Der Blindensturz
Der Blindensturz ist ein Gemälde des niederländischen Malers Pieter Bruegel des Älteren. Das 154 cm × 86 cm große Tempera-Gemälde auf Leinwand entstand 1568. Es ist heute im Museo di Capodimonte in Neapel zu besichtigen. Mehrere Kopien dieses Bildes sind bekannt, ein 118 cm × 168 cm großes Ölgemälde auf Holz befindet sich im Louvre in Paris.
Der Blindensturz |
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Pieter Bruegel der Ältere, 1568 |
Tempera auf Leinwand |
86 × 154 cm |
Museo Nazionale di Capodimonte |
Das Gemälde
Aufbau und Gestaltung
Die Gruppe bildet eine Diagonale von links oben bis rechts unten, vom Betrachter durch einen plötzlichen Abbruch (linke untere Ecke) getrennt. Direkt hinter dem ersten Blinden liegt eine Wasserfläche, welche die Gruppe von den Dorfhäusern am jenseitigen Ufer abschneidet – in der rechten oberen Bildhälfte steht eine Kirche. Bruegel stellt auf dem abschüssigen Gelände Sturzbewegungen in verschiedenen Phasen dar. Die fünfte Figur von links, die eben im Begriff ist, wie ein Gefährte in den Tümpel zu stürzen, wendet sich als Einzige dem Betrachter zu. Die Darstellung ist so exakt, dass sich bei dreien von ihnen die Ursache der Blindheit feststellen lässt: Der Dritte von links leidet an einem Leukom, der Vierte an Schwarzem Star und dem Fünften wurden die Augen ausgestochen.[1]
Im Gegensatz zu seinen Tanz- und Hochzeitsbildern nutzt Bruegel kaum Farbkontraste und eine sehr reduzierte Palette aus Braun- und Blaugrautönen.[2]
Das Motiv
Das Gemälde beruht auf der Parabel des Blindensturzes aus der Bibel. Im Matthäus-Evangelium sagt Jesus im 15. Kapitel über die Pharisäer: „Lasst sie, sie sind blinde Blindenführer. Wenn aber ein Blinder den anderen führt, so fallen sie beide in die Grube.“ (Mt 15,14 )
Dieses Motiv wurde in der Renaissancezeit von verschiedenen Malern aufgegriffen und unterschiedlich umgesetzt. Bruegel bezieht es ganz auf die Zeit, in der er lebte, und deutet den religiösen Kontext lediglich an.
Hintergrund und Deutung
In der Renaissance wurden Blinde üblicherweise mit geschlossenen Augen dargestellt. Bruegel verfuhr anders, er hat seine Zeitgenossen genau betrachtet. In seiner Welt gab es viele Blinde, nicht alle waren es von Geburt an, vielmehr taten vor allen Dingen mangelhafte Hygiene und Krankheiten das ihre dazu. In einem medizinischen Werk von 1585 werden allein 113 Augenkrankheiten erwähnt; Heilung gab es für die Betroffenen oft nicht. Und weil Blinde auf Almosen angewiesen waren, sie also auf der Tasche anderer liegend empfunden wurden, gehörten viele von ihnen zu den Bettlern, die kränklich, zerlumpt und verwahrlost auf der Straße lebten. Dementsprechend stellt Bruegel seine Blinden dar. Nach der calvinistischen Lehre galt Blindheit als Strafe: Wen Gott im Elend beließ, der hatte es verdient. Der diagonal abwärts gewandte Weg der Personengruppe weist auf den bevorstehenden Sturz auch der übrigen Gruppe hin. Über dem Wasser des Tümpels, an dessen Rand der erste Blinde zu Fall kam, hängt eine weiße Madonnen-Lilie. Lilien galten als Zeichen der Reinheit und Erlösung; ob diese den Stürzenden gewährt wird, sagt Bruegel nicht.
Die Bedeutung der Kirche im Hintergrund ist bei Kunsthistorikern umstritten. Drei verschiedene Ansätze gibt es, von denen sich keiner behaupten konnte. Einige meinen, die Kirche habe keine Bedeutung, da Bruegel solche oft in seine Bilder integriert habe. Andere erklären sie im Hinblick auf den religiösen Hintergrund, der verdorrte kleine Baum vor ihr (fast nur ein trockener Ast) signalisiere, dass sie, die von Pharisäern geführt werde, nutzlos geworden sei. Eine dritte Gruppe wiederum sieht in der besonderen Position, die die Kirche im Bild einnehme, einen moralischen Hinweis: Sie sei nicht von ungefähr zwischen den zwei schon gestürzten Blinden und der Gruppe der vier letzten platziert: Hieraus ergebe sich der Hinweis, dass die beiden ersten verloren, die anderen vier aber noch zu retten seien.
Identifizierbar ist das Bauwerk als Dorfkirche St. Anna bei Brüssel.[3]
Rezeption
- Elias Canetti gibt im Kapitel „Simsons Blendung“ des zweiten Bandes seiner Autobiografie, Die Fackel im Ohr (Seite 111), eine Bildbeschreibung dieses Gemäldes, das – wie die Blendung Simsons – motivische Schlüsselfunktion für seinen Roman Die Blendung hat.
- Gert Hofmann hat mit der Erzählung Der Blindensturz (Darmstadt 1985) dem Meisterbild eine Meistererzählung über das Gemälde gegenübergestellt.
Literatur
- Jürgen Müller: Von Kirchen, Ketzern und anderen Blindenführern – Pieter Bruegels d. Ä. Blindensturz und die Ästhetik der Subversion; In: Piltz, Eric (Hrsg.): Gottlosigkeit und Eigensinn: Religiöse Devianz im konfessionellen Zeitalter, Duncker und Humblot, Berlin 2015, ISBN 978-3-428-14481-5 S. 493–530.
- Rose-Marie Hagen, Rainer Hagen: Meisterwerke im Detail. Band 2. Taschen Verlag, Köln u. a. 2003, ISBN 3-8228-1371-0.
- Heinke Sudhoff: Ikonographische Untersuchungen zur „Blindenheilung“ und zum „Blindensturz“. Ein Beitrag zu Pieter Bruegels Neapler Gemälde von 1568. Bonn 1981, (Bonn, Univ., Diss., 1980).
Belege
- Rose-Marie und Rainer Hagen –- Pieter Bruegel d. Ä. –- Bauern, Narren und Dämonen, Köln: Benedikt Taschen Verlag GmbH 1999 S. 80
- Pieter Bruegel d. Ä. –- Bauern, Narren und Dämonen, S. 75
- Gerhard Larchner/Karl M. Woschitz – Religion, Utopie, Kunst: die Stadt als Fokus, Wien: Lit-Verlag 2005 S. 57 ISBN 3-8258-7724-8