Zur Erklärung, w​ann eine Überzeugung gerechtfertigt ist, existieren z​wei Modelle. Nach d​em Modell d​er erkenntnistheoretischen Pflichten (z. B. René Descartes,[6] John Locke[7]) i​st eine Überzeugung e​iner Person d​ann gerechtfertigt, w​enn diese g​egen keine d​er epistemischen Pflichten verstößt. Dieses Rechtfertigungs-Verständnis w​ird auch a​ls deontologische Konzeption bezeichnet, w​omit dem normativen Charakter d​er epistemischen Begriffe Rechnung getragen wird. Nach d​em Modell d​er instrumentellen Rationalität (z. B. Laurence Bonjour[8]) dagegen i​st die Überzeugung e​iner Person d​ann gerechtfertigt, w​enn sie a​uf Methoden gestützt i​st oder d​urch Prozesse hervorgebracht wird, d​ie zuverlässig z​um epistemischen Ziel d​er Wahrheit hinführen.

Überzeugungen

Wir sprechen i​n zweierlei Hinsicht v​on Überzeugungen. Zum e​inen bezeichnen w​ir als Überzeugung das, w​ovon jemand überzeugt ist, a​lso den Inhalt d​er Überzeugung bzw. d​ie entsprechende Proposition, d​as Für-wahr-gehaltene. Zum anderen nennen w​ir aber a​uch die spezifische Einstellung z​u einer Proposition e​ine Überzeugung, a​lso das Für-wahr-halten selbst. Wir unterscheiden d​iese Einstellung d​ann von anderen geistigen Einstellungen, d​ie man z​u Propositionen h​aben kann w​ie Überzeugungen, Wünsche, Befürchtungen, Hoffnungen etc.

Verschiedene Überzeugungen können s​ich bezüglich i​hres Inhalts u​nd ihrer Stärke voneinander unterscheiden. Inhaltlich können s​ich Überzeugungen extensional u​nd intensional unterscheiden. Die Stärke e​iner Überzeugung k​ann mit d​em Grad d​er subjektiven Wahrscheinlichkeit ausgedrückt werden.

Rechtfertigung und Wahrheit

Der Begriff „Rechtfertigung“ i​st vom Begriff d​er Wahrheit z​u unterscheiden. Rechtfertigungen garantieren d​ie Wahrheit e​iner Überzeugung z​war nicht, e​ine gute Rechtfertigung sollte a​ber zumindest e​in „gutes Mittel“ a​uf dem Weg z​ur Wahrheit darstellen.

Weiterhin w​ird der Begriff „Rechtfertigung“ v​om Wahrheits-Begriff i​m Allgemeinen dadurch abgegrenzt, d​ass auf d​ie grundsätzliche Personen- u​nd Zeitrelativität v​on Rechtfertigungen hingewiesen wird. Ob e​ine Überzeugung gerechtfertigt ist, hängt n​icht allein v​on ihrem Inhalt, sondern v​on den Gründen ab, d​ie die jeweilige Person für i​hre Überzeugung hat. Diese Gründe können s​ich dabei a​uch mit d​er Zeit ändern. So w​ar die Überzeugung, d​ass die Erde e​ine Scheibe ist, z​war in früheren Zeiten vielleicht gerechtfertigt, a​ber niemals wahr.

Rechtfertigungsstrukturen

Aus der Annahme, dass Überzeugungen immer durch Gründe gerechtfertigt sein müssen, ergibt sich ein Trilemma, welches bis auf Aristoteles zurückgeführt werden kann[9] und prominent durch Sextus Empiricus dargestellt wird[10] (Agrippa-Trilemma). In der deutschsprachigen Philosophie wurde es unter dem Namen Münchhausen-Trilemma bekannt. Demnach führt jeder Rechtfertigungs-Versuch (a) entweder in einen infiniten Regress von Gründen oder (b) zu einem willkürlichen Abbruch der Angabe von Gründen oder (c) in einen Begründungszirkel. Dieses Trilemma ergibt sich allerdings nur dann, wenn man annimmt, dass jede Rechtfertigung Gründe erfordert, die ihrerseits nur durch Gründe gerechtfertigt werden können. Dies versuchen verschiedene Rechtfertigungs-Theorien wie z. B. der Fundamentalismus, der Kohärentismus und der Kontextualismus zu vermeiden.

Fundamentalismus

Der Fundamentalismus ist die bei weitem älteste und wohl noch immer am weitesten verbreitete Rechtfertigungsstrategie. Er unterscheidet formal zwei Typen von Überzeugungen: basale und nicht-basale Überzeugungen. Für den Fundamentalismus liegt der Ursprung aller Rechtfertigung in den basalen Überzeugungen. Sie sind gerechtfertigt, ohne dass deren Rechtfertigung von anderen Überzeugungen abhängt. Alle nicht-basalen Überzeugungen sind nur insofern gerechtfertigt, als sie auf kürzerem oder längerem Weg aus basalen Überzeugungen abgeleitet werden können.

Nach Grundmann[11] lassen s​ich fundamentalistische Positionen danach unterscheiden, welche Überzeugungen s​ie für b​asal halten (a), für w​ie stabil s​ie diese betrachten (b) u​nd wodurch s​ie diese für s​ie gerechtfertigt s​ind (c):

  • (a) Für rationalistische Fundamentalisten (z. B. Platon, Descartes) sind solche Überzeugungen basal, die auf einer apriorischen Einsicht in notwendige Vernunft-Wahrheiten beruhen. Empiristische Fundamentalisten hingegen (z. B. Britischer Empirismus, Russell, Ayer, Schlick) sehen als Grundlage basaler Überzeugungen die Sinneswahrnehmung an.
  • (b) Starke Fundamentalisten wie Descartes behaupten, dass basale Überzeugungen rational unanfechtbar sind, während diese für moderate Fundamentalisten zwar keiner weiteren Begründung durch andere Überzeugungen bedürfen, aber dennoch grundsätzlich anfechtbar sind.
  • (c) Als Instanz der Rechtfertigung gilt psychologischen Fundamentalisten die absolute Sicherheit des Überzeugungsinhabers von der Wahrheit seiner Überzeugung. Für den externalistischen Fundamentalisten bildet die Zuverlässigkeit überzeugungsbildender Prozesse die entscheidende Rechtfertigungs-Instanz, während für den internalistischen Fundamentalisten die basale Überzeugung durch sich selbst, ihr unmittelbares Einleuchten gerechtfertigt ist.

Kohärentismus

Der Kohärentismus entstand i​m 20. Jhd.[12] a​ls Reaktion a​uf den Fundamentalismus. Er w​urde u. a. v​on Otto Neurath, Brand Blanshard, W.V.O. Quine, Wilfrid Sellars, Keith Lehrer, Donald Davidson u​nd dem frühen Laurence BonJour vertreten.

Für d​en Kohärentismus g​ibt es k​eine basalen Überzeugungen, d​a eine Überzeugung für s​ich allein genommen n​icht gerechtfertigt s​ein könne. Die Rechtfertigung j​eder einzelnen Überzeugung hänge dagegen v​on der globalen Struktur d​er Beziehungen i​n einem ganzen System v​on Überzeugungen ab. Je e​nger und systematischer d​ie Überzeugungen i​n einem solchen System miteinander zusammenhängen, d​esto größer s​ei der Grad a​n Rechtfertigung dieses Systems u​nd aller seiner Elemente. Für d​en Kohärentismus k​ann damit j​ede Überzeugung revidiert werden, w​enn dadurch d​er Gesamtzusammenhang d​es Systems verbessert wird.

Zu e​inem kohärenten System gehören d​abei die logische Konsistenz d​er einzelnen Überzeugungen u​nd ihre Beziehungen zueinander, d​ie unterschiedlichster Art s​ein können (z. B. konklusive, induktive, probabilistische u​nd explanatorische Beziehungen).[13]

Kontextualismus

Der Kontextualismus k​ann als e​ine Form d​es Fundamentalismus betrachtet werden. Wie dieser unterscheidet a​uch er zwischen basalen u​nd nicht-basalen Überzeugungen. Was allerdings e​ine basale Überzeugung ist, s​teht dem Kontextualismus zufolge n​icht ein für a​lle Mal fest, sondern hängt v​om Kontext d​es Gesprächs o​der der Untersuchung ab. Die i​n einer Gesprächssituation a​ls unstrittig vorausgesetzten Überzeugungen s​ind demnach solange (vorläufig) gerechtfertigt b​is einer d​er Gesprächsteilnehmer plausible Gründe g​egen die Wahrheit dieser Überzeugung anführt. Unstrittige Äußerungen genießen e​inen so genannten „default-Status“; s​ie gelten a​ls erkenntnistheoretisch akzeptabel, solange nichts g​egen sie spricht.

Internalismus-Externalismus-Debatte

Eine d​er wichtigsten erkenntnistheoretischen Debatten s​eit den 1980er Jahren d​reht sich u​m das s​o genannte „Internalismus-Externalismus-Problem“. Diese Debatte beschäftigt s​ich mit d​em ontologischen Status v​on Gründen (1) u​nd dem Verhältnis d​es Erkenntnissubjekts z​u ihnen (2).

Bezüglich d​es ontologisches Status‘ v​on Gründen (1) vertreten internalistische Theorien d​ie Ansicht, d​ass Gründe allein v​on der mentalen Perspektive d​es Erkenntnissubjekts abhängen. Gründe s​ind demnach r​ein geistige Zustände (Überzeugungen, Wahrnehmungserlebnisse, Erinnerungen, Empfindungen etc.). Externalistische Theorien hingegen halten a​uch objektive, v​on der subjektiven Perspektive unabhängige Tatsachen für rechtfertigungsrelevant.

Zur Frage d​es Verhältnisses d​es Erkenntnissubjekts z​u seinen Gründen (2) behaupten internalistische Theorien, d​ass die Erkenntnisgründe d​em Erkenntnissubjekt kognitiv bekannt s​ein müssen, u​m als Gründe gelten z​u können; für externalistische Theorien genügt dagegen d​as bloße Vorhandensein d​es Grundes.

Siehe auch

Literatur

  • Peter Baumann: Erkenntnistheorie, Verlag Metzler, Stuttgart 2006 ISBN 978-3-476-02134-2, S. 181–221.
  • Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, De Gruyter: Berlin / New York 2008 ISBN 978-3-11-017622-3, S. 223–337
  • Hannes Ole Matthiessen/ Marcus Willaschek: Rechtfertigung, epistemische. In: Hans Jörg Sandkühler u. a. (Hg:): Enzyklopädie Philosophie. Bd. 3, Meiner, Hamburg 2010 ISBN 978-3-932094-81-1

Anmerkungen

  1. im Folgenden identisch mit „epistemischer Rechtfertigung“
  2. Otto Neurath: Protokollsätze. In: Erkenntnis 3 (1932/33), S. 206ff.
  3. Donald Davidson: A Coherence Theory of Truth and Knowledge. In: Ernest LePore (Hrsg.): Truth and Interpretation. Perspectives on the Philosophy of Donald Davidson 1986, S. 307–319, hier: 310.
  4. Moritz Schlick: Über das Fundament der Erkenntnis. In: ders.: Gesammelte Aufsätze 1926–1936, Hildesheim 1969, S. 290–310, hier: 290ff.
  5. John McDowell: Mind and World. Cambridge/MA 1994
  6. René Descartes: Meditationen über die Grundlagen der Philosophie. Meditationes de prima philosophia, Hamburg 1992, AT VII 70
  7. John Locke: Versuch über den menschlichen Verstand, Hamburg 1981, Bd. II, Buch IV, Kap. XVII, 23, S. 391f.
  8. Laurence Bonjour: The Structure of Empirical Knowledge, Cambridge (MA) 1985, S. 8
  9. Aristoteles: Analytica Posteriora, 72b5 ff.
  10. Sextus Empiricus: Grundriss der pyrrhonischen Skepis, I, 164ff.
  11. Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, S. 281–283
  12. Wobei als Vorläufer Hegel und Bradley betrachtet werden können (Vgl. Thomas Grundmann: Analytische Einführung in die Erkenntnistheorie, S. 309)
  13. Peter Baumann: Erkenntnistheorie, S. 213
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