Effektiver Altruismus
Der Effektive Altruismus (abgekürzt EA) ist eine Philosophie und soziale Bewegung, die darauf abzielt, die beschränkten Ressourcen Zeit und Geld optimal einzusetzen, um das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen möglichst umfassend zu verbessern. Als Mittel hierzu dienen empirische Erkenntnisse und rationale Argumente.[1] Die Bewegung entstand in den frühen 2010er Jahren.[2]
Effektive Altruisten streben danach, alle bekannten Ursachen und Maßnahmen zu berücksichtigen, um so zu handeln, dass ihr Handeln die größten positiven Auswirkungen hat.[3][4] Dieser auf Evidenz basierende Ansatz unterscheidet den Effektiven Altruismus vom traditionellen Altruismus oder der klassischen Wohltätigkeit. Zu Befürwortern des Effektiven Altruismus zählen Facebook-Mitgründer Dustin Moskovitz[5], die Philosophen William MacAskill, Toby Ord, Peter Singer[6][7] und Thomas Pogge sowie die Pokerspielerin Liv Boeree[8].
Grundsätze
Kosten-Nutzen-Rechnung
Viele Effektive Altruisten kommen aus der Philosophie, den Wirtschaftswissenschaften, der Mathematik oder aus Bereichen, die rationales und quantitatives Denken bevorzugen.[9] Wenn der Begriff der Kosten-Nutzen-Rechnung auf wohltätige Zwecke angewendet wird, bezieht sich die Kostenwirksamkeit (Kosten-Wirksamkeits-Analyse) auf die Menge an Gutem, die pro Euro erreicht wird. Zum Beispiel kann die Wirtschaftlichkeit von Interventionen im Gesundheitsbereich in qualitätskorrigierten Lebensjahren (d. h. zusätzlichen Lebensjahren bei voller Gesundheit) gemessen werden.
Effektives Spenden ist ein wichtiger Bestandteil des Effektiven Altruismus, weil einige Wohltätigkeitsorganisationen weitaus effektiver sind als andere.[10] Hinzu kommt, dass einige Hilfsorganisationen ihre Ziele schlicht verfehlen.[11] Unter den Organisationen, die ihre Ziele erreichen, erzielen einige weit bessere Ergebnisse mit weniger Geld als andere.[12][13] Forscher der Organisation GiveWell haben errechnet, dass einige wohltätige Organisationen hunderte oder sogar tausende Male effektiver sind als andere.[12]
Effektive Altruisten betrachten auch die Kapazität von Hilfsorganisationen, zusätzliche finanzielle Mittel effektiv einzusetzen (room for more funding). Diesem Gedanken folgend sollten Hilfsorganisationen nicht primär danach ausgewählt werden, was sie schon erreicht haben, sondern was sie zukünftig mit einer Spende erreichen können.[14]
Priorisierung von Problemen
Effektive Altruisten halten die Priorisierung von Problemen (z. B. Armut, Krankheiten, Ungleichheit, mangelnde Bildung) für entscheidend, um anschließend bei der Lösung der wichtigsten Probleme die größtmögliche Verbesserung zu bewirken.[15]
Die Effizienz- und Evidenzüberprüfung von Hilfsmaßnahmen steht dabei im Mittelpunkt. Zwar ist dies im Bereich der Non-Profit-Organisationen zum Teil bereits Praxis, allerdings findet eine solche Überprüfung in der Regel nur innerhalb bestimmter Themenfelder statt, zum Beispiel im Bereich Bildung oder Klimawandel. Die kritische Analyse und der Vergleich unterschiedlicher Themenfelder soll die Verschwendung knapper Hilfsressourcen vermeiden. Effektive Altruisten stellen daher nicht ein bestimmtes Problem (z. B. Tierwohl oder Menschenrechte) an den Anfang ihrer Hilfsüberlegungen. Stattdessen wählen sie zunächst das Problem selbst nach Effizienzgesichtspunkten aus.[16][17] Die gängigsten Kriterien dafür sind die Größe, die Lösbarkeit und der Grad der Vernachlässigung eines Problems.[18][19]
Mehrere Organisationen aus der Bewegung des Effektiven Altruismus forschen an der Priorisierung von Problemen.[20][21] Viele Effektive Altruisten denken, dass zu den wichtigsten Problemen die Armut in Entwicklungsländern, das Leid von Tieren in der Massentierhaltung und existentielle Risiken für die langfristige Zukunft der Menschheit zählen.[15]
Unparteilichkeit
Effektive Altruisten weisen die Ansicht zurück, dass das Leben einiger wertvoller sei als das anderer. Zum Beispiel glauben sie, dass eine Person in einem sogenannten Entwicklungsland den gleichen Wert hat wie eine Person aus einer Industrienation. Peter Singer schreibt beispielsweise:
Es macht keinen Unterschied, ob die Person, der ich helfen kann, das Kind eines Nachbarn zehn Meter von mir entfernt ist oder ein Bengali, dessen Namen ich nie erfahren werde, der 10.000 Meilen entfernt wohnt. […] Die moralische Sicht verlangt von uns, über die Interessen unserer eigenen Gesellschaft hinaus zu schauen. Bisher […], kann dies wohl kaum möglich gewesen sein, aber es ist jetzt durchaus möglich. Vom moralischen Standpunkt aus, muss die Verhinderung des Hungertods von Millionen von Menschen außerhalb unserer Gesellschaft mindestens ebenso bedrängend wie die Aufrechterhaltung des Eigentums und der Normen in unserer Gesellschaft betrachtet werden.[22]
Darüber hinaus sind viele Effektive Altruisten der Meinung, dass zukünftige Generationen den gleichen moralischen Wert haben wie Menschen, die jetzt leben. Deshalb konzentrieren sie sich auf die Verringerung der existentiellen Risiken für die Menschheit. Andere glauben, dass den Interessen von Tieren das gleiche moralische Gewicht wie vergleichbaren Interessen der Menschen zukommt, und konzentrieren sich daher darauf, das Leiden von Tieren, z. B. in der Massentierhaltung, zu verhindern.[23]
Thomas Pogge argumentiert gegen diese Ansicht und sagte: „Was moralisch zählt, ist nicht nur, wie wir Menschen beeinflussen, sondern wie wir handeln durch die Regeln, die wir aufstellen.“[24] Thomas Nagel argumentiert ähnlich, und bezieht sich auf Derek Parfits Terminologie von „Agent-neutralen“ und „Agent-relativen“ Gründen.[25]
Kontrafaktische Argumentation
Effektive Altruisten verwenden kontrafaktische Argumente, um herauszufinden, welche Handlungen die positiven Auswirkungen maximieren. Viele Menschen gehen davon aus, dass der beste Weg, um Menschen zu helfen, direkte Methoden wie Arbeit für eine Wohltätigkeitsorganisation oder soziale Dienstleistungen sind.[26][27] Weil Wohlfahrtsverbände und Sozialdienstleister meist viele Mitglieder oder Unterstützer haben, die bereit sind, für sie zu arbeiten, vergleichen Effektive Altruisten die Menge an Gutem, das jemand in einer konventionellen altruistischen Karriere (z. B. als Arzt) tun könnte, mit der Situation, in der der gleiche Job mit dem nächstbesten Kandidaten besetzt würde. Diese Argumentation baut auf der beruflichen Ersetzbarkeit auf und deutet darauf hin, dass die Auswirkungen bei der Wahl einer konventionellen altruistischen Karriere kleiner sind, als sie zunächst scheinen.[28] Zum Beispiel wird die Karriere in der Medizin oft intuitiv ethisch hoch bewertet, weil damit direkt viele Menschenleben gerettet werden. Die Entscheidung, Arzt zu werden, rettet in der Praxis jedoch nur so viele Leben, wie der Differenzbetrag zwischen der eigenen Leistung und der des nächstbesten Kandidaten ist.
Für Effektive Altruisten mit persönlicher Passung (personal fit) wird die Strategie des professionellen Spendens (earning to give) vorgeschlagen. Sie besteht darin, eine hoch bezahlte Karriere mit dem Ziel anzustreben, möglichst viel des verdienten Geldes für wohltätige Zwecke zu spenden. Einige Effektive Altruisten argumentieren auf Grundlage der Ersetzbarkeit, dass die marginalen Auswirkungen von potentiell unethischem Verhalten in solch einer lukrativen Karriere (z. B. unethisches Verhalten als Investmentbanker) gering sind. Wenn die Karriere nicht eingeschlagen würde, dann würde jemand anderes die Arbeit annehmen und den gleichen Schaden verursachen. Die positiven Auswirkungen der Spenden sind hingegen kontrafaktisch groß, da die andere Person wahrscheinlich keine großen Beträge effektiv gespendet hätte.[29][30]
Einige bestreiten jedoch dieses Prinzip. So führt Bernard Williams ein ähnliches Beispiel über einen Job in einer Chemiewaffenfabrik an, um gegen den Utilitarismus zu argumentieren.[31] Laut Williams erfordert Utilitarismus, dass Menschen in einer Weise handeln, die ihre eigene Integrität verletzt.[32]
Die Ansichten über übergebührliche (supererogatorische) Handlungen
Mehrere einflussreiche Philosophen des Effektiven Altruismus, darunter Peter Singer und Peter Unger, lehnen die Ansicht ab, dass die Spende für wohltätige Zwecke übergebührlich ist. Eine übergebührliche Handlung ist eine solche, die gut, aber nicht moralisch geboten ist. Effektive Altruisten bestreiten zwar nicht grundsätzlich die Existenz von übergebührlichen Wohltaten. Spenden an Wohltätigkeitsorganisationen, die sehr effektiv den ärmsten Menschen in der Welt helfen, halten sie jedoch für moralisch geboten. Singer und Unger verwenden beide verschiedene Gedankenexperimente, um diesen Punkt zu veranschaulichen. Die Grundstruktur des Gedankenexperimentes ist, dass eine Person in tödlicher Gefahr angetroffen wird, der mit wenig Aufwand geholfen werden könnte. Ohne Hilfe würde die Person sterben. Die meisten Leute sagen, es wäre moralisch falsch, nicht zu helfen. Singer und Unger schließen daraus, dass es moralisch falsch ist, nicht an Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden, die ein Menschenleben mit wenig Ressourcen retten können. Dieses Argument setzt voraus, dass die räumliche Distanz zu einer Person sich nicht darauf auswirkt, ob ihr geholfen werden muss. Dies ist ein Schlüsselprinzip des Effektiven Altruismus.
Organisationen und priorisierte Probleme
Der Effektive Altruismus ist prinzipiell daran interessiert an den Problemen zu arbeiten, bei denen am meisten Gutes bewirkt werden kann.[33][34] Dafür werden verschiedene Probleme miteinander verglichen und dasjenige ausgewählt, welches den vielversprechendsten Erwartungswert bezüglich einer Maximierung des Guten (Leidminimierung) hat.[35] In der Praxis haben sich Mitglieder der Bewegung vorwiegend auf die folgenden Problembereiche fokussiert:[36][37][38]
Globale Armut
Die Bekämpfung der globalen Armut war der Fokus einiger der frühesten und prominentesten Organisationen des Effektiven Altruismus.
Der Hilfswerk-Evaluator GiveWell untersucht die Kosteneffektivität von Hilfsorganisationen und schätzt, dass einige Hilfsorganisationen deutlich effektiver als andere arbeiten.[39][40][41] GiveWell argumentiert, dass der Wert von Spenden im Bereich der Armutsbekämpfung und Gesundheitsfürsorge in Entwicklungsländern am Höchsten ist.[42][12] Daher werden vorwiegend Organisationen aus diesen Bereichen empfohlen.
Die Organisation Giving What We Can wirbt auf Grundlage der Empfehlungen GiveWells für die kosteneffektivsten Hilfswerke zur Armutsbekämpfung.[43][44] Die von dem Philosophen Peter Singer gegründete Organisation The Life You Can Save verfolgt ähnliche Ziele und ist nach seinem gleichnamigen Buch benannt.[45]
Im deutschsprachigen Raum gibt es keine Organisation die eigene Forschung nach den Prinzipien des Effektiven Altruismus in diesem Bereich betreibt. Allerdings übersetzt die Organisation effektiv-spenden.org Teile der Empfehlungen von Givewell ins deutsche und bietet Spendenberatung nach den Kriterien des Effektiven Altruismus an.[46][47][48]
Während ein Teil von Effektiven Altruisten direkten Strategien wie Gesundheitsinterventionen oder Geldtransfers fokussiert, beschäftigt sich ein anderer Teil mit systemischeren sozialen, ökonomischen und politischen Reformen, die längerfristig zur Armutsreduktion beitragen sollen.[49] GiveWell kooperiert seit 2012 mit dem Facebook Mitgründer Dustin Moskovitz im Rahmen des sogenannten Open Philanthropy Projects, um auch spekulativere Maßnahmen wie Gesetzesreformen zu erforschen und fördern.[50][51]
Tierwohl
Viele Effektive Altruisten sehen die Reduzierung von Tierleid als eine wichtige moralische Priorität und sehen kosteneffektive Wege dazu beizutragen.[52] Peter Singer zitiert in einem Artikel im Guardian Schätzungen der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) und der Britischen Organisation Fishcount, nach denen jedes Jahr 60 Milliarden Landtiere und zwischen 1 und 2,7 Billionen individuelle Fische für den menschlichen Konsum getötet werden.[53] Singer argumentiert, dass Effektive Altruisten, die sich für das Wohl von Tieren einsetzen wollen, die Massentierhaltung gegenüber populäreren, weniger vernachlässigten Problembereichen, wie dem Wohl von Haustieren, priorisieren sollten. Geht man beispielsweise von einem gewissen Grad an Bewusstsein und damit assoziierten Schmerzempfinden bei Hühnern aus, scheint es geboten, Anstrengungen zur Abschaffung der industrialisierten Massentierhaltung stärker in den Vordergrund rücken. Sie bergen das Potential kosteneffektiver als Maßnahmen, die menschliches Leid (globale Armutsreduktion) zu verringern suchen, zu sein.[54] Aus ethischer Perspektive könnte das Leid wilder Tiere für Effektive Altruisten ebenfalls relevant sein.[55][56]
Die aus der Bewegung hervorgegangene Organisation Animal Charity Evaluators (ACE) evaluiert und vergleicht Wohltätigkeitsorganisation, die sich für Tiere einsetzen, auf Basis ihrer Kosteneffektivität und Transparenz. ACE legt dabei einen Fokus auf Organisationen, die an der Abschaffung der Massentierhaltung arbeiten.[57][58]
Ferne Zukunft und globale Katastrophenrisiken
Einige Effektive Altruisten vertreten die Position, dass die ferne Zukunft ethisch enorm wichtig sei, da die Anzahl zukünftiger Menschen und anderer Tiere diejenige aktuell lebender Wesen weit übersteige.[59][60] Aus diesem Grund wird die Bedeutung der Verringerung existentieller Risiken, etwa Gefahren durch Biotechnologie oder künstliche Superintelligenz, hervorgehoben und aktiv erforscht.[52]
Einige Organisationen, die mit der Bewegung des Effektiven Altruismus assoziiert sind, forschen aktiv an einer Minimierung dieser Risiken und Gefahren. Dazu gehören unter anderem das Future of Humanity Institute in Oxford, das Centre for the Study of Existential Risk in Cambridge, England und das Future of Life Institute in Cambridge, Massachusetts.[61] Hinzu kommen das Center on Long-Term Risk, welches Forschung dazu betreibt, wie möglichst viel zukünftiges Leid verringert werden kann[62] und das Machine Intelligence Research Institute, welches dazu forscht, wie die Sicherheit bei der Entwicklung fortgeschrittener künstlicher Intelligenz zu gewährleisten ist.[63][64]
Meta-Aktivismus
Teile der Bewegung betrachten indirekten Meta-Aktivismus als effektiveren Ansatz verglichen mit der direkten Lösung von Problemen. Darunter fallen das Fundraising für effektive Organisationen, der Aufbau der Bewegung des Effektiven Altruismus und die Erforschung effektiver Strategien zur Verbreitung sozialer Normen.[65] Viele Effektive Altruisten argumentieren, dass Meta-Aktivismus als Multiplikator für soziale Wirkung genutzt werden kann, etwa wenn eine Fundraising-Organisation für jeden ausgegebenen Euro mehr als einen Euro für andere effektive Hilfsorganisationen sammelt.[66][67]
Mehrere Organisationen haben sich explizit dem Meta-Aktivismus verschrieben, wobei die diese Einteilung nicht immer eindeutig ist. Im englischsprachigen Raum zählt dazu das Centre for Effective Altruism (CEA) als Dachorganisation und Projektinkubator mit Sitz in Oxford.[68] Mit dem CEA sind die von William MacAskill gegründeten Organisationen Giving What We Can und 80,000 Hours assoziiert.[69] Giving What We Can will Menschen ermutigen, mindestens zehn Prozent ihres Einkommens für effektive wohltätige Zwecke zu spenden.[70] Die dadurch entstandene internationale Gemeinschaft besteht 2019 aus rund 4300 Menschen.[71][72] Die Organisation 80.000 Hours untersucht Möglichkeiten der ethischen Karrierewahl. Sie berücksichtigt auch indirekte Arten einer ethischen Karriere, wie ein hohes Gehalt in einer konventionellen Karriere zu verdienen und einen Teil davon zu spenden, aber auch direktere Pfade, wie wissenschaftliche Forschung.[73][74]
Im deutschsprachigen Raum arbeitete die Stiftung für Effektiven Altruismus (EAS) in Berlin an der Verbreitung des Effektiven Altruismus. Die Stiftung unterstützte den Aufbau von Lokalgruppen der Bewegung[75], veröffentlichte politische Positionspapiere[76][77] und betrieb eigenständige Forschung. Sie ist 2015 aus der Schweizer Regionalgruppe der Giordano-Bruno-Stiftung hervorgegangen.[78] Das von Liv Boeree, Igor Kurganow und Philipp Gruissem gegründete Projekt Raising for Effective Giving (REG) sammelt Spenden für effektive Hilfsorganisationen. REG war bislang vor allem im Bereich des Profi-Poker aktiv und konnte unter anderem Pokerweltmeister Martin Jacobson als Mitglied gewinnen.[79] Bis 2017 unterhielt die EAS das Projekt Sentience Politics, welches vorwiegend in der Schweiz auf das Thema Speziesismus aufmerksam macht und politische Initiativen startet, etwa zur Abschaffung der Massentierhaltung (Massentierhaltungsinitiative).[80][81] Seit Ende 2019 koordiniert das Netzwerk für Effektiven Altruismus Deutschland die Lokalgruppen.
Bekannte Befürworter (alphabetisch)
Shelly Kagan (* 1956)
Shelly Kagan eröffnet The Limits of Morality mit der Behauptung „Moral erfordert, dass Sie – von den nicht anderweitig verbotenen Handlungen – die Handlung auswählen, von der nach vernünftigem Ermessen erwartet werden kann, die besten Auswirkungen insgesamt zu haben.“[82] Er verteidigt diesen Anspruch mit einer detaillierten Analyse sowohl der verschiedenen möglichen Ansichten über moralische Optionen und moralische Zwänge als auch wie diese verteidigt werden könnten. Er bemerkt, dass es eine Verbindung zwischen dem Glauben an die Existenz von moralischen Wahlmöglichkeiten und dem Glauben an die Existenz von moralischen Zwängen gibt; eine Person, die glaubt, dass es Möglichkeiten gibt suboptimal zu handeln, wird mit ziemlicher Sicherheit auch einige Einschränkungen für ihr potentielles Verhalten befürworten.
William MacAskill (* 1987)
William MacAskill ist ein britischer Philosoph an der Universität Oxford, der die Bewegung des effektiven Altruismus mitbegründet hat. MacAskill veröffentlichte 2015 eine Einführung in den effektiven Altruismus mit seinem Buch Gutes besser tun: Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können.[83][84] Darüber hinaus hielt MacAskill 2018 einen TED Talk, in dem er die Grundlagen des effektiven Altruismus erklärt und für die Wichtigkeit der Reduzierung existentieller Risiken argumentiert.[85]
Toby Ord (* 1979)
Toby Ord ist ein Ethiker an der Universität Oxford. Er plädiert für konsequentialistische Ethik und beschäftigt sich mit der weltweiten Armut und Katastrophenrisiken.[86] Gemeinsam mit William MacAskill gründete er 2009 die Organisation Giving What We Can. Ord lebt von 18.000 £ (27.000 $) pro Jahr und spendet den Rest seines Einkommens für wohltätige Zwecke.[87] Im März 2020 wurde sein Buch The Precipice: Existential Risk and the Future of Humanity veröffentlicht.[88][89]
Thomas Pogge (* 1953)
Als Schüler von John Rawls nähert sich Thomas Pogge dem Effektiven Altruismus aus weniger konsequentialistischer Sicht. Pogge ist Mitglied von Giving What We Can sowie dem Health Impact Fund, der versucht moderne Medikamente zu niedrigen Kosten für arme Menschen verfügbar zu machen,[90][91] und der Organisation Academics Stand Against Poverty, die Wissenschaftlern hilft, einen größeren positiven Einfluss auf die Armut in der Welt zu haben.
Pogges Buch Weltarmut und Menschenrechte argumentiert, dass die Menschen in wohlhabenden Demokratien Menschen in Entwicklungsländern aktiv Leid zufügen: „Die meisten von uns haben nicht nur die Menschen verhungern lassen, sondern beteiligen sich daran sie auszuhungern.“[92] Er geht damit über den Ansatz von Singer und Unger hinaus, die behaupten, dass Menschen in Not aufgrund positiver Verpflichtungen geholfen werden müsse. Im Gegensatz dazu argumentiert Pogge, dass die Verantwortung, den Armen der Welt zu helfen aus der Tatsache resultiert, dass die Menschen in reichen Ländern aktiv den Menschen in anderen Ländern schaden, etwa durch Kreditvergabe an korrupte Regierungen.[93]
Peter Singer (* 1946)
Der Philosoph Peter Singer hat mehrere Werke über Effektiven Altruismus verfasst, darunter The Life You Can Save. Hierin argumentiert er, dass Menschen evaluieren sollten, wie sie ihre Spenden am effektivsten einsetzen können.[94] In seinem Artikel Hunger, Wohlstand und Moral behauptet er, dass die Menschen die Pflicht haben, Menschen in Not zu helfen:
Wenn es in unserer Macht steht, etwas Schlimmes zu verhindern, ohne dabei etwas von vergleichbarer moralischer Bedeutung zu opfern, dann sollten wir moralisch verpflichtet sein, es zu tun.[95]
Er gründete die gemeinnützige Organisation The Life You Can Save, die dafür eintritt an besonders effektive Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden.[45] Singer selbst spendet mindestens 25 % seines Einkommens für wohltätige Zwecke und ist Mitglied von Giving What We Can.[96][97]
Peter K. Unger (* 1942)
In seinem Buch Leben und sterben lassen präsentiert Peter K. Unger mehrere Argumente, dass die Menschen in der entwickelten Welt eine starke moralische Verpflichtung anderen gegenüber haben.[98] Ein Beispiel Gedankenexperiment ist „Der vintage Sedan“:
Du bist nicht wirklich reich, dein einziger Luxus im Leben ist ein Mercedes-Oldtimer, den du mit viel Zeit, Aufmerksamkeit und Geld zu einem neuwertigen Zustand restauriert hast … Eines Tages stoppst du an der Kreuzung zweier kleiner Landstraßen, die beide kaum befahren sind. Du hörst eine Stimme um Hilfe schreien, du steigst aus und siehst einen Mann, der verletzt und von seinem Blut überströmt ist. Der Mann versichert dir, dass seine Wunde sich auf eins seiner Beine beschränkt, der Mann, informiert dich auch, dass er zwei Jahre lang Medizin studiert hat. Und obwohl er wegen Schummelns im zweiten Jahr exmatrikuliert wurde, was seinen mittellosen Stand seitdem erklärt, hat er sachkundig mit seinem Hemd das Bein in Nähe der Wunde abgebunden, um den Blutverlust zu stoppen. Also besteht keine dringende Lebensgefahr, wie du informiert wirst, aber es besteht eine große Gefahr, dass der Mann sein Bein verliert. Dies kann verhindert werden, wenn du ihn zu einem ländlichen Krankenhaus fährst, das 50 Meilen entfernt liegt. „Wie ist das mit der Wunde passiert?“ fragst du. Er – ein begeisterter Vogelbeobachter – gibt zu, dass er unbefugt ein nahes Feld betreten und beim unachtsamen Verlassen sich am rostigen Stacheldraht geschnitten hat. Wenn du diesem Eindringling helfen möchtest, musst du ihn über deinen schönen Rücksitz legen. Aber dann wird deine feine Polsterung mit Blut getränkt werden, und die Restauration des Autos wird über fünftausend Dollar kosten. Also fährst du weg. Am nächsten Tag wird der Mann von einem anderen Fahrer abgeholt, er überlebt, verliert aber das verletzte Bein.
Unger weist darauf hin, dass die meisten Menschen sagen, dass dieses Verhalten moralisch verwerflich ist, und Sie bereit sein sollten, die Kosten der Restaurierung Ihres Auto zu akzeptieren, wenn sie das Leben des Mannes rettet. Er kontrastiert diese Reaktion mit unseren Reaktionen auf The Envelope:
In Ihrem Postfach ist etwas von (...) UNICEF. Nachdem Sie es durchgelesen haben, glauben Sie korrekterweise, dass, wenn Sie nicht bald einen Scheck über 100 $ an UNICEF senden, mehr als dreißig Kinder bald sterben werden, anstatt noch viele Jahre zu leben.
Unger argumentiert, dass die verschiedenen Reaktionen zu den Gedankenexperimenten moralisch inkonsistent sind. Die Pflicht an UNICEF zu spenden sei daher genauso groß, wie die, den hypothetischen Eindringling in dem ersten Gedankenexperiment zu retten. Unger sagt, ein relativ wohlhabender Mensch „wie du und ich, muss in starkem Maße effektive Gruppen wie Oxfam und Unicef unterstützen, mit dem meisten Geld und Eigentum, das man jetzt besitzt, und mit dem meisten von dem, was noch in der absehbaren Zukunft dazu kommt.“[98][99]
Lebensstil
Die Prinzipien des Effektiven Altruismus können erhebliche Änderungen des Lebensstils bedeuten.[98] Viele Effektive Altruisten versuchen, gemessen an den Standards der wohlhabenden Nationen, sparsam zu leben, sodass sie mehr spenden können. Einige Effektive Altruisten wurden in der Washington Post vorgestellt. Sie lebten 2012 von etwa 10.000 US-Dollar und verbrauchten in einem durchschnittlichen Monat weniger als 200 US-Dollar für Lebensmittel.[100] Andere Effektive Altruisten leben weniger sparsam und spenden weniger, mit dem Ziel, ihr Engagement möglichst langfristig aufrechterhalten zu können. Sie bezwecken damit auch, den Effektiven Altruismus für andere attraktiver zu machen, und sie zu einer sparsameren und wohltätigeren Lebensweise zu motivieren, um so in Summe mehr Gutes zu bewirken.[101]
Einige effektive Altruisten versuchen gezielt, in ethisch unbedenklichen Bereichen Karriere zu machen und möglichst viel zu verdienen, um mehr Geld spenden zu können.[102] So ist Jason Trigg, einer der Effektiven Altruisten, die in der Washington Post vorgestellt wurden, professioneller Spender – er verfolgt den earning to give-Ansatz – und arbeitet als quantitativer Analyst für ein Finanzunternehmen und spendet die Hälfte seines Gehalts.[100] Ein anderer Effektiver Altruist ist laut Spiegel Online in die Schweiz gezogen, um dort als Softwareentwickler mehr zu verdienen und insgesamt 60 Prozent seines Gehalts zu spenden.[103]
Rezeption
Besonders kontrovers diskutiert wird die earning to give Idee, eine „Hochertrags-Karriere“ in einer potenziell unethischen Industrie zu verfolgen, um mehr Geld zu spenden. David Brooks, Kolumnist der New York Times, kritisierte diese Idee. Er glaubt, dass die meisten Menschen in der Finanzbranche und anderen hochbezahlten Branchen Geld aus egoistischen Gründen verdienen. Arbeitet man als Effektiver Altruist mit diesen Menschen zusammen, besteht die Möglichkeit, selbst weniger altruistisch zu werden.[104] Einige Effektive Altruisten sehen diese Gefahr ebenfalls und versuchen, sie durch Online-Communities, öffentliche Bürgschaften und Spenden an Donor-advised Funds zu reduzieren.[105] Brooks fragt auch, ob Kindern in fernen Ländern wirklich der gleiche moralische Wert zugeschrieben werden sollte wie Kindern in der unmittelbaren Umgebung. Er behauptet, dass die Moral „intern adeln“ sollte, eine der Tugendethik ähnliche Position.[104]
In einer Reaktion auf die Kritik an diesem Aspekt des Effektiven Altruismus stellte der National Review infrage, ob die Industrien, von denen allgemein angenommen wird, dass sie unethisch sind (wie zum Beispiel die Finanzindustrie), wirklich unethisch sind. Der Autor behauptet, dass diese Branchen oft mehr Nutzen als Schaden produzieren.[106]
Paul Brest von der William und Flora Hewlett Foundation, ein Geldgeber Givewells, schrieb einen Artikel für das Stanford Social Innovation Review und sagte im Schreiben abschließend: „Alles in allem ist mein ungebetener Ratschlag an Befürworter des Effektiven Altruismus, auf demselben Kurs zu bleiben.“[107] Im Gegensatz dazu schrieben Ken Berger und Robert Penna von Charity Navigator eine lange Kritik an der Philosophie des Effektiven Altruismus in der Stanford Social Innovation Review. Ihre Kritik wurde auf der Website im November 2013 veröffentlicht.[108] Die Kritik provozierte starke Reaktionen von Effektiven Altruisten, sowohl in den Kommentaren auf der SSIR-Website als auch an anderen Stellen, einschließlich einer Antwort von William MacAskill, die auch in der SSIR veröffentlicht wurde.[109][110][111][112]
Nach seinem Besuch der Konferenz Effective Altruism Global 2015 zog Dylan Matthews, Journalist für die Website Vox, ein gemischtes Fazit. Auf der einen Seite identifiziere er sich selbst als Effektiver Altruist und auf der Konferenz seien viele innovative Projekte vorgestellt worden, die Menschen helfen würden. Auf der anderen Seite sehe er die Gefahr eines zu starken Fokus auf existentielle Risiken durch künstliche Intelligenz. Dieser Fokus sei teilweise durch die Zusammensetzung der Bewegung zu erklären, jedoch philosophisch nur schwer zu rechtfertigen.[113]
Begriffe
- „Effective giving“ (effektives Spenden)
- „High impact philanthropy“ (Philanthropie mit hohen Auswirkungen)
- „Earning to give“ (professionelles Spenden)
- „Room for more funding“ (Kapazität von Hilfsorganisationen zusätzliche finanzielle Mittel effektiv einzusetzen)
Siehe auch
Literatur
Philosophische Wurzeln:
- Shelly Kagan: The Limits of Morality. Clarendon Press, Oxford 1991, ISBN 0-19-823916-5.
- Peter Unger: Living High and Letting Die. Our Illusion of Innocence. Oxford University Press, New York NY u. a. 1996, ISBN 0-19-510859-0.
Einführungen:
- William MacAskill: Gutes besser tun. Wie wir mit effektivem Altruismus die Welt verändern können. Ullstein, Berlin 2016, ISBN 978-3-550-08140-8.
- Peter Singer: Effektiver Altruismus. Eine Anleitung zum ethischen Leben. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016, ISBN 978-3-518-58688-4.
- Peter Singer: The Life You Can Save: How To Do Your Part To End World Poverty. 10th Anniversary Edition. o. O. 2019. ISBN 978-1733672702.
Weiterführende Texte:
- Hilary Greaves, Theron Pummer (Hrsg.): Effective Altruism: Philosophical Issues. Oxford University Press, Oxford 2019, ISBN 978-0198841364. (englisch)
- Toby Ord: The Precipice: Existential Risk and the Future of Humanity. Hachette Books, 2020, ISBN 978-0316484916 (englisch)
- Benjamin Todd: 80,000 Hours: Find a fulfilling career that does good. CreateSpace Independent Publishing Platform, Oxford 2016, ISBN 978-1-5373-2400-5 (englisch)
Einzelnachweise
- Effektiver Altruismus. (Artikel) Wie kann das Leben möglichst vieler empfindungsfähiger Wesen verbessert werden? Giordano-Bruno-Stiftung, 14. August 2014, abgerufen am 15. August 2014.
- William MacAskill: The history of the term 'effective altruism. Abgerufen am 14. April 2017.
- effective-altruism.com
- thelifeyoucansave.org
- Cari Tuna and Dustin Moskovitz: Young Silicon Valley billionaires pioneer new approach to philanthropy. Washington Post, 26. Dezember 2014, abgerufen am 31. Mai 2017 (englisch).
- Elisabeth von Thadden: Altruismus: Besser so? In: Die Zeit. 13. April 2016, ISSN 0044-2070 (zeit.de [abgerufen am 13. Februar 2017]).
- blog.ted.com
- News: Liv Boeree on Effective Altruism. Abgerufen am 31. Mai 2017.
- Peter Singer: The Why and How of Effective Altruism. In: TED. TED Conferences, LLC, abgerufen am 17. Juli 2013.
- Your dollar goes further when you fund the right program. GiveWell, abgerufen am 27. Juli 2014 (englisch).
- Giving 101: The basics. GiveWell, abgerufen am 28. Februar 2013.
- Your dollar goes further overseas. GiveWell, abgerufen am 28. Februar 2013.
- Holden Karnofsky: Hunger here vs. hunger there. GiveWell, abgerufen am 28. Februar 2013.
- GiveWell: Room for More Funding. Abgerufen am 1. Juni 2017 (englisch).
- William MacAskill: What Is Effective Altruism? (Memento vom 20. Juni 2013 im Webarchiv archive.today)
- Holden Karnofsky: Strategic Cause Selection. In: The GiveWell Blog. GiveWell, abgerufen am 22. Juni 2013.
- A list of the most urgent global issues. In: 80,000 Hours. (80000hours.org [abgerufen am 1. Juni 2017]).
- Globale Probleme: Wo kann ich am meisten bewirken? In: Stiftung für Effektiven Altruismus. 12. November 2015 (ea-stiftung.org [abgerufen am 1. Juni 2017]).
- Robert Wiblin: The Important/Neglected/Tractable framework needs to be applied with care. Effective Altruism Forum, abgerufen am 1. Juni 2017.
- Cause selection. 80,000 Hours, abgerufen am 1. Juni 2017 (englisch).
- Open Philathropy Project. Abgerufen am 1. Juni 2017 (englisch).
- Singer 1972, S. 231–232, 237.
- Animal Charity Evaluators. Abgerufen am 27. Juli 2014.
- Thomas W. Pogge: Responsibilities for Poverty-Related Ill Health. In: Ethics & International Affairs. Band 16, Nr. 2, 2002, S. 71–79, doi:10.1111/j.1747-7093.2002.tb00398.x.
- Thomas Nagel: The Limits of Objectivity (= The Tanner Lectures on Human Values). 1979 (online (Memento vom 2. Februar 2013 im Internet Archive) [PDF]). The Limits of Objectivity (Memento des Originals vom 2. Februar 2013 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Donna Rosato, Grace Wong: Best jobs for saving the world. In: CNN. November 2011, archiviert vom Original am 13. Oktober 2011; abgerufen am 28. Februar 2013.
- Aimee Hosler: 10 „helping“ professions and how to train for them. Schools.com, 14. Juni 2011, abgerufen am 28. Februar 2013.
- Benjamin J. Todd: Just What Is 'Making a Difference'? - Counterfactuals and Career Choice. In: 80,000 Hours. Centre for Effective Altruism, abgerufen am 17. Juli 2013.
- Benjamin Todd: Which ethical careers make a difference? (Master's thesis) Abgerufen am 27. Juli 2014.
- William MacAskill: Replaceability, Career Choice, and Making a Difference. In: Ethical Theory and Moral Practice. 2013.
- Bernard Williams: A critique of utilitarianism in Utilitarianism: For and against. Cambridge University, Cambridge 1973, S. 97 ff.
- Damian Cox, Marguerite La Caze, Michael Levine: Integrity. Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2013, abgerufen am 7. März 2013.
- Anja Dilk: Effektiver Altruismus: Hirn statt Herz. In: Spiegel Online. 14. April 2017, abgerufen am 1. Juni 2017.
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