Boris Lurie
Boris Lurie (* 18. Juli 1924 in Leningrad, Sowjetunion; † 7. Januar 2008 in New York City) war ein US-amerikanischer bildender Künstler und Autor.
Leben
Boris Lurie wurde 1924 in Leningrad in einer säkularen jüdischen Familie geboren. Bereits ein Jahr nach seiner Geburt verließ seine Familie die damalige Sowjetunion, um sich in Riga, Lettland niederzulassen. In Riga wuchs Lurie auf, zusammen mit seiner jüngeren Schwester Jeanna. 1940 wurde Lettland von der Sowjetunion okkupiert.
1941 bis 1945: Vier Jahre in Konzentrationslagern
Nach dem Einmarsch deutscher Truppen in Riga am 1. Juli 1941 begann die systematische Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung. Der Willkür und Gewalt der deutschen Besatzer und einheimischen Kollaborateure ausgeliefert, wurde Luries Familie zur Umsiedlung in das am 21. Juli 1941 in der Moskauer Vorstadt von Riga gebildete Rigaer Ghetto gezwungen. Als das Ghetto ab Ende November 1941 „freigemacht“ wurde, um für Juden-Deportationen aus Deutschland Platz zu gewinnen, wurde Lurie Zeuge der so genannten „Großen Aktionen“, bei denen am 30. November und am 8. Dezember 1941 rund 28.000 jüdische Männer, Frauen und Kinder in dem nahen Wald von Rumbula umgebracht wurden. Unter den Ermordeten waren Luries Mutter, seine Großmutter, seine jüngere Schwester Jeanna sowie seine Mitschülerin und große Jugendliebe Ljuba Treskunowa. Lurie befand sich zu diesem Zeitpunkt zusammen mit seinem Vater Ilja unter den „Arbeitsfähigen“ der Arbeitskommandos, die im so genannten „Kleinen Ghetto“ (einem separierten Teil des „Großen Ghettos“) gefangen gehalten und vorläufig (noch) verschont wurden. Vater und Sohn überlebten den Massenmord. Beide wurden von 1941 bis 1945 von einem Konzentrationslager ins nächste verschleppt: Riga-Kaiserwald, Salaspils (auch: Lager Kurtenhof), Lenta, eine Außenstelle des KZs Riga-Kaiserwald und Werkstatt der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes des Reichsführers SS (SD), in der Luxuswaren für die höheren SS-Offiziere hergestellt wurden, Stutthof, schließlich ins KZ Buchenwald (Buchenwald-Außenlager Polte-Werke).
Im April 1945 wurden Boris Lurie und sein Vater durch die Ankunft amerikanischer Truppen in Magdeburg befreit. Da er die deutsche und die englische Sprache beherrschte, arbeitete Boris Lurie für den amerikanischen Geheimdienst Counter Intelligence Corps (CIC) als Dolmetscher bei Verhören NS-Verdächtiger, danach in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager in Babenhausen.
Emigration in die USA und Wirken als Künstler
Im Juni 1946 emigrierte Lurie zusammen mit seinem Vater in die USA nach New York. Lurie bezog mit seinem Freund Rocco Armentosin eine Wohnung an der Columbia Street in der Lower East Side und begann als Künstler zu arbeiten. 1959 war er einer der Mitbegründer der New Yorker NO!art-Bewegung, einer Künstlerformation, die in den späten 1950er Jahren als Gegenentwurf zum Abstrakten Expressionismus und zur aufkommenden Pop-Art entstand.
Luries unästhetische, provokativ-extreme Collagen, Skulpturen und literarische Arbeiten, in denen er ganz bewusst (vordergründig) Widersprüchliches aufeinander prallen ließ, entstanden auf dem Hintergrund der am eigenen Leib erfahrenen Grausamkeiten. In einem Brief an den Kunsthistoriker Thomas Baer Hess, den Herausgeber der Zeitschrift Art news, schrieb Boris Lurie 1962: „Die Grundlagen meiner künstlerischen Erziehung erwarb ich in KZ’s wie Buchenwald.“[1] Unbeirrt beharrlich erinnerte der Holocaust-Überlebende an die Kriegsopfer und die Judenvernichtung, stellte sie in einen aktuellen Alltagskontext aus Werbung, Pornografie und Politik, paarte Bilder der NS-Gräuel, der Vergasten mit pornografischen Elementen der Konsumgesellschaft, das Entsetzen mit der Lust.
Seine Arbeiten sind zugleich Protest gegen die ihm zu seicht, zu oberflächlich, zu „entrückt“ erscheinenden vorherrschenden Kunstrichtungen, gegen den etablierten Kunstbetrieb, gegen den sich ausschließlich am Gewinn orientierenden Kunstkommerz. Kunst konnte nach Luries Verständnis nicht Flucht vor der Realität sein, durfte sich nicht entziehen, sondern hatte sich um „die Themen des wirklichen Lebens“ zu kümmern, die Schrecken der Zivilisation zu zeigen – wie Krieg und Gewalt, Unterdrückung und Kolonialismus, Rassismus und Sexismus.
Ausstellungen
- 1995: NO!art. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, NGBK, Berlin.[2]
- 1995: Boris Lurie und NO!art. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, NGBK, Berlin im Haus am Kleistpark.[3]
- 2004: Naomi Tereza Salmon: optimistic disease facility. boris lurie, new york – buchenwald. Haus am Kleistpark, Berlin.[4]
- 2014: Boris Lurie, Sold. Museo Vostell Malpartida in Kooperation mit der Boris Lurie Art Foundation, New York.[5][6]
- 2014: KZ – Kampf – Kunst. NO!art. NS-Dokumentationszentrum der Stadt Köln in Kooperation mit der Boris Lurie Art Foundation, New York, unter der kuratorischen Leitung der Galeristin Gertrude Stein.[7]
- 2016: Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie. Jüdisches Museum Berlin.[8]
- 2017: Boris Lurie. Anti-Pop. Neues Museum Nürnberg.[9]
- 2017: Boris Lurie in Habana. Museo Nacional de Bellas Artes, Havanna.[10]
- 2020: Boris Lurie in America. He Had the Courage to Say NO!, Center for Contemporary Political Art, Washington D.C.[11]
- 2021: Boris Lurie. Das Haus von Anita, Zentrum für verfolgte Künste, Solingen.[12]
- 2021: Boris Lurie: In Riga, Žanis Lipke Memorial, Riga.[13]
Schriften
- (mit Seymour Krim): No! art. Pin-ups, excrement, protest, jew art. Edition Hundertmark, Berlin und Köln 1988.
- (mit Dietmar Kirves): Geschriebigtes – Gedichtigtes. Zu der Ausstellung in der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald. Ergänzt mit Arbeiten seiner Freunde aus der gegenwärtigen NO!Art-Bewegung. Herausgegeben von Volkhard Knigge im Auftrag der Gedenkstätte Weimar-Buchenwald. Verlag Eckhart Holzboog, Stuttgart-Bad Cannstatt 2003, ISBN 3-9807794-0-8.
- House of Anita. Vorwort von Terence Sellers. No!art Publishing, New York 2016.
- Haus von Anita. Roman. Übersetzung und Vorwort: Joachim Kalka. Wallstein, Göttingen 2021, ISBN 978-3-8353-3887-6.
Literatur
- NO! art. Neue Gesellschaft für Bildende Kunst (NGBK), Berlin 1995, ISBN 3-926796-38-3.
- Boris Lurie. Sold. Museo Vostell Malpartida, 2014, ISBN 978-1-4951-1100-6.
- Keine Kompromisse! Die Kunst des Boris Lurie. Kerber Verlag, 2016, ISBN 978-3-7356-0195-7.
- Boris Lurie. Anti-Pop. Neues Museum Nürnberg, Verlag für Moderne Kunst, Wien 2017, ISBN 978-3-903153-52-3.
- Boris Lurie in Habana. Museo Nacional de Bellas Artes, Boris Lurie Art Foundation New York, 2017, ISBN 978-0-692911-45-7.
Weblinks
- Literatur von und über Boris Lurie im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- NO!art – Homepage
- Boris Lurie Art Foundation, New York
- Kurz-Biographie von NO!art
- The NO!-Artist Boris Lurie: SHOAH and PIN-UPS (Film)
- The Art of Boris Lurie. Film und Trailer zum Film von Rudij Bergmann
- The artist as provocateur. (Interview) in: Jewish Quarterly No. 199/2005
- Spiegel-Online 8. Juni 2007: Die Nackten und die Toten
- Literatur von und über Boris Lurie in der Bibliothek des Jüdischen Museums Berlin
Einzelnachweise
- Boris Lurie, Seymour Krim (Hg.): No! art. Pin-ups, excrement, protest, jew art. Edition Hundertmark, Berlin und Köln 1988, S. 74–75.
- NO!art. NGBK, Berlin
- Boris Lurie und NO!art. NGBK, Berlin
- https://www.kunstforum.de/artikel/optimistic-disease-facility/
- Boris Lurie Sold. Museo Vostell Malpartida
- Boris Lurie Art Foundation
- Website zur Ausstellung „KZ – Kampf – Kunst. NO!art“. Abgerufen am 2. September 2014.
- Die Rache des Wutkünstlers in FAZ vom 28. April 2016, S. 14.
- Boris Lurie, Anti-Pop. Neues Museum Nürnberg
- Boris Lurie in Havana. Havana Times, 18. Oktober 2017, abgerufen am 15. Mai 2021 (englisch).
- Boris Lurie in America. Center for Contemporary Political Art, abgerufen am 15. Mai 2021 (englisch).
- Boris Lurie. Das Haus von Anita. Zentrum für Verfolgte Künste, abgerufen am 15. Mai 2021.
- Boris Lurie. In Riga. Boris Lourie Art Foundation, abgerufen am 15. Mai 2021 (englisch).