Ausländerkinder-Pflegestätte
Eine Ausländerkinder-Pflegestätte war eine Einrichtung des nationalsozialistischen Deutschen Reiches, die osteuropäischen Zwangsarbeiterinnen ihre Kinder entzog.
Viele Bezeichnungen
Ursprünglich wurde von Kindersammelstätten gesprochen. Nachdem Himmler angeregt hatte, für die Kinderpflegestätten einfachster Art eine hochtrabende Bezeichnung zu finden, wurde Ausländerkinder-Pflegestätte die offiziell in den Erlassen geführte Bezeichnung.
Einzelne Stätten wurden Säuglingsheim oder Entbindungsheim genannt. Weitere Namen: Fremdvölkisches Kinderheim, Kinderlager, Aufzuchtsraum für Bastarde.[1]
Geschichte
Ihre Errichtung wurde 1943 durch einen Erlass des Reichsführers SS Heinrich Himmler verfügt.[2] Viele Zwangsarbeiterinnen wurden auch zur Zwangsabtreibung genötigt.[3] Die Sterblichkeit der Kinder lag zwischen 80 und 90 Prozent insbesondere in den größeren Pflegestätten.[4] Ausgewählte Babys und größere Kinder wurden durch „arische“ Familien adoptiert.
Es wird geschätzt, dass zwischen 100.000 und 200.000 Kinder in diesen Einrichtungen zu Tode kamen. Die Datenbank Krieg gegen Kinder enthält Informationen über mehr als 400 Orte, an denen Kinder von Zwangsarbeiterinnen zur Welt kamen, untergebracht waren oder zu Tode kamen – darunter auch zahlreiche Ausländerkinder-Pflegestätten.
Ausländerkinder
Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurden zur forcierten Rüstungsproduktion immer mehr Zwangsarbeiterinnen aus Polen und Russland verschleppt und mussten in der deutschen Wirtschaft unter unglaublich harten Lebens- und Arbeitsbedingungen arbeiten; trotz dieser Verhältnisse wurden Zwangsarbeiterinnen schwanger und gebaren Kinder. In den Vorstellungen der Nazis sollten die ausländischen Mütter ihre eigenen Kinder (in der Nazi-Terminologie: rassisch minderwertiger Nachwuchs) nicht aufziehen. Sie sollten möglichst schnell wieder in den Arbeitsprozess integriert werden. Aufgezogen werden sollten die Säuglinge keineswegs von deutschen Frauen, sondern ausschließlich von ausländischen Zwangsarbeiterinnen. Die Nazis nahmen den Müttern die Säuglinge und Kinder weg und brachten sie fernab in Ausländerkinder-Pflegestätten. Die Anweisung Himmlers, die Kinder möglichst wenige Tage nach der Geburt von den Müttern zu trennen und in Ausländerpflegestätten einfachster Art unterzubringen, war eine Mordempfehlung. Der Begriff Pflegestätte ist zynisch: Es waren keine Pflegestätten, sondern Tötungsanstalten.
Die Kinder wurden in Baracken und Ställen untergebracht. Die hygienischen Verhältnisse waren katastrophal, die Reinigung der Windeln und Kinder wurde vernachlässigt, es gab keine oder kaum medizinische Versorgung, es fanden keine oder selten Gewichtskontrollen der Säuglinge statt. Sie waren mit maximal einem ½ Liter Milch am Tag unterernährt. Unter diesen Bedingungen erlitten die vernachlässigten Säuglinge einen langsamen und qualvollen Tod. Die Folge war ein Tod durch Unterernährung, Ruhr und Durchfall – eindeutig eine Folge der Lebensumstände. Die körperliche Schwäche mit Todesfolge war keine Folge der Geburt, sondern war gewollt herbeigeführt worden.
Zuständigkeit und Verantwortung
Die Heimträgerorganisation lag in den Händen der NSDAP. Über den Grad der Vernachlässigung entschieden Verantwortliche vor Ort. Nicht nur nationalsozialistische Stellen, sondern auch kommunale Behörden, Betriebe, Krankenkassen, Ärzte und Arbeitsämter waren an der Organisation der Säuglingslager beteiligt. In der Ausländerkinder-Pflegestätte Velpke beispielsweise besorgte die NSDAP die Anmietung der Baracke, deren Mietzahlungen nach wenigen Monaten eingestellt wurden. Sie organisierte über die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) die Innenausstattung der Baracken, sie beglich die Gehaltsanweisungen an die Pflegestätten-Leiterin und die von ihr vorgelegten Lieferantenrechnungen.
Die „Pflegestätten“ für die Kinder der Zwangsarbeiterinnen wurden in Deutschland eingerichtet, ohne dass die Verantwortlichen in den Parteigremien der NSDAP eindeutig geklärt hätten, ob sie die Kinder überleben lassen wollten. Es wurde nicht eindeutig festgelegt, welche Standards Heime für die Unterbringung und Verpflegung der Kinder erfüllen mussten. Unklar war, wer eigentlich für den Betrieb und die Finanzierung dieser Einrichtung zuständig war. Der einzige allseits bekannte Umstand war, dass es sich um eine Einrichtung der NSDAP handelte.
Die Irritationen, die durch Nicht-Entscheidungen und Nicht-Handeln der Verantwortlichen entstanden, hatten zur Folge, dass jeder auf Entscheidungen anderer Dienststellen wartete oder diese verschob. Es entstand eine Situation, in der jeder seinen Aufgabenbereich selbst definierte, und damit befanden sich diese „Stätten“ im administrativen Niemandsland, jede Dienststelle sowie jede Person konnte ihre Verantwortung an die nächste übertragen und die eigene Verantwortung ablehnen. Die NSDAP lieferte damit die Voraussetzungen, dass der Schein tatsächlicher Säuglingspflegeheime entstand, und andererseits, dass der unausgesprochene Zweck erfüllt wurde, die unerwünschten Kinder rasch sterben zu lassen.[5]
Alle Amtsträger und Verantwortlichen wussten über das Sterben der Kinder Bescheid, sie konnten aber stets sagen, dass sie nicht wussten, wie sie sich verhalten sollten, und dass sie für den Tod der Kinder nicht verantwortlich seien. Die Ausländerkinder-Pflegestätten waren für die Beschuldigten weder Säuglingsheime noch eine Tötungsstätte.
Bevölkerung
Die Ausländerkinder-Pflegestätten waren Einrichtungen der NSDAP. Sie bestanden nicht im leeren Raum und zum Betreiben waren die Heime auf Unterstützung vor Ort angewiesen. Das Bestehen dieser Stätten und das Sterben der Kinder war allgemein bekannt und offensichtlich, denn es ließ sich vor der Bevölkerung nicht verbergen. Kirchenvorstände, Pastoren und kommunale Gremien mussten sich mit der Frage befassen, wo die Kinder begraben werden sollten. Dass derartige Einrichtungen errichtet werden konnten, lag zum einen an der passiven Haltung der Bevölkerung und zum anderen an der Möglichkeit der Nationalsozialisten, jede Form der Anteilnahme sofort zu unterdrücken. Es gab sicherlich auch Bevölkerungsschichten, die versuchten, mehr über die Umstände dieser Heime zu erfahren. Es waren überwiegend Frauen, die daraufhin von den Amtsträgern und der NSDAP bedroht und eingeschüchtert wurden.
Ausgewählte Ausländerkinder-Pflegestätten und Friedhöfe
Auf dem Gebiet des heutigen Deutschland
- Durchgangslager Bietigheim
- daran angeschlossen das Krankenlager Großsachsenheim, mit 51 bzw. 27 nachgewiesenen toten Kleinkindern
- Braunschweig
- Entbindungsheim für Ostarbeiterinnen, über 360 Babys beerdigt
- Dresden
- Lager Kiesgrube, Dr.-Todt-Straße;[6] dazugehöriges Grab auf dem St.-Pauli-Friedhof[7]
- Ausländerkinder-Pflegestätte Gantenwald
- (bei Bühlerzell, Landkreis Schwäbisch Hall): Ausländerkinder-Pflegestätte, 19 Gräber erhalten
- Ausländerkinder-Pflegestätte Großburgwedel
- Ausländerkinder-Pflegestätte Burgwedel (Großburgwedel) der Kreisbauernschaft, 24 verstorbene Kleinkinder namentlich bekannt, 28 verlegte Stolpersteine[8]
- Mölln
- Entbindungsheim der Heeresmunitionsanstalt, 27 Gräber (nicht erhalten) und Erinnerungsmal auf dem Alten Friedhof[9]
- Otterndorf
- Gedenkstein auf dem Friedhof für 14 Babys[10]
- Ausländerkinder-Pflegestätte Rühen
- Gedenktafel auf dem Friedhof Rühen für über 100 Kinder. In einem Kriegsverbrecherprozess in Helmstedt wurde der verantwortliche Arzt Hans Körbel, Werksarzt des nahgelegenen Volkswagen-Werkes, 1946 zum Tode verurteilt und am 7. März 1947 im Zuchthaus Hameln hingerichtet.
- Ausländerkinder-Pflegestätte Velpke
- Mahnmal am Ort der Beerdigung von 91 Kindern auf dem Friedhof von Velpke. In einem Verfahren um diese Pflegestätte vor einem britischen Militärgericht wurden 1946 zwei Todesstrafen und zwei Haftstrafen mit 15 und 10 Jahren Zuchthaus verhängt.[11]
- Voerde
- Kinderbaracke Buschmannshof für Säuglinge und Kinder von Zwangsarbeiterinnen der Firma Krupp. Anklagepunkt im Nürnberger Krupp-Prozess.[12]
Auf dem Gebiet des heutigen Österreich
- Schloss Etzelsdorf
- Pichl bei Wels
- Schloss Windern
- bei Desselbrunn
Siehe auch
- Entbindungslager für Kinder von Ostarbeiterinnen
- Prozess Rasse- und Siedlungshauptamt der SS (1947–1948), der achte der zwölf Folgeprozesse des Nürnberger Kriegsverbrecherprozesses; insbesondere gegen Otto Hofmann und Richard Hildebrandt
Literatur
- Children and the Holocaust. Symposium Presentations. Center for Advanced Holocaust Studies, United States Holocaust Memorial Museum, Washington DC 2004, (PDF; 0,7 MB).
- Christian Eggers, Dirk Riesener: Ein guter Stein findet sich allhier. Zur Geschichte des Steinhauens in Velpke. Herausgegeben von der Gemeinde Velpke mit freundlicher Unterstützung des Landkreises Helmstedt. Gemeinde Velpke, Velpke 1996.
- Martin Kranzl-Greinecker: Die Kinder von Etzelsdorf. Notizen über ein „fremdvölkisches Kinderheim“. Denkmayr, Linz 2005, ISBN 3-902488-44-1.
- Raimond Reiter: Tötungsstätten für ausländische Kinder im Zweiten Weltkrieg. Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und nationalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen. Bd. 39 = Niedersachsen 1933–1945. Bd. 3). Hahn, Hannover 1993, ISBN 3-7752-5875-2 (Zugleich: Hannover, Universität, Dissertation, 1991: „Ausländer-Pflegestätten“ in Niedersachsen (heutiges Gebiet) 1942–1945.).
- Cordula Wächtler, Irmtraud Heike, Janet Anschütz, Stephanus Fischer: Gräber ohne Namen. Die toten Kinder Hannoverscher Zwangsarbeiterinnen. VSA-Verlag, Hamburg 2006, ISBN 3-89965-207-X.
- Irmtraud Heike, Jürgen Zimmer: Die toten Kinder der "Ausländerkinder-Pflegestätte" in Großburgwedel, in: Geraubte Leben. Spurensuche: Burgwedel während der NS-Zeit, S. 66-133. VSA-Verlag, Hamburg 2019, ISBN 978-3-96488-038-3.
Weblinks
- Gedenkstätte Friedhof „Ausländerkinder-Pflegestätte“ Gantenwald, Gemeinde Bühlerzell (Memento vom 8. Januar 2013 im Internet Archive)
- Entbindungsheim Braunschweig-Broitzem (PDF; 2,61 MB)
- Krieg gegen Kinder (Datenbank mit über 400 Orten, in denen wahrscheinlich Entbindungs- oder Säuglingslager bestanden sowie Spuren wie Säuglingsgräber oder Zeitzeugenberichte darauf hindeuten)
- Fernsehsendung Volkswagen und die Todeslager für Babys von 1999 bei Panorama
Einzelnachweise
- NSDAP-Gauleitung Baden, zitiert nach B. Vögel, S. 32.
- Krieg gegen Kinder: Trennungs-Erlasse
- Zur Abtreibung gezwungen (Memento vom 23. Juli 2010 im Internet Archive), Ausstellung: Von Gebärhaus und Retortenbaby – 175 Jahre Frauenklinik Erlangen.
- Raimond Reiter, Tötungsstätten für ausländische Kinder im zweiten Weltkrieg: Zum Spannungsverhältnis von kriegswirtschaftlichem Arbeitseinsatz und Nationalsozialistischer Rassenpolitik in Niedersachsen, in: Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 34, Niedersachsen 1933–1945, Hanover: 1993, zit. n. Holocaust Memorial Museum, S. 78 (siehe Literatur).
- Eggers/Riesener: Geschichte des Steinhauens, S. 77f (siehe Literatur)
- Gravuren des Krieges – Mahndepots in Dresden. Ort 62: Dr.-Todt-Straße 120 (Radeburger Straße 12a) (Memento vom 21. November 2012 im Internet Archive)
- Eintrag im Frauenwiki Dresden
- Irmtraud Heike, Jürgen Zimmer: Die toten Kinder der "Ausländerkinder-Pflegestätte" in Großburgwedel, in: Geraubte Leben. Spurensuche: Burgwedel während der NS-Zeit. VSA-Verlag, Hamburg 2019, ISBN 978-3-96488-038-3, S. 66–133.
- Siehe Christian Lopau/Benjamin Polzin: Gedenkstätte für die Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen in Mölln, in: Informationen zur Schleswig-Holsteinischen Zeitgeschichte 36 (1999), S. 91–93 (Volltext).
- In den Jahren 1944 und 1945 wurden in Otterndorf 14 Babys „um ihr Leben gebracht“. Die 14 Kinder osteuropäischer Zwangsarbeiterinnen wurden in einem Schuppen des Otterndorfer Kreiskrankenhauses „ums Leben gebracht“. „Die ‚Tötung auf Umwegen‘ lief über gezielte Unterernährung, vernachlässigte Hygiene, unterlassene medizinische Versorgung.“ Der Vorsitzende des Vereins „Zukunft durch Erinnern“, Reinhard Krause, stellt fest, dass das ein düsteres Kapitel war, das keiner hören wollte. „Die Gräber der 14 Kinder auf dem Otterndorfer Friedhof wurden 1968 aufgelöst und eingeebnet. … Erst 35 Jahre später unternahm Otterndorf einen Anlauf, die Erinnerung öffentlich wiederzubeleben. Am Volkstrauertag 2003 wurde nach langem politischen Ringen ein Gedenkstein auf dem Friedhof eingeweiht mit der Aufschrift ‚Zum Gedenken aller Kinder, die durch Krieg und Gewalt ihr Leben verloren‘.“ Die 14 Kinder blieben weiter namenlos. Erst am 8. Mai 2009 wurde ein Messing-Mahnmal mit den Namen der toten Zwangsarbeiterkinder eingeweiht: eine Skulptur der Künstlerin Rachel Kohn – eine dunkle Wolke über einem Kinderbett und darunter die Platte mit den 14 Namen. „Mit der Erinnerung an das Schicksal der 14 Kinder können wir hoffentlich den kritischen Geist in den Kindern und Jugendlichen von heute wecken.“ (Quellen: Nordsee-Zeitung, 17. November 2014, S. 18, Nieder-Elbezeitung, 29. Dezember 2014 und Schockiert über die Grausamkeiten. Bericht über Gedenken des Vereins „Zukunft durch Erinnern“).
- Das Velpke-Verfahren (engl.)
- Kim Christian Priemel: Tradition und Notstand. Interpretations- und Konfrontationslinien im Fall Krupp. In: NMT – Die Nürnberger Militärtribunale zwischen Geschichte, Gerechtigkeit und Rechtschöpfung. Hrsg.: Priemel und Stiller, Hamburger Edition 2013, ISBN 978-3-86854-577-7, S. 449.