Die Stadt und die Hunde
Die Stadt und die Hunde (span. La ciudad y los perros) ist der erste Roman des peruanischen Literatur-Nobelpreisträgers Mario Vargas Llosa aus dem Jahr 1962.[1] Die Stadt ist Lima und mit den Hunden sind Kadetten gemeint. Nicht ohne Grund wurden Anfang 1965 tausend Exemplare des Romans auf dem Hof der Kadettenanstalt „Leoncio Prado“[2] in Lima verbrannt – Strafe der Militärs für einen Autor, der als Jugendlicher direkt am Ort der Handlung um 1952[3] ausgebildet wurde.[4]
Überblick
In dem umfänglichen Textkorpus versteckt sich eine überschaubare Fabel. 16- bis 17-jährige Schlägertypen[5] – allen voran die vierköpfige Mafia, bestehend aus dem Anführer Jaguar und den Bandenmitgliedern Porfirio Cava, dem Boa und dem Löckchen – peinigen hinter den Mauern der oben genannten militärischen Schule ihren Kameraden Ricardo Arana bis aufs Blut. Auch der Kadett Alberto Fernández ist an den Drangsalierungen des unglücklichen Kameraden nicht unbeteiligt. Der Außenseiter Ricardo, von den Flegeln in seiner Umgebung „Sklave“ genannt, steckt nur Prügel ein.[6] Nicht als Soldat geboren, erhält er außerdem von den Vorgesetzten eine Strafe nach der anderen.
Die Mafia, in dem Fall Cava, stiehlt Antworten auf Chemieprüfungsfragen und verkauft diese an Kameraden. Ricardo will während der schriftlichen Chemieprüfung seinem Freund Alberto mit einem Spickzettel helfen und wird vom Aufsicht führenden jungen Leutnant Gamboa ertappt. Die Strafe lautet Ausgangssperre. Ricardo, der unbedingt seine Freundin Teresa aufsuchen möchte, reagiert im Affekt. Da Ricardo zum Zeitpunkt des Diebstahls der Chemiefragen Wache gestanden hatte, meldet er Cava bei einem vorgesetzten Leutnant und erhält zur Belohnung Ausgang. Cava wird relegiert. Er nimmt alle Schuld auf sich, obwohl er vom Jaguar angestiftet worden war. Während der nächsten Feldübung mit scharfer Munition wird Ricardo hinterrücks in den Kopf geschossen und stirbt drei Tage darauf.
Ricardo hatte zu Lebzeiten während seiner Ausgangssperre den einzigen Freund Alberto als Botschafter zu Teresa nach draußen geschickt. Alberto hatte den Freund hintergangen und sich in Teresa verliebt. Nach dem Tode Ricardos sucht Alberto verzweifelt den Todesschützen und beschuldigt vor den Vorgesetzten den Jaguar der Tat. Die militärische Führung der Schule will mit Hilfe eines unwahren ärztlichen Gutachtens den hinterhältigen Schuss als bedauerlichen Unfall hinstellen. Ricardo soll sich angeblich selbst angeschossen haben. Alberto wird von dem Schulleiter, einem Oberst, genötigt, seine ungeheuerliche Anschuldigung zurückzunehmen. Wie sich herausstellt, kann Alberto seine Behauptung nicht beweisen. Das Vorkommnis wird vertuscht.
Inhalt
In Lima treffen 15- bis 17-jährige Jugendliche aus verschiedenen Teilen Perus aufeinander.[7] Ricardo wird vom Vater, einem einfachen Mann, gegen den Willen der Mutter auf die Kadettenanstalt geschickt. Es sind Einschreibgebühren zu zahlen. In der Schule gibt es auch Rekruten. Im Unterschied zum Kadetten, der von den Eltern geschickt wird, wird der Rekrut oft gegen seinen Willen eingezogen. Ricardos Vater will aus seinem Jungen einen Mann machen. Jeder Absolvent verlässt die Schule mit einem Reserveoffizierspatent. Ricardos Heimatort liegt 18 Busstunden von Lima entfernt. Mit Verachtung blicken Alberto und der Jaguar – Einwohner aus Lima – auf den Serrano Porfirio Cava herab. Der arme Cholo kommt aus dem Hochland.[A 1] Während der Jaguar eine Einbrecher-Karriere hinter sich hat, kommt der 15-jährige Alberto aus besser gestellten Kreisen. Der Vater, ein übler Schürzenjäger, aus Ancash stammend, wird Alberto nach dem Absolvieren der Kadettenanstalt ein Ingenieurstudium in den USA ermöglichen. Als Alberto aus der Kadettenanstalt sehr schlechte Zensuren heimbringt, bekommt er vom erbosten Vater für die Schulferien einen Privatlehrer verordnet. Die 17-jährige Halbwaise Teresa ist bei der in bitterer Armut lebenden Tante untergebracht und arbeitet in der City als Stenotypistin.[8]
Bereits nach dem Eintritt in die Kadettenschule musste Ricardo im Rahmen der „Taufe“ – das ist so etwas wie eine Initiation – alle möglichen Quälereien und Erniedrigungen der älteren Kadetten-Jahrgänge über sich ergehen lassen.[9] Hingegen der Jaguar hatte die Mafia gegründet und war mit ihren Mitgliedern zum organisierten Gegenangriff auf die älteren Schüler losgegangen. Vor die Wahl gestellt, ziehen Kadetten Körperstrafe der gefürchteten Ausgangssperre vor.
Als Ricardo im Sterben liegt, will ihn sein Freund Alberto besuchen, wird jedoch vom Sanitäter nicht vorgelassen. Selbst den angereisten verzweifelten Eltern wird der Zutritt in das Krankenzimmer verwehrt. Den Eltern wird weisgemacht, der Sohn allein trage Schuld. Er habe sich versehentlich angeschossen. Dabei weiß der Schulleiter aus dem ärztlichen Befund, Kadett Ricardo Arana hat einen Genickschuss. Nach dem Tod des Kadetten wechseln sich Schüler aus der Klasse mit der Totenwache in der Kapelle ab. Alberto weint. Er kommt über den Tod des Freundes nicht hinweg, sucht Leutnant Gamboa in dessen Stadtwohnung auf und beschuldigt den Jaguar des Mordes. Er wollte Cava rächen, behauptet Alberto und habe Ricardo hinterrücks erschossen. Weil Alberto das nicht gesehen hat, nimmt Hauptmann Garrido die Aussage als Vermutung und will die ganze Geschichte vergessen machen. Leutnant Gamboa, der im Dienstzimmer des Hauptmanns zugegen ist, bleibt fest. Er besteht auf einer Untersuchung. Der Hauptmann will davon nichts wissen und veranlasst im Schlafsaal der Klasse einen Kleiderappell. Verbotenes – wie Zigaretten, Alkohol, Spielkarten und Nachschlüssel – wird aus den Spinden zu Tage gefördert. Die wütenden Kadetten halten nicht Alberto, sondern den Jaguar für den Verräter. Denn der Jaguar hatte gedroht, er werde die Kameraden auffliegen lassen, wenn Cava aus der Schule entfernt werden würde. Der Jaguar lässt den Vorwurf auf sich sitzen. Der Oberst erpresst Alberto mit seinen Romänchen. Das sind kleine pornographische Schriften, die Alberto verfasst und an Kameraden verkauft hat. Alberto nimmt den Mordvorwurf zurück. Im Gegenzug werden die belastenden Schriften nicht publik gemacht. Während der eigenmächtigen Untersuchung des Leutnants in eine Zelle des Karzers gesperrt, wirft Alberto dem Jaguar Mord vor und gibt zu, wie er den Jaguar denunziert hat. Der Jaguar weiß angeblich nicht, dass Cava von Ricardo verraten worden war. Alberto glaubt dem und bittet den Jaguar um Verzeihung. Der Jaguar hat für Alberto nur Verachtung übrig.
Leutnant Gamboa wird in die Puna nach Juliaca strafversetzt. Er lässt seine 18-jährige schwangere Ehefrau bei Verwandten in Lima zurück. Vor der Abreise gesteht ihm der Jaguar noch den Mord an Ricardo. Nachdem Alberto seine Beschuldigung zurückgezogen hat, interessiert den Leutnant das Geständnis nicht mehr.[10]
Der Jaguar wird ein solider kleiner Bankangestellter und heiratet seine Jugendliebe Teresa. Alberto hat schon längst Marcela, seine wohlsituierte Braut, gewonnen. Er wird in den USA studieren, Marcela heiraten und als Casanova vermutlich in die Fußstapfen seines Vaters treten.
Form und Interpretation
Der Roman besteht aus zwei Teilen und einem Epilog.
In seinem Roman-Erstling schickt Vargas Llosa den Leser zu Textanfang in ein schier undurchdringliches Dickicht. Nach zweihundert Seiten lichtet sich das Textverhau. Ein durchschaubarer Kriminalfall (siehe oben) liegt vor. Allerdings klärt Vargas Llosa den Fall nicht auf.[11] Mehrere Täter sind denkbar. Es könnte vielleicht auch ein Unfall gewesen sein. Das Apostrophieren als Kriminalroman wird dem Text nicht gerecht. Da sind zum Beispiel neben dem „normalen“ Erzähler zwei geheimnisvolle, zunächst fast anonym daherkommende Erzähler, die es erst einmal zu erkennen und immerzu wieder neu auseinanderzuhalten gilt. Gemeint sind die Kadetten Jaguar und Boa, die Auskünfte über ihre Kindheit vor dem Besuch der Militärschule geben. Der Cholo[12] Boa ist meist ziemlich leicht auszumachen. Er verrät mitunter seinen Namen[13] und redet in fast jedem Auftritt über die treue Hündin Malpapeada, die er ins Herz geschlossen hat. Der Jaguar ist ein Fall für sich. Der Leser wundert sich über den geheimnisvollen Erzähler, kann ihn aber erst gegen Ende des Epilogs erkennen.[14] Dort tritt nämlich der dürre Higueras erstmals auf – ein Ganove, über dessen Bubenstreiche der Jaguar über den ganzen Roman hinweg unausgesetzt erzählt. Der Jaguar redet auch noch ständig über seine Liebste Tere. Bald ahnt der Leser, damit könnte Teresa gemeint sein.
In manchen späteren Werken hat sich Vargas Llosa zur Kürze gezwungen.[15] Der Erstling ist davon noch nicht betroffen. Dazu zwei Beispiele. Erstens, die inneren Monologe, kunterbunt durchmischt mit ausufernden Bewusstseinsströmen, reizen anfangs zum Beiseitelegen des Buches. Die immer wieder eingeschobenen Geschichten aus der turbulent-kriminellen Kinderzeit des Ich-Erzählers Boa stören im letzten Drittel des Buches. Der Leser fragt sich: Welche Funktion sollen diese ablenkenden Füllsel zum Romanende hin haben?
Zweitens, der Lesefluss gerät in manchen Dialogpassagen durch die eigenwillige Anordnung der Absätze ins Stocken. Der Leser kann fast nicht mehr auseinanderhalten, wer gerade spricht.[16]
Gelegentlich wird das Tempus gewechselt.[17]
Vargas Llosa lässt in seinen wortreichen Beschreibungen kaum eine – manchmal kriminelle – Torheit aus dem Soldaten-Alltag der Kasernen dieser Welt aus. Während des Ausgangs werden jüngere Kadetten-Jahrgänge von älteren im Stadtomnibus erfolgreich genötigt, ihren Sitzplatz freizumachen. Der Kadett spuckt ins Essen, damit er es ganz für sich behalten kann. Er steht vor dem Etablissement der Hure Pies Dorados Schlange und erleichtert sich, sobald er endlich an der Reihe ist. Wenn das Geld knapp wird oder der Ausgang gestrichen wurde, wird manchmal in der Schlafsaal-Gemeinschaft masturbiert oder sich in der Not im Kasernengelände sodomistisch vergangen.[18]
Selbst die Beschreibung todtrauriger Situationen ist nicht frei von Situationskomik. Als zum Beispiel der Hauptmann Garrido den angeschossenen Ricardo im Felde liegend auffindet, gibt Vargas Llosa die Gedankengänge dieses die Übung leitenden Offiziers wieder. Garrido sorgt sich nicht nur um den Kadetten, sondern auch um den drohenden Vermerk in seinen bis dato sauberen Personalbogen. Überhaupt kommt das Offizierskorps bei Vargas Llosa nicht gut weg. Leutnant Gamboa ist in dem Roman der einzige Offizier mit Rückgrat.
Rezeption
- Vargas Llosa gesteht, die Figur des „Dichterlings“ (span. el Poeta[19]) Alberto betreffend, autobiographische Züge ein. Vargas Llosa sei Kadett geworden, weil der Vater keinen Dichter in der Familie geduldet habe. Was für den nicht aufgelösten Kriminalfall gelte, träfe ebenso auf das lediglich gegeneinander hingestellte Spannungsgefüge der Lebensphilosophien zu. Wehmütig beobachte Vargas Llosa, wie die Heranwachsenden durch die Gesellschaft zu Kompromissen genötigt werden würden.[20]
- Der Roman erscheine als Abbild der Zwistigkeiten innerhalb der ethnischen Gruppierungen in dem Vielvölkerstaat Peru.[21] Das Aufbegehren der Protagonisten gegen bestehende Machtverhältnisse scheitere.[22] Am Beispiel Ricardos werde gezeigt, wie die Gesellschaft ein nonkonformes Mitglied auf die brutalste Art ausstoße.[23]
Verfilmung
Lombardis gleichnamiger Film[24] kam am 18. Juni 1985 in Peru zur Aufführung. Premieren in Argentinien, Kanada, New York City, Ungarn und Frankreich folgten bis 1990. Juan Manuel Ochoa[25] spielte den Jaguar, Liliana Navarro die Teresa, Pablo Serra den Alberto, Eduardo Adrianzén den Ricardo und Gustavo Bueno[26] den Leutnant Gamboa. Vargas Llosa hatte zusammen mit José Watanabe am Drehbuch gearbeitet.
Weblinks
- Die Verfilmung 1985 in der englischen IMDb
Literatur
Verwendete Ausgabe
- Die Stadt und die Hunde. Roman. Aus dem Spanischen übertragen von Wolfgang A. Luchting. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1980 (1. Taschenbuch-Aufl.). Übersetzung 1966 bei Rowohlt, Reinbek bei Hamburg, ISBN 3-518-37122-3[A 2]
Sekundärliteratur
- Thomas M. Scheerer: Mario Vargas Llosa. Leben und Werk. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1991, ISBN 3-518-38289-6
- Norbert Lentzen: Literatur und Gesellschaft: Studien zum Verhältnis zwischen Realität und Fiktion in den Romanen Mario Vargas Llosas. Romanistischer Verlag, Bonn 1994 (Diss. RWTH Aachen 1994), ISBN 3-86143-053-3
Anmerkungen
- Die verwendete Ausgabe enthält Anmerkungen mit Begriffsklärungen unter anderem von „Serrano“ (Sierra-Bewohner) und „Cholo“ (Verwendete Ausgabe, S. 423, Fußnoten 2 und 11).
- Die verwendete Ausgabe ist nicht frei von Druckfehlern (siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 15, 13. Z. v. u., S. 195, 11. Z. v. o. oder S. 252, 17. Z. v. u.).
Einzelnachweise
Teilweise in englischer und spanischer Sprache
- Verwendete Ausgabe, S. 4, 9. Z. v. u.
- eng. Militärakademie Leoncio Prado
- span. namhafte Absolventen der Militärakademie
- Scheerer, S. 12 oben
- Scheerer, S. 36, 6. Z. v. o.
- Scheerer, S. 36, 15. Z. v. o.
- Lentzen, S. 17, 11. Z. v. o.
- Lentzen, S. 25, 10. Z. v. o. und S. 27, 2. Z. v. u.
- Scheerer, S. 35, 4. Z. v. o.
- Scheerer, S. 31, 12. Z. v. u.
- Scheerer, S. 20, 18. Z. v. o.
- Lentzen, S. 17, 12. Z. v. u.
- siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 209, 1. Z. v. o.
- Lentzen, S. 164, 6. Z. v. o.
- siehe zum Beispiel „Wer hat Palomino Molero umgebracht?“
- siehe zum Beispiel verwendete Ausgabe, S. 361, 4. Z. v. o.
- Verwendete Ausgabe, S. 160, 12. Z. v. u.
- Lentzen. S. 40, 8. Z. v. o.
- span. Alberto Fernández, “El Poeta”
- Scheerer, S. 12–20
- Lentzen, S. 17–19
- Lentzen, S. 30, 12. Z. v. u.
- Scheerer, S. 36, 10. Z. v. u.
- span. Die Stadt und die Hunde (Film)
- span. Juan Manuel Ochoa
- span. Gustavo Bueno