Ausbesserungswerk Lingen
Von 1856 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gab es ein Eisenbahnausbesserungswerk in Lingen (Ems). Am 23. Juni 1856 wurde die Hannoversche Westbahn mit der Verbindung Löhne–Osnabrück–Rheine–Lingen–Emden in Betrieb genommen. Im emsländischen Lingen wurden dazu die Königlichen Bahnhofswerkstätten zur Aufarbeitung schadhafter Fahrzeuge nach zweijähriger Bauzeit eröffnet.
Ursprüngliche Anlage
Die baulichen Anlagen wurden in U-Form eingerichtet. Diese Form ergab sich aus der zentralen Lage des Kraftwerkes, in dem mittels Dampfmaschine eine Welle angetrieben wurde, von der aus über Transmissionsriemen weitere Maschinen betrieben wurden, die links und rechts entlang dieser Welle angeordnet waren, so zum Beispiel eine Dreherei oder auch die Kupferschmiede.
Im südlichen Seitenflügel des Komplexes wurde die Wagenhalle eingerichtet, gegenüber im nördlichen Flügel die Lokomotivhalle. In einem zentralen Gebäude wurden die Schmiede und die Schlosserei untergebracht.
Welche relativ geringen Dimensionen diese Hallen (wie auch das gesamte Werk) zu jener Zeit hatte, erkennt man, wenn man sich vorstellt, dass die bis heute erhaltenen Bauteile (Schmiede, Betriebsschlosserei) Teile der ursprünglichen Werkanlagen sind. Diese sind in ihrer Erscheinungsform – besonders im Dachbereich – zwar völlig verfremdet, es handelt sich jedoch im unteren Bereich dennoch um historische Bausubstanz.
Aufbau in der Preußenzeit
Durch die Verwicklungen des Preußisch-Österreichischen Krieges im Jahr 1866 geriet die Hauptwerkstätte Lingen in den Machtbereich Preußens. Der Name wurde daraufhin geändert in Königlich Preußische Eisenbahnhauptwerkstätte Lingen (Ems).
Die Folgezeit kann als die Aufbauphase des Werkes betrachtet werden: Ab 1870 entstand eine wesentlich größere Wagenhalle südlich der vorhandenen Anlagen, 1875 eine neue Lokomotivhalle, die etwa dort endete, wo heute das nördliche Ende der Hallen 1 und 2 ist. Nördlich davon wiederum entstand 1878/1880 ein großer Ringlokschuppen.
Im Jahre 1880 wurde im Werk die Ausbildung von Lehrlingen aufgenommen, um den Nachwuchs an Fachkräften in der ansonsten vorwiegend landwirtschaftlich geprägten Umgebung zu sichern. Die dafür notwendigen Räume wurden im Mitteltrakt des U-förmigen Bauteils geschaffen.
1884 entstand das auffällige Gebäude des Magazins, das viele Jahre später als Waschhaus eine neue Nutzung fand und erst im März 1992 zusammen mit dem Verwaltungsgebäude abgebrochen wurde.
1897 bekam das Werk eine eigene Kesselschmiede, die entlang der damals noch schmalen und stillen Kaiserstraße ihren Standort fand und dort bis zum Mai 1989 stand.
Die neue Lokhalle aus dem Jahre 1875 wurde schnell zu klein für den stetig wachsenden Bestand an Schadfahrzeugen und so musste 1908 für Platz gesorgt werden: Die so genannte „neue Bude“ entstand und machte die 33 Jahre alte Lokhalle zur „alten Bude“. Diese „neue Bude“ wurde später zum Hauptlager umfunktioniert und ist heute als Halle 4 bekannt.
Am 25. August 1910 wurde zum bestehenden Werk auf einem, einige hundert Meter südlich gelegenen Gelände auf der anderen Seite der Bahnlinie die Wagenwerkstatt eingerichtet. Dadurch bedingt wurden beide Werke umbenannt in Werkstättenamt A (für die Unterhaltung der Lokomotiven) und Werkstättenamt B (für die Wageninstandhaltung).
Während des Ersten Weltkrieges kam es zum größten Ausbau in der gesamten Geschichte des Werkes: In den Jahren 1914 bis 1918 entstanden die 55.000 m² großen Lokrichthallen 1 und 2, in der fortan 100-Tonnen-Krane die Fließfertigung im Lingener Werk einführten. Dazu musste ein Großteil der bestehenden Werkanlagen beseitigt werden: Das alte Kraftwerk – der ehemalige Kern der Gesamtanlage –, die Dreherei, der alte Wasserturm und weitere Gebäude fielen den neuen Lokrichthallen zum Opfer.
Diese Werkstätten wurden umgesiedelt und erhielten großzügigere Bauten in anderen Bereichen des Werkes oder wurden in bestehende Gebäude umquartiert. Die bis heute erhaltenen Gebäudeteile wie Schmiede und Betriebsschlosserei sind eigentlich nur noch die Köpfe der ehemaligen Anlage, die direkt bis an die Ostwand der großen Halle 1 und 2 eingekürzt wurde.
In jener Zeit wurden folgende Gebäude neu errichtet: 1915 das repräsentative Verwaltungsgebäude, 1916 der neue Werkwasserturm auf dem Nordabschnitt und 1917 die Werkfeuerwehr (zunächst als Badeanstalt). 1919 wurde die Kesselschmiede um ihre seitlichen Anbauten erweitert.
Zum 1. April 1920 wurde die Deutsche Reichsbahn gegründet und das Werk daraufhin in Reichsbahnausbesserungswerk Lingen (RAW Lingen) umbenannt.
Während der Zeit des Nationalsozialismus entstand im Jahre 1939 die neue, sehr großzügige Lehrwerkstatt im Stil der Zeit – zwar sachlich-nüchtern, doch mit historisierenden Elementen und pathetischen Details besonders in Räumen der Gemeinschaftlichkeit wie zum Beispiel dem Speisesaal.
Während des Zweiten Weltkriegs kam es bei Luftangriffen besonders am 21. Februar und am 21. November 1944 zu schweren Schäden im Ausbesserungswerk Lingen.
Nachkriegszeit und Schließung
Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden vornehmlich Sicherungsarbeiten an den beschädigten Gebäuden statt. Gestalterische Qualität war fortan nicht mehr gefragt. Alle Gebäude, die nach dem Krieg entstanden, weisen kaum architektonischen Wert auf, sollten schlicht, zweckmäßig und preisgünstig sein.
So entstanden die Sandstrahlwerkstatt in Kalksandsteinmauerwerk, die Halle 3 und die Küche beziehungsweise Kantine des Werkes in der Nachkriegszeit.
1948 wurde das Werk in Eisenbahnausbesserungswerk (EAW) umbenannt, dann drei Jahre später in Bundesbahnausbesserungswerk (AW).
Am 23. Juni 1956 wurde das 100-jährige Bestehen des Eisenbahnausbesserungswerkes in Lingen groß gefeiert.
Im Jahre 1969 wurde die Lehrlingsausbildung im Ausbesserungswerk Lingen eingestellt und das Werk in eine Ausbesserungswerkstätte (AWSt) umgewandelt.
Mit dem langsamen Verschwinden der Dampflokomotiven von der Emslandstrecke wurde auch die Instandhaltung dieser Dampfrösser im Werk eingestellt und der Betrieb auf die Güterwageninstandhaltung umgestellt. Im Jahre 1972 verließ die letzte Dampflok (051 696-3) die Lingener Hallen.
1977 wurden die Dampflokomotiven endgültig vom Schienennetz der Deutschen Bundesbahn entfernt. Am 28. September 1980 wurde der elektrische Schienenverkehr auf der Strecke Emden–Rheine aufgenommen.
Im Jahre 1983 wurde auch die Güterwageninstandhaltung im Werk eingestellt. Fortan wurden große Bereiche der Werkanlagen als Lagerflächen vermietet. Eine Sicherung und Wartung fand praktisch nicht mehr statt. Weite Teile des Geländes verfielen, Hallendächer wurden undicht, Lagerflächen von der Natur zurückerobert.
Ab 1980 wurden in den letzten noch genutzten Hallen Feuerlöscher, Wagendecken, Rungen aller Art, Stempel etc. von nur noch einer Handvoll Leuten gefertigt.
Im Jahre 1984 wurden noch einmal alte Zeiten lebendig: Historische Dampfloks wurden für die museumsgerechte Präsentation im Jubiläumsjahr 1985 (150 Jahre Eisenbahn in Deutschland) hergerichtet.
Am 30. April 1985 wurde die Zentralstelle für den Werkstättendienst (ZW) aufgelöst. Seit diesem Jahr verschwanden die noch hier beschäftigten Arbeiter mehr und mehr. Unmerklich verschwanden die letzten Angestellten. Dieser Prozess zog sich über Jahre hin. Wer letztendlich das Licht ausgemacht hat, lässt sich kaum präzise bestimmen.
Nachdem die Stadt Lingen die Gebäude um 1990 erworben hatte, begann eine grundsätzliche Restauration der denkmalgeschützten Gebäude. 1997 eröffnete der Kunstverein Lingens in der Halle 4 die größte Kunsthalle des westlichen Niedersachsens und richtet seitdem regelmäßig Ausstellungen und Ähnliches in ihr aus. Später wurden dann andere Teile der restaurierten Gebäude vermietet, unter anderem an die Ems-Vechte-Welle, die seit 1997 von dort auf Sendung geht, und an die die Fachhochschule Osnabrück, Standort Lingen, die ihre Kapazitäten damit stark erweitern konnte.
Vorübergehend als Gokart-Bahn genutzt, befindet sich in der in mehreren Jahren vollständig renovierten Lokrichthalle I/II seit dem Wintersemester 2012/13 die Hochschule Osnabrück, Campus Lingen.