Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge»
Die eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge», kurz auch Renteninitiative genannt, wurde am 16. Juli 2021 eingereicht. Die Initiative der Jungfreisinnigen verlangt, dass das Rentenalter von Männern und Frauen dasselbe ist, die Erhöhung des Renteneintrittsalters auf 66 bis im Jahre 2032 und die Koppelung des Renteneintrittsalters an die Lebenserwartung.[1][2]
Hintergrund
Die Initiative wurde von den Jungfreisinnigen Schweiz (JFS) unter dem Gesichtspunkt lanciert, dass der AHV bzw. dem AHV-Fonds das Geld ausgehen werde, und zwar nach geltender Ordnung im Jahre 2034[3]; denn schon seit 2014 deckten die laufenden Einnahmen die laufenden Ausgaben nicht mehr.
Als die AHV eingeführt wurde (1948), lag das Rentenalter für beide Geschlechter bei 65 Jahren; die Lebenserwartung bei Männern betrug 77 Jahre, bei Frauen 78 Jahre. Heute seien es bereits knapp 85 Jahre bei den Männern, bei den Frauen sogar 88 Jahre. In den 1950er- und 1960er-Jahren wuchs die Schweizer Bevölkerung stark an. In der Zeit zwischen 1954 und 1964 (Babyboomer-Generation) stieg die Geburtenrate von rund 84 000 auf fast 113 000 pro Jahr an; anschliessend ging sie jedoch wieder bis 1974 auf 84 000 zurück. Dass diese Generation jetzt das Rentenalter erreicht, habe zur Folge, dass die Zahl der Rentnerinnen und Renter schneller wachsen wird als die Zahl der Erwerbstätigen. Während vor 60 Jahren noch sechs Personen die Rente einer finanziert haben, seien es heute nur noch 3,4. Und 2050 werden es noch zwei sein. 2019 betrug die Umlagedifferenz (Differenz zwischen Einnahmen und Ausgaben) minus 1,2 Milliarden Franken. 2045 werde dieses Loch 16 Milliarden betragen, sagen die Initiantinnen und Initianten.[2]
Chronologie
Am 22. Oktober 2019 fand die erste Vorprüfung statt, in der die schweizerische Bundeskanzlei verfügte – gestützt auf Art. 68, Art. 69 BPR –, dass die Initiative den gesetzlichen Formen entspreche.[4] Das Sammeln durfte ab dem 5. November 2019 bis zum 16. Juli 2021 erfolgen. Am Tag, an dem die Sammelfrist endete, wurde die Initiative auch eingereicht. Da während 72 Tagen, nämlich vom 21. März 2020 bis und mit 31. Mai 2020, nicht gesammelt werden durfte, verlängerte sich die Sammelfrist um die entsprechenden 72 Tage bis zum 16. Juli 2021. Dies hatte der Bundesrat in seiner Verordnung (Art. 847) über den Fristenstillstand bei eidgenössischen Volksbegehren vom 20. März 2020 entschieden.[1] Am 25. August 2021 verkündete die Bundeskanzlei, gestützt auf Art 68, 69, Art. 71 und Art. 72 BPR, dass die Initiative zustande gekommen sei. Von den eingereichten 108'297 Unterschriften waren 107'049 gültig.[5]
In seiner Sitzung vom 24. November 2021 beschloss der Bundesrat, die Rentenitiative zur Ablehnung zu empfehlen.
Initiative
Initiativtext
Art. 112 Abs. 2 Bst. ater
2 Er [der Bund] beachtet dabei [beim Erlass der Vorschriften über die Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge] folgende Grundsätze:
- ater. Das Rentenalter ist an die durchschnittliche Lebenserwartung der schweizerischen Wohnbevölkerung im Alter von 65 Jahren gebunden; diese Lebenserwartung am 1. Januar des vierten Jahres nach Inkrafttreten dieser Bestimmung wird als Referenzwert festgesetzt; das Rentenalter entspricht der Differenz zwischen der Lebenserwartung und dem Referenzwert, multipliziert mit dem Faktor 0,8 zuzüglich 66; die Anpassung des Rentenalters erfolgt jährlich in Schritten von höchstens zwei Monaten; das Rentenalter wird den betroffenen Personen fünf Jahre vor Erreichen des Rentenalters bekannt gegeben;
Art. 197 Ziff. 122
12. Übergangsbestimmung zu Art. 112 Abs. 2 Bst. ater (Rentenalter)
1 Ab dem 1. Januar des vierten Jahres nach Annahme von Artikel 112 Absatz 2 Buchstabe ater wird das Rentenalter für Männer in Schritten von jeweils zwei Monaten pro Jahr erhöht, bis es 66 Jahre beträgt.
2 Ab dem 1. Januar des vierten Jahres nach Annahme von Artikel 112 Absatz 2 Buchstabe ater wird das Rentenalter für Frauen in Schritten von jeweils vier Monaten pro Jahr erhöht, bis es dem Rentenalter für Männer entspricht. Anschliessend wird das Rentenalter für Frauen in Schritten von jeweils zwei Monaten pro Jahr erhöht, bis es 66 Jahre beträgt.
3 Ab dem 1. Januar des vierten Jahres nach Annahme von Artikel 112 Absatz 2 Buchstabe ater wird das Rentenalter an die durchschnittliche Lebenserwartung der schweizerischen Wohnbevölkerung im Alter von 65 Jahren gebunden.
4 Sind die Ausführungsbestimmungen zu Artikel 112 Absatz 2 Buchstabe ater drei Jahre nach dessen Annahme noch nicht in Kraft getreten, erlässt der Bundesrat auf den 1. Januar des vierten auf die Annahme folgenden Jahres die erforderlichen Ausführungsbestimmungen durch Verordnung. Die Verordnung gilt bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen. Der Bundesrat kann in der Verordnung von der Gesetzgebung zur Alters- und Hinterlassenenversicherung abweichen.[6]
Die Initiative im Detail
In einem ersten Schritt will die Initiative das Rentenalter für beide Geschlechter bis 2032 angleichen. Das der Frauen um vier Monate, das der Männer um zwei, da deren Renteneintrittsalter momentan höher ist. Zudem wird das Rentenalter auf 66 Jahre bis 2032 erhöht. Dies geschieht ab dem 1. Januar des vierten Jahres nach Annahme der Initiative.[7] In einem zweiten Schritt erfolgt die Koppelung des Renteneintrittsalters mit der Lebenserwartung. Die Idee ist, das Rentenalter mit der Lebenserwartung im Alter von 65 Jahren zu verknüpfen. Steigt die Lebenserwartung, steigt auch automatisch das Rentenalter; jedoch nicht parallel, sondern mit dem Faktor 0,8. Erhöht sich die Lebenserwartung also bis 2050 beispielsweise um zwei Jahre, stiege das Rentenalter lediglich um 19 Monate an. Der Faktor 0,8 wurde deswegen ausgewählt, weil der Mensch heute 80 Prozent seines Lebens in der Kindheit und im erwerbstätigen Alter verbringe und etwa 20 Prozent in der Rente. Dieser Faktor soll somit garantieren, dass man auch in Zukunft 20 Prozent seines Lebens in der Rente verbringen kann. Damit künftige Rentner frühzeitig ihren Ruhestand planen können, wird das Rentenalter zudem fünf Jahre vor der Pensionierung bekannt gegeben. Schliesslich wurde dafür gesorgt, dass die jährlichen Erhöhungsschritte nicht zu stark ausfallen: Das Rentenalter darf pro Jahr maximal um 2 Monate steigen.
Mit dieser Lösung soll das Rentenalter ab dem Jahre 2033 pro Jahr um einen Monat steigen.[2]
Jahr | Rentenalter | Jahr | Rentenalter |
---|---|---|---|
2032 | 66 Jahre | 2055 | 67 Jahre 11 Monate |
2040 | 66 Jahre 9 Monate | 2060 | 68 Jahre 4 Monate |
2045 | 67 Jahre 2 Monate | 2065 | 68 Jahre 8 Monate |
2050 | 67 Jahre 7 Monate | 2070 | 69 Jahre |
*Laut den Initianten.
Initiativkomitee
Das Initiativkomitee besteht aus folgenden Personen:
- Leroy Bächtold
- Diane Barbier-Müller
- Laura Bircher
- Gian Brun
- Thierry Burkart
- Andrea Caroni
- Philipp Eng
- Patrick Eugster
- Nik Fiala
- Thomas Juch
- Nicola Jutzet
- Fabio Käppeli
- Fabio Kuhn
- Elektra Langerweger
- Christa Markwalder
- Alexander Martinolli
- Alessio Mina
- Matthias Müller
- Philippe Nantermod
- Melanie Racine
- Kim Rast
- Naomi Reichlin
- Noemie Roten
- Marie-Cathrine Rudaz
- Regine Sauter
- Christian Wasserfallen
- Salome Zeintl
Zudem sind alle erwähnten Urheberinnen und Urheber ermächtigt, mit einer absoluten Mehrheit diese Initiative zurückzuziehen.[7]
Argumente des Initiativkomitees
Die Initianten sehen allgemein drei Optionen, wie man die AHV wieder auf stabile finanzielle Beine bringen könnte. Die erste wäre, die Renten um 20 Prozent zu senken bis 2045. Dies halten sie für falsch, weil Rentnern eine AHV versprochen wurde, und dieses Versprechen nun im Nachhinein zu brechen, sei nicht richtig. Die zweite Option sei eine Erhöhung der Steuern (sie erwähnen nur die Mehrwertsteuer) oder Lohnabgaben (Diese setzten sich aus AHV, IV, Erwerbsersatzordnung (EO) Arbeitslosenversicherung (ALV), Unfallversicherung (UVG/NBU), Krankentaggeld-Versicherung (KTG), Krankenversicherung (KVG), Pensionskasse (2. Säule) und den Familienzulagen zusammen). Bis 2045 müsste man die Mehrwertsteuer um 4 Prozent oder die Lohnabgaben, welche sich aus AHV, Pensionskasse und Versicherungen zusammensetzen, um drei Prozentpunkte erhöhen. Dies hiesse wiederum, dass der Durchschnittschweizer jährlich 2 300 Franken weniger zur Verfügung hätte. Das Problem dabei sei auch, dass im Jahre 2045 nicht Schluss sei, sondern dass man die Steuern danach auch noch laufend erhöhen müsste, um nicht in dasselbe Problem zu geraten, das man heute hat. Zudem seien höhere Steuern wirtschafts- und wohlstandsfeindlich.
Die dritte Option, die sie auch für sich gewählt haben, ist die schrittweise Erhöhung des Renteneintrittsalters. Sie sei die beste Lösung, denn sie packe das Problem an der Wurzel. Da auch das nur kurzfristig finanzielle Luft schaffe, sei eine Ergänzung nötig in Form einer Koppelung des Rentenalters und der Lebenserwartung: Steigt die Lebenserwartung, steigt auch das Rentenalter, so wie das Italien, Portugal, England, Dänemark, Finnland und die Niederlande eingeführt haben oder das noch tun werden. Die Initiantinnen und Initianten betonen zudem die Flexibilität, die weiterhin gewährleistet ist: Beispielsweise können Arbeitende in der Baubranche schon mit 60 Jahren Rente beziehen. Auch können Männer und Frauen ohne Vereinbarung mit dem Arbeitgeber ein bis zwei Jahre frühere in Rente gehen. Das Finden von Lösungen für die jeweilige Branche sei wie schon heute Aufgabe der Sozialpartner (Arbeitgeber und Gewerkschaften) und nicht des Gesetzgebers.
Ein sehr oft genanntes Kontra-Argument sei, dass der Arbeitsmarkt keine Kapazität für ältere Menschen habe – beispielsweise bei Über-55-Jährigen – und dass dann deren Arbeitslosenquote zunähme nach Annahme der Initiative. Dies negieren die Initianten, denn die Arbeitslosigkeit sei bei Jugendlichen höher. Ausserdem betrage die Erwerbsquote in der Schweiz in dieser Altersgruppe 73 Prozent, während dessen der OECD-Durchschnitt bei 61 Prozent liege. Ein Problem stelle aber die Langzeitarbeitslosigkeit dar, von der ältere Semester häufiger betroffen sind. Dagegen helfe aber eine Flexibilisierung des Rentenalters, sodass man beispielsweise erst mit 70 oder gar erst mit 75 Jahren pensioniert wird, wenn man das möchte. Zweitens sollte man die Sparbeiträge an die Pensionskasse reduzieren; denn während Junge nichts zahlen, muss der 55–64-Jährige 18 Prozent seines Lohnes an die Pensionskasse zahlen, was ihn aber auf dem Arbeitsmarkt wegen der hohen Kosten für den Arbeitgeber unattraktiv macht. Als Drittes spiele Weiterbildung eine wichtige Rolle, der in Art. 64a der Bundesverfassung Rechnung getragen wird. Ausserdem würden in den kommenden Jahren besonders viele Arbeitskräfte (~ 500 000) aufgrund der Pensionierungswelle der Babyboomer benötigt.[2]
Zudem konstatiert ein Gutachten, das vom Initiativkomitee beauftragt wurde, dass die Angleichung des Frauenrentenalters an das der Männer sehr wohl gerecht sei – wenngleich von Gegnerinnen und Gegnern anders behauptet. Konkret betont besagtes Gutachten, dass es nicht die Aufgabe eines Sozialversicherungssystems sei, durch eine spezifische Ausgestaltung der Parameter mutmassliche Ungerechtigkeiten auszugleichen. Denn dächte man diese Überlegung zu Ende, müsste man ein breit differenziertes Rentenalter einführen – je nach spezifischen Indikatoren wie der Lebenserwartung und Höhe des Gehalts. Zum Beispiel haben unterschiedliche soziale Gruppierungen eine unterschiedliche Lebenserwartung oder unterschiedliche Einkommen. Auch unter dem Gesichtspunkt, dass es eine (hohe) Umverteilung zwischen den Geschlechtern gebe, weil Frauen 34 Prozent der AHV-Beträge einzahlen, aber 55 % der ausbezahlten Rentensumme erhielten, sei ein tieferes Rentenalter laut dem Gutachten keine Kompensation allfälliger Diskriminierung.[3]
Argumente der Gegenseite
In seiner ersten inhaltlichen Stellungnahme zur Renteninitiative am 24. November 2021 befand der Bundesrat, dass der Automatismus der Koppelung des Rentenalters an die Lebenserwartung arbeitsmärktliche Bedürfnisse nicht berücksichtige. Zudem könne man die demografische Herausforderung der AHV nicht durch eine alleinige Erhöhung des Rentenalters lösen. Besagter Automatismus entziehe die nötige Flexibilität des Bundesrates, des Parlaments und der Stimmbevölkerung. Diese sei unabdingbar, um den demografischen, ökonomischen und sozialen Gegebenheiten Rechnung tragen zu können.[8]
Siehe auch
- Liste der eidgenössischen Volksabstimmungen
- Bundesgesetz über die Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF)
- Eidgenössische Volksinitiative «AHVplus: für eine starke AHV»
- Eidgenössische Volksinitiative «Millionen-Erbschaften besteuern für unsere AHV (Erbschaftssteuerreform)»
- Eidgenössische Volksinitiative «Für ein flexibles AHV-Alter»
- Eidgenössische Volksinitiative «Nationalbankgewinne für die AHV»
- Eidgenössische Volksinitiative «für eine gesicherte AHV – Energie statt Arbeit besteuern!»
Weblinks
- Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge» (Renteninitiative). In: Gutachten_Renteninitiative.pdf (renten-sichern.ch)
Einzelnachweise
- Eidgenössische Volksinitiative 'Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)'. In: Schweizerische Bundeskanzlei. bk.admin.ch, abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Argumentatorium Renteninitiative. In: Argumente. renten-sichern.ch, abgerufen am 25. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Prof. Dr. Christoph A. Schaltegger, Patrick Leisibach, MSc: Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge» (Renteninitiative). Eine ökonomische Beurteilung der wichtigsten Argumente. In: renten-sichern.ch. Mai 2020, abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)». Vorprüfung. In: Fedlex. fedlex.admin.ch, 22. Oktober 2019, abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sichere und nachhaltige Altersvorsorge (Renteninitiative)». Zustandekommen. In: Fedlex. fedlex.admin.ch, 25. August 2021, abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Verein Renteninitiative, 3001 Bern: Darum geht's. Abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Eidgenössische Volksinitiative «Für eine sicher und nachhaltige Altersvorsoge (Renteninitiative)». In: Verein Renteninitiative. renten-sicher.ch, abgerufen am 26. September 2021 (Schweizer Hochdeutsch).
- Der Bundesrat: Der Bundesrat spricht sich gegen die Renteninitiative aus. Eidgenössisches Departement des Inneren, 24. November 2021, abgerufen am 24. November 2021.