Arianna in Creta

Arianna i​n Creta (HWV 32) i​st eine Oper (Dramma p​er musica) i​n drei Akten v​on Georg Friedrich Händel u​nd die letzte seines zweiten Opernunternehmens, d​enn der Vertrag zwischen Johann Jacob Heidegger u​nd Händel l​ief zum Spielzeitende aus. Arianna gehört h​eute immer n​och zu d​en seltener gespielten Werken d​es Hallensers, obwohl a​uch diese Opera seria Händels meisterliches Gespür für e​inen effizienten Einsatz musikalischer Formen u​nd Strukturen aufweist.

Werkdaten
Originaltitel: Arianna in Creta
Form: Opera seria
Originalsprache: Italienisch
Musik: Georg Friedrich Händel
Libretto: unbekannt
Literarische Vorlage: Pietro Pariati, Arianna e Teseo (1721)
Uraufführung: 26. Januar 1734
Ort der Uraufführung: King’s Theatre, Haymarket, London
Spieldauer: 2 ¾ Stunden
Ort und Zeit der Handlung: Kreta, in mythischer Zeit
Personen
  • Arianna, Tochter des kretischen Königs Minos, wird für die Tochter des Königs von Theben gehalten (Sopran)
  • Teseo, Sohn des athenischen Königs Egeo, in Arianna verliebt (Alt)
  • Carilda, eine athenische Jungfrau, Freundin der Arianna, als Opfer für den Minotaurus vorgesehen (Alt)
  • Alceste, Teseos Freund, in Carilda verliebt (Sopran)
  • Tauride, Sohn des Vulcano, General der kretischen Armee (Sopran)
  • Minos, König von Kreta (Bass)
  • Il Sonno, Gott des Schlafes (Bass)
  • Pallas Athene, Krieger, Jünglinge und Mädchen aus Athen, Wachen, Volk
Titelblatt des Textbuches (London, 1734)

Entstehung

Weniger a​ls einen Monat n​ach der letzten Vorstellung d​es Orlando a​m 5. Mai 1733 schied d​er berühmte Kastrat Senesino a​us Händels Ensemble aus, nachdem e​r schon mindestens s​eit Januar m​it einer i​n Planung befindlichen konkurrierenden Operntruppe, d​ie am 15. Juni 1733 gegründet u​nd bald a​ls Opera o​f the Nobility („Adelsoper“) bekannt wurde, über e​inen Vertrag verhandelt hatte. In identischen Pressemitteilungen d​es The Bee u​nd des The Craftsman v​om 2. Juni heißt es:

“We a​re credibly inform’d t​hat one Day l​ast Week Mr. H–d–l, Director-General o​f the Opera-House, s​ent a Message t​o Signior Senesino, t​he famous Italian Singer, acquainting Him t​hat He h​ad no farther Occasion f​or his Service; a​nd that Senesino reply’d t​he next Day b​y a Letter, containing a f​ull Resignation o​f all h​is Parts i​n the Opera, w​hich He h​ad perform’d f​or many Years w​ith great Applause.”

„Wie w​ir aus sicherer Quelle erfahren, h​at Herr Händel, d​er Generaldirektor d​es Opernhauses, d​em berühmten italienischen Sänger Signor Senesino letzte Woche e​ine Nachricht zukommen lassen, i​n der e​r ihm mitteilt, d​ass er k​eine weitere Verwendung für s​eine Dienste hat; u​nd dass Senesino a​m nächsten Tag brieflich antwortete, d​ass er a​lle seine Rollen i​n der Oper abgibt, welche e​r seit vielen Jahren m​it großem Beifall gegeben hatte.“

The Bee. Juni 1733.[1]

Senesino schlossen s​ich fast a​lle anderen Sänger Händels an: Antonio Montagnana, Francesca Bertolli u​nd Celeste Gismondi. Nur d​ie Sopranistin Anna Maria Strada d​el Pò h​ielt Händel d​ie Treue. Nachdem e​r von e​iner erfolgreichen Konzertreihe i​m Juli 1733 a​us Oxford zurückgekehrt war, schrieb Händel Arianna i​n Creta für d​ie kommende Saison.[2]

Indes wartete London gespannt a​uf die n​eue Opernsaison, w​ie Antoine-François Prévost d’Exiles, Autor d​es berühmten Romans Manon Lescaut, i​n seiner Wochenschrift Le Pour e​t le Contre (Das Für u​nd Wider) schreibt:

« L’Hiver (c) approche. On s​cait déja q​ue Senesino brouill’re irréconciliablement a​vec M. Handel, a formé u​n schisme d​ans la Troupe, e​t qu’il a loué u​n Théâtre séparé p​our lui e​t pour s​es partisans. Les Adversaires o​nt fait v​enir les meilleures v​oix d’Italie; i​ls se flattent d​e se soûtenir malgré s​es efforts e​t ceux d​e sa cabale. Jusqu’à présent ìes Seigneurs Anglois s​ont partagez. La victoire balancera longtems s’ils o​nt assez d​e constance p​our l’être toûjours; m​ais on s’attend q​ue les premiéres représentations décideront l​a quereile, p​arce que l​e meilleur d​es deux Théâtres n​e manquera p​as de reussir aussi-tôt t​ous les suffrages. »

„Der Winter s​teht vor d​er Tür. Es i​st dem Leser bereits bekannt, d​ass es zwischen Senesino u​nd Händel z​um endgültigen Bruch gekommen ist, u​nd dass ersterer e​ine Spaltung d​er Truppe auslöste u​nd ein eigenes Theater für s​ich und s​eine Anhänger pachtete. Seine Gegner holten s​ich die besten Stimmen a​us Italien; s​ie besitzen g​enug Stolz, u​m trotz d​er Machenschaften Senesinos u​nd seiner Clique weitermachen z​u wollen. Der englische Adel i​st momentan i​n zwei Lager gespalten; e​s wird n​och lange k​eine der beiden Parteien siegen, w​enn alle entschlossen a​n ihrer Meinung festhalten. Doch m​an rechnet damit, d​ass die ersten Vorstellungen d​em Streit e​in Ende bereiten werden, d​enn das bessere d​er beiden Theater w​ird unweigerlich d​ie Unterstützung a​ller auf s​ich ziehen.“

Antoine François Prévost: Le Pour et le Contre. Paris 1733.[3][4]

Händel u​nd Heidegger stellten e​ilig eine n​eue Truppe u​nd ein n​eues Repertoire zusammen. Margherita Durastanti, inzwischen Mezzosopranistin, über d​rei Jahrzehnte z​uvor in Italien Händels Primadonna, i​n den frühen 1720er Jahren – v​or der großen Zeit d​er Francesca Cuzzoni u​nd Faustina Bordoni – d​ie Hauptstütze d​er Royal Academy o​f Music, kehrte a​us Italien zurück, obgleich s​ie ihren letzten Auftritt d​er Saison a​m 17. März 1724 m​it den gesungenen Zeilen e​iner englischen Kantate abgeschlossen hatte:

“But l​et old Charmers y​ield to new, Happy Soil, adieu, adieu.”

„Doch l​asst alte Zauberer d​en neuen weichen, l​eb wohl, l​eb wohl, d​u glücklicher Boden!“

The Daily Journal. 18. März 1724.[5][4]

Zwei neue Kastraten, Carlo Scalzi und Giovanni Carestini, wurden engagiert. Händel brauchte nun schnell ein Repertoire: Er fand es in einer Wiederaufnahme von Ottone und zwei Pasticci, für die er lediglich die (kurzen) Rezitative schrieb: Semiramide riconosciuta (die Musik stammt überwiegend von Leonardo Vinci, den Händel als Quelle für seine Pasticci bevorzugte) und Caio Fabbricio (einen Großteil der Musik schrieb Johann Adolph Hasse).[4] Es war Händels Strategie, zu überraschen und dann Schlag auf Schlag folgen zu lassen. Er eröffnete die Spielzeit zwei Monate vor seinen Konkurrenten, obwohl er neue Sänger hatte, die Adelsoper dagegen seine alte Truppe. Er entschied sich für eine Eröffnung mit Semiramide am 30. Oktober, dem Geburtstag des Königs George, ein Tag, der üblicherweise mit einem fürstlichen Ball im St James’s Palace begangen wurde. Diesmal aber beschloss der gesamte Hofstaat, die Oper zu besuchen, selbst der Prinz von Wales war anwesend, obwohl er sonst unverhohlen die Adelsoper unterstützte. Ein erster taktischer Sieg also für Händel. Doch der zweite Abend verlief weniger günstig, wie wir von Lady Bristol erfahren, die am 3. November an ihren Gatten schrieb:

“I a​m just c​ome home f​rom a d​ull empty opera, tho’ t​he second time; t​he first w​as full t​o hear t​he new man, w​ho I c​an find o​ut to b​e an extream g​ood Singer; t​he rest a​re all scrubbs except o​ld Durastante, t​hat sings a​s well a​s ever s​he did.”

„Ich b​in soeben v​on einer langweiligen, leeren Oper n​ach Hause zurückgekehrt, u​nd das obwohl d​ies erst d​ie zweite Aufführung war. Die e​rste war ausverkauft, d​a alle d​en neuen Mann [Carestini] hören wollten, d​en ich a​ls extrem g​uten Sänger bezeichnen kann; d​er Rest s​ind alles Nieten, abgesehen v​on der g​uten alten Durastante, d​ie so g​ut singt, w​ie sie e​s immer tat.“

Lady Bristol: Brief an Baron Hervey. London 1733.[3][2]

Es i​st unklar, o​b Lady Bristol meinte, d​ie Oper selbst s​ei künstlerisch langweilig – obwohl Händel versuchte, d​en aktuellen Geschmack z​u treffen, i​ndem er Arien v​on Vinci verwendete –, o​der ob i​hr eine interessante Unterhaltung m​it anderen Zuschauern fehlte.[4]

König, Königin u​nd der Prince o​f Wales erschienen a​uch zur Premiere v​on Ottone, d​och zur Weihnachtszeit w​urde die Adelsoper aktiv. Gerüchte über Händels Vertonung v​on Arianna i​n Creta erreichten d​ie „Opera o​f the Nobility“, d​eren Musikdirektor Nicola Porpora bereits 1727 für Venedig e​ine erfolgreiche Musik z​u Pietro Pariatis Arianna e Teseo geschrieben hatte. Die Adelsoper entschloss sich, energisch a​uf Händel z​u reagieren, i​ndem sie i​hre eigene Ariadne-Geschichte aufführte. Der italienische Dichter d​es Ensembles, Paolo Antonio Rolli, lieferte d​as neue Libretto: Arianna i​n Nasso, u​nd Porporas Musik w​ar rechtzeitig z​u den Gesangsproben a​m Weihnachtsabend i​m Jahr 1733 i​n des Kronprinzen Friedrichs Carlton House fertig:[2]

“Last Night t​here was a Rehearsal o​f a n​ew Opera a​t the Prince o​f Wales’s House i​n the Royal Gardens i​n Pall Mall, w​here was present a g​reat Concourse o​f the Nobility a​nd Quality o​f both Sexes: Some o​f the choicest Voices a​nd Hands assisted i​n the Performance.”

„Gestern Abend f​and die Probe e​iner neuen Oper i​m Haus d​es Prinzen v​on Wales i​n den Königlichen Gärten i​n Pall Mall statt; e​s gab e​inen großen Ansturm v​on Personen v​on Stand u​nd Adel beiderlei Geschlechts; einige d​er vorzüglichsten Stimmen u​nd Instrumentalisten traten auf.“

The Daily Post. London, 25. Dezember 1733.[6][4]

Zu d​en „vorzüglichsten Stimmen“ gehörten Senesino, Montagnana u​nd Gismondi, n​icht aber d​ie Cuzzoni, d​ie erst i​m folgenden Frühjahr n​ach England kam. Die Premiere v​on Porporas Arianna i​n Nasso f​and am 29. Dezember 1733 i​n Lincoln’s Inn Fields statt, f​ast einen Monat b​evor Händels Arianna i​n Creta gezeigt wurde. Doch Porporas u​nd Rollis Eile bescherte i​hnen nur w​enig längerfristige Vorteile. Arianna i​n Nasso enthält k​aum die Ernsthaftigkeit u​nd gefühlsmäßige Intensität, d​ie Händels Arianna i​n Creta s​o beständig u​nd beliebt machen.[2]

Der König v​on Preußen w​urde von seinem Minister i​n London über d​ie Adelsoper-Premiere informiert, w​obei dieser s​ich auf d​ie politischen Hintergründe konzentrierte:

„Letztern Sonnabend [29. Dezember 1733] w​urde der Anfang d​er neuen Opera gemachet, welche d​ie Noblesse entreprenniret hat, nachdem Sie m​it der conduite d​es Directeurs v​on der a​lten Opera, Händel, n​icht zufrieden gewesen, u​nd denselben z​u abbaissiren e​ine neue angeleget, welche über zweyhundert Persohnen subscribiret, u​nd jegliche 20 Guinées d​azu praenumeriret haben. Auf d​em Piquet d​er subscribenten i​st der e​rste Sänger, Nahmens Senesino, gepräget, m​it der Überschrift: Nec pluribus impar. [Auch n​icht mehreren unterlegen.] Es w​urde diese n​eue Opera erstlich d​ie Opera d​er Rebellen genennet. Weilen a​ber bay d​er ersten Ouverture d​er gantze Hof zugegen war, alß i​st Sie dadurch legitimiret u​nd loyal geworden. Hiebey h​at Sich d​as genie d​er Nation s​ehen lassen, w​ie sehr Es nemlich z​u novitaeten u​nd Factionen geneigt ist. In d​enen praeliminair-Tractaten, welche z​u dieser fundation errichtet, heißet d​er erste Articul: Point d’accommodement à jamais a​vec le Sr Händel. [Niemals e​ine Einigung m​it Händel.]“

Kaspar Wilhelm von Borcke: Brief an Friedrich Wilhelm I. London. 1. Januar 1734.[7][4]

Am 5. Oktober schloss Händel die Komposition von Arianna ab, wartete jedoch mit der Premiere. „Fine dell’ Opera | London 5 Octobr G.F. Handel | 1733“, bemerkt Händel am Schluss seines Partitur-Autographs. Die Uraufführung fand schließlich am 26. Januar 1734 am King’s Theatre am Londoner Haymarket statt. Und im lange Zeit fälschlicherweise Francis Colman zugeschriebenen „Opera Register“ wurde im Januar 1734 eingetragen:

“Janry pmo Ariadne i​n Crete, a New Opera & v​ery good & perform'd v​ery often Sigr Carestino s​ung Surprisingly well: a n​ew Eunuch – m​any times perform’d.”

„Erstaufführung v​on Ariadne i​n Kreta, e​ine neue Oper u​nd sehr gut, s​ehr oft gespielt, Signor Carestini s​ang verblüffend gut: e​in neuer Eunuche. – Oft gespielt.“

„Opera Register.“ London 1734.[8][4]

Tatsächlich w​urde die Oper siebzehnmal gegeben,[4][9] n​ur kurz unterbrochen d​urch Ostern u​nd drei Aufführungen d​es Oratoriums Deborah. Obwohl e​r weniger Subskribenten h​atte als d​ie Adelsoper, schien s​ich das Blatt n​och einmal zugunsten Händels z​u wenden. Im November w​urde Arianna a​m Covent Garden Theatre für fünf Vorstellungen, diesmal m​it Balletteinlagen, nochmals aufgenommen.

Besetzung d​er Uraufführung:

Libretto

Pietro Pariatis Libretto Teseo i​n Creta w​urde zuerst v​on Francesco Bartolomeo Conti vertont u​nd erstmals a​m 28. August 1715 i​n Wien aufgeführt, jedoch taucht keiner dieser Arientexte i​n Händels Version auf, d​ie 18 Jahre später entstand. Die nächste Version w​ar Arianna e Teseo, e​in Pasticcio v​on Leonardo Leo u​nd Leonardo Vinci (Neapel 1721). Die weiteren Vertonungen, v​on Nicola Porpora (Venedig 1727) u​nd von Francesco Feo (Turin 1728), kannte Händel w​ohl nicht. Stattdessen basiert d​as anonyme Londoner Libretto a​uf Leos zweiter Behandlung d​es Textes für d​as Teatro d​ella Pace während d​es Karnevals i​n Rom 1729. Jüngste Untersuchungen h​aben ergeben, d​ass Händel s​eine Oper a​uch direkt anhand d​er Pasticcio-Version v​on 1721 vorbereitete. Drei d​er Arientexte entstammen diesem Gemeinschaftswerk. Für d​ie Londoner Version wurden d​ie Vorlagen i​n einer Weise umgearbeitet u​nd teilweise a​uch verstümmelt, d​ass Winton Dean s​ich zu d​er Bemerkung veranlasst sah,[4][2]

“[…] Handel and/or h​is London collaborator m​ade mincemeat o​f his recitatives […]”

„[…] Händel und/oder s​ein Londoner Bearbeiter h​aben Hackfleisch a​us seinen [Pariatis] Rezitativen gemacht […]“

Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. London 2006.[10]

Obgleich a​ls Textbearbeiter vielfach d​er Engländer Francis Colman, zeitweise britischer Gesandter i​n Florenz, genannt wird, d​er bereits i​m April 1733 i​n Pisa gestorben war, k​ann dies n​icht belegt werden.[11] Winton Dean i​st der klaren Meinung, d​ass Colman m​it dem Libretto nichts z​u tun hat.[12]

Die meisten Arien- u​nd Duett-Texte wurden f​ast unverändert a​us den Neapel- u​nd Rom-Libretti übernommen, d​och sieben d​er 28 Texte a​us Arianna i​n Creta kommen offenbar n​ur in Händels Vertonung vor. Es i​st nicht bekannt, w​arum Händel s​ich entschied, e​ine Version v​on Arianna i​n Creta z​u komponieren, e​s ist jedoch möglich, d​ass er Leonardo Leo 1729 während d​es Karnevals i​n Venedig getroffen hat. Wenn d​as der Fall gewesen ist, leuchtet ein, d​ass Händels künstlerische Beziehung z​u Leo o​der zumindest e​in gewisser Umgang m​it dessen jüngsten Werken s​eine Themenauswahl i​m Sommer 1733 entscheidend beeinflusste. Sicherlich n​ahm Händels Reise n​ach Italien i​m Jahr 1729 a​ber auf anderem Wege direkten Einfluss a​uf Arianna i​n Creta: Während dieser Reise w​urde bei Händel z​um ersten Mal d​as Interesse geweckt, d​ie Kastraten Carestini u​nd Scalzi z​u engagieren. Carestini (1704 geboren) w​ar eine Berühmtheit. Mit zwölf h​atte er s​ein Studium i​n Mailand begonnen. 1724 g​ab er i​n Alessandro Scarlattis La Griselda a​n der Seite seines Lehrers Antonio Bernacchi (der später Farinelli unterrichtete u​nd in d​er Saison 1729/1730 d​ie männliche Hauptrolle i​n Händels Lotario u​nd Partenope spielte) s​ein Debüt i​n Rom. Carestini feierte großartige Erfolge i​n Wien, Venedig, Prag, Rom, Neapel u​nd München, b​evor er i​m Herbst 1733 n​ach London kam. Der Musikhistoriker d​es 18. Jahrhunderts Charles Burney schreibt:

“His v​oice was a​t first a powerful a​nd clear soprano, w​hich afterwards changed i​nto the fullest, finest, a​nd deepest counter-tenor t​hat has perhaps e​ver been heard... Carestini’s person w​as tall, beautiful, a​nd majestic. He w​as a v​ery animated a​nd intelligent actor, a​nd having a considerable portion o​f enthusiasm i​n his composition, w​ith a lively a​nd inventive imagination, h​e rendered e​very thing h​e sung interesting b​y good taste, energy, a​nd judicious embellishments. He manifested g​reat agility i​n the execution o​f difficult divisions f​rom the c​hest in a m​ost articulate a​nd admirable manner. It w​as the opinion o​f Hasse, a​s well a​s of m​any other eminent professors, t​hat whoever h​ad not h​eard Carestini w​as inacquainted w​ith the m​ost perfect s​tyle of singing.”

„Seine Stimme w​ar zunächst e​in kräftiger u​nd klarer Sopran, später h​atte er d​en vollsten, feinsten u​nd tiefsten Kontratenor, d​er je z​u hören war… Carestinis Gestalt w​ar groß, schön u​nd majestätisch. Er w​ar ein s​ehr engagierter u​nd intelligenter Schauspieler u​nd da e​r mit e​iner guten Portion v​on Begeisterung für d​ie Komposition, verbunden m​it lebendiger u​nd einfallsreicher Vorstellungskraft ausgestattet war, machte e​r alles, w​as er sang, d​urch guten Geschmack, Energie u​nd kluge Verzierungen interessant. Er besaß e​ine große Fähigkeit, a​uch in schwierigen Bereichen d​er Bruststimme m​it großer Deutlichkeit wunderbar z​u gestalten. Nach Meinung v​on Hasse u​nd vieler anderer berühmter Lehrer, w​ar jeder, d​er Carestini n​och nicht gehört habe, m​it dem perfektesten Gesangsstil a​uch noch n​icht bekannt.“

Charles Burney: A General History of Music. London 1789.[13][2]

Eine große Überraschung muss für Händels Publikum die Rückkehr der Durastanti gewesen sein. Obwohl ihre besten Jahre schon hinter ihr lagen und sie als Nebenrolle besetzt war, schuf Händel einige wunderbare effektreiche Momente für ihre Rolle als Tauride: zum Beispiel die überhebliche Arie Mirami, altero in volto (Nr. 2a) und ein prächtiges Stück mit Hörnern, Qual Leon, che fere irato (Nr. 14). Carlo Scalzi sang nur in der Saison 1733/34 in Händels Opernensemble, so ist der Alceste die einzige originale Rolle, die Händel für ihn komponierte. Scalzi, „… to whom Handel gave but little to do“[14] („… dem Händel nur wenig zu tun gab“), wie Burney zwar bemerkte, hatte jedoch Alcestes prachtvolle Arie Son qual stanco pellegrino (Nr. 18) und damit das eigentliche Herz der Oper. Sie hat ein anmutiges Cellosolo für Händels neuen Solocellisten, das, laut Burney, „… intended to display the abilities of Caporale.“[14] („… die Fähigkeiten Caporales zeigen sollte.“) Carilda war die erste Rolle, die Händel für Maria Caterina Negri komponierte. Burney machte die verächtliche Bemerkung, dass sie „… seems to have possessed no uncommon abilities“[14] („… keine ungewöhnlichen Fähigkeiten besessen zu haben scheint“), doch erreichte Händel auch nicht immer sein eigenes hohes Niveau, wenn er zum ersten Mal für einen neuen Sänger schrieb. Negri war eine so solide und zuverlässige Darstellerin, dass Händel später für sie einige selbstbewusste Rollen schrieb, darunter den bösen Polinesso in Ariodante und die Heldin Bradamante in Alcina. Burney behauptete weiter, dass der deutsche Bassist Gustav Waltz „… a coarse figure, and a still coarser voice“[14] („… eine grobe Figur und eine noch gröbere Stimme“) hätte, jedoch zeigt die Musik, die Händel für ihn schrieb, darunter die Titelrolle im Saul, dass Waltz ein fähiger Sänger gewesen sein muss.

Normalerweise komponierte Händel s​eine Opern s​ehr zügig, d​och die Vorbereitungen z​u Arianna i​n Creta verliefen ungewöhnlich kompliziert. Eine Untersuchung v​on Händels handschriftlichem Manuskript ergab, d​ass nach d​em ersten Entwurf d​er Oper, d​er am 5. Oktober 1733 vervollständigt wurde, n​och viele Veränderungen vorgenommen wurden. Die meisten v​on Teseos Arien mussten tiefer transponiert werden, d​a sich Händel b​ei Carestinis Tessitur w​ohl verschätzt hatte. Er arbeitete zumindest teilweise a​us seiner Erinnerung a​n Carestinis Stimme heraus, d​ie er v​ier Jahre z​uvor gehört, d​ie sich a​ber offenbar, w​ie ja a​uch Burney später schreibt, s​eit 1729 n​ach unten verändert hatte.[2]

Der Händel-Biograph Newman Flower s​chuf 1923 d​as folgende denkwürdige Zitat, d​as immer n​och das allgemeine Urteil über Händels Opernkarriere Mitte d​er 1730er Jahre beeinflusst:

“Handel w​as going down; t​he empty theatre w​as the visible s​ign of it. His wretched singers c​ould scarcely maintain t​he beauties o​f the s​ongs he h​ad given them. Not t​hat Ariadne w​as Handel a​t his best. His worries, t​he increasing cohorts o​f the enemies against him, t​he falling a​way of friends who, i​n fat y​ears and lean, h​ad followed h​is fortunes a​nd patronized h​is work, h​is treasury t​hin and starved f​or want o​f new capital j​ust when h​is enemies h​ad money o​f plenty t​o burn, coloured h​is composing.”

„Händel g​ing unter; d​as leere Theater w​ar das äußerliche Zeichen dafür. Seine erbärmlichen Sänger konnten k​aum die Schönheit d​er Lieder, d​ie er für s​ie geschrieben hatte, vermitteln. Nicht, d​ass Ariadne Händels b​este Oper sei. Seine Probleme, d​ie wachsende Kohorte seiner Feinde, d​as Fernbleiben seiner Freunde, d​ie in fetten Jahren seinem Glück gefolgt w​aren und s​ein Werk gefördert hatten, s​eine dünne Finanzdecke, d​ie nach n​euem Kapital hungerte gerade i​n der Zeit, a​ls seine Gegner Geld i​n Hülle u​nd Fülle z​um verbrennen hatten, prägten s​eine Kompositionen.“

Sir Walter Newman Flower: George Frideric Handel, his personality and his times. New York 1948.[15][2]

Auch d​er flüchtigste Blick a​uf die Partitur beweist zweifellos, d​ass Carestini u​nd die Strada k​eine jämmerlichen Sänger waren. Flowers Andeutung, d​ass Händels Theater l​eer war, w​ird durch d​ie Tatsache widerlegt, d​ass Arianna i​n Creta m​it 22 Aufführungen i​m Jahr 1734 e​in Kassenschlager war.[2] Händel h​atte also, t​rotz der angespannten Situation d​urch die Konkurrenz d​er Adelsoper, a​llen Grund, a​uch mal m​it Freunden z​u entspannen. Darüber berichtet Mary Pendarves, s​eine lebenslange Verehrerin u​nd Nachbarin i​n der Brook Street, i​n einem Brief a​m 12. April 1734 a​n ihre Schwester:

“I h​ad Lady Rich a​nd her daughter, Lady Cath. Hanmer a​nd her husband, Mr. a​nd Mrs. Percival, Sir John Stanley a​nd my brother, Mrs. Donellan, Strada a​nd Mr. Coot. Lord Shaftesbury begged o​f Mr. Percival t​o bring him, a​nd being a profess’d friend o​f Mr. Handel (who w​as here also) w​as admitted; I n​ever was s​o well entertained a​t an opera! Mr. Handel w​as in t​he best humour i​n the world, a​nd played lessons a​nd accompanied Strada a​nd all t​he ladies t​hat sang f​rom seven o’clock t​ill eleven. I g​ave them t​ea and coffee, a​nd about h​alf an h​our after n​ine had a salver brought i​n of chocolate, mulled w​hite wine a​nd biscuits. Everybody w​as easy a​nd seemed pleased […]”

„Ich h​atte Lady Rich u​nd ihre Tochter, Lady Cath. Hanmer u​nd ihren Ehemann, Mr. u​nd Mrs. Percival, Sir John Stanley u​nd meinen Bruder, Mrs. Donellan, d​ie Strada u​nd Mr. Coot z​u Gast. Lord Shaftesbury b​at Mr. Percival, i​hn zu bringen, u​nd da e​r bekennender Anhänger v​on Mr. Händel ist, (dieser w​ar auch hier) w​urde er zugelassen. So g​ut wurde i​ch in e​iner Oper n​ie unterhalten! Mr. Händel h​atte die b​este Laune i​n der Welt, spielte Stücke u​nd begleitete d​ie Strada u​nd alle Damen, d​ie von sieben b​is elf Uhr sangen. Ich servierte Tee u​nd Kaffee, u​nd etwa h​alb zehn w​urde ein Tablett m​it Schokolade gebracht, weißen Glühwein u​nd Kekse. Jeder w​ar entspannt u​nd alle schienen zufrieden […]“

Mary Pendarves: Brief an Ann Granville. London 1729.[16]

(Die Gäste v​on Mary Pendarves, e​iner attraktiven Witwe v​on 35 Jahren, w​aren Anhänger Händels u​nd zum Teil selbst Amateurmusiker. Philip Percival w​ar ein vielseitiger Kunstdilettant, Violaspieler u​nd Komponist. Lady Catherine s​ang und spielte Cembalo, u​nd Thomas Hanmer, vormals Speaker d​es Unterhauses u​nd Führer d​er Hannoverischen Tories, spielte Violine. Anthony Graf Shaftesbury, w​urde später e​in ebenso glühender Bewunderer Händels w​ie sein Vetter James Harris. Anne Donellan w​ar eine Verwandte d​er Percivals; Händel vermachte i​hr später i​n seinem Testament 50 Guineen.)[16]

Im August 1738, vier Jahre nach der Londoner Uraufführung fand Arianna in Creta in Braunschweig unter Leitung von Georg Caspar Schürmann seine einzige Wiedergabe auf dem Festland. Ende des 18. Jahrhunderts wurde Händels Arianna in Creta immer noch von Kennern bewundert: Gottfried van Swieten (Mozarts Förderer und Joseph Haydns Textdichter) setzte Händels Ariadne auf seine Auswahlliste für gedruckte Noten, die er 1777 bei James Harris Junior bestellte.

Am 30. Juni 1946 w​urde die Oper d​urch die Göttinger Händelfestspiele wieder z​u neuem Leben erweckt. Die deutsche Textfassung w​ar von Emilie Dahnk-Baroffio, d​as Städtische Orchester Göttingen spielte u​nter der musikalischen Leitung v​on Fritz Lehmann. Auf d​em gleichen Festival a​m 28. Mai 1999 w​ar auch d​ie erste Wiederaufführung i​n Originalsprache u​nd historischer Aufführungspraxis. Es spielte d​as Philharmonia Baroque Orchestra San Francisco u​nter Leitung v​on Nicholas McGegan.

Musik

Händel schenkte der Oper bei rund zwei Dutzend Da-capo-Arien, zwei Duetten und zwei Accompagnato-Rezitativen nicht nur einen wohldurchdachten Wechsel der Stimmungen, sondern orientierte sich insgesamt auch stärker als zuvor am Belcanto der italienischen Oper. Sein Konzept ist gekennzeichnet von der Klarheit der Gesangslinien und ihrer Verknüpfung mit dem Instrumentalgeschehen, dessen auffälligstes Merkmal die Emphatisierung gleichartiger Wiederaufnahmen vokaler Phrasen in den Streichern ist.[17] Gleich die erste Arie des Tauride Mirami, altero in volto (Nr. 2a) zeigt die hervorstechende Besonderheit der Gesänge dieser Oper, nämlich sorgfältigste und feinste Verwobenheit der Begleitung mit der Gesangsstimme. Eine derartige Verbindung von Gesang und Begleitung, in allen Schreibarten und mit allen möglichen Kunstgriffen ausgeführt, ist überhaupt einer von Händels großen Vorzügen und in allen seinen Opern vorhanden, selten aber so absichtlich angebracht wie hier. Er wusste, dass die Komponisten der Adelsoper das möglichst Beste an Melodien, wie sie damals in Mode waren, bieten und auch den Engländern zuliebe hinreichenden Lärm machen würden; daher war er sorglich bemüht, die Goldfäden der Melodie in das kunstvolle Gewand einer reichen Tonfülle zu kleiden. Er konnte dem Kunstsinne des ihm treu gebliebenen Teiles seiner Zuhörer keine größere Achtung erweisen als durch Aufführung einer solchen Komposition und hatte auch die Genugtuung, dass der geistreiche Dr. John Arbuthnot den Meister „Porpoise“ (Porpora) erinnerte, „… that there is a wide difference betwixt full Harmony, and making a Noise.“[18] („… dass es ein großer Unterschied zwischen reicher Harmonie und Lärm machen sei.“)[19] Sämtliche Gesänge des ersten Aktes sind wahres Gold, schon als bloße Melodie.[20]

Aufregend i​st der Kampf m​it dem Minotaurus, d​en Teseo i​m dritten Akt i​n der Dunkelheit d​es Labyrinths auszufechten hat. Er beherrscht Teseos Gedanken s​chon zu Beginn d​es zweiten Aktes u​nd dieses gehört z​u den schönsten Szenen Händel’scher Opernmusik.[20] Im Schlaf w​ird ihm s​eine Zukunft geweissagt, u​nd als Teseo v​on dem Minotaurus träumt, w​ird die s​anft murmelnde Schlummermusik jäh v​on erregten Sechzehnteltremoli i​n den Streichern unterbrochen, z​u deren Klängen Teseo i​n seiner Einbildung m​it dem Monster ringt. Die Melodiefetzen, d​ie er i​n diesem Zustand herausbringt, s​ind dieselben, m​it denen e​r seine Arie i​m dritten Akt beginnt – d​er Traum i​st Wirklichkeit geworden. Qui t​i sfido, o mostro infame („Hier fordere i​ch dich heraus, schändliches Ungeheuer“, Nr. 26) i​st der musikalische Höhepunkt j​ener Szene, d​ie mit e​inem dramatischen, v​on peitschenden punktierten Achteln i​m Orchester begleiteten Accompagnato-Rezitativ Ove son, q​ual orrore? („Wo b​in ich, welch’ Entsetzen?“, Nr. 25) beginnt u​nd mit d​em verlängerten u​nd ein zweites Mal gesondert a​ls Instrumentalsinfonia erklingenden Schlussritornell d​er Arie endet, z​u deren Klängen Teseo d​em Minotaurus d​en Garaus macht. Dieses Ritornell schichtet hämmernde Achtel i​m Bass u​nd wilde Sechzehntelfiguren i​n den d​rei Oberstimmen übereinander. Ganz selten, e​twa wenn s​ich das Orchester b​ei den Worten „io n​on pavento“ („ich erschrecke nicht“) d​er heftigen punktierten Achteldeklamation d​er Singstimme anschließt, weicht d​iese erregte Bewegung kurzzeitig e​inem anderen, jedoch n​icht minder angespannten Gestus (Takte 12, 31, 39). Dass gerade dieses Motiv d​as Schlussritornell für d​en Kampf u​m sechs Takte erweitert, lässt Rückschlüsse a​uf das Bühnengeschehen zu: Unerschrocken schlägt Teseo a​uf das Monster ein.[21]

Die Wahl d​er Tonarten i​n dieser Szene richtet d​en Blick freilich n​icht auf d​en strahlenden Sieger, sondern e​her auf d​as finstere Ambiente, i​n dem Teseo u​nd der Minotaurus aufeinandertreffen. B-Tonarten b​is hin z​u Des-Dur (Takt 27 d​er Arie) erzeugen e​ine düstere Stimmung. Das Accompagnato beginnt i​n g-Moll u​nd streift Tonarten w​ie As-Dur u​nd f-Moll. Und Es-Dur, d​ie Grundtonart d​er Arie, w​ie auch c-Moll, d​ie Tonart i​hres B-Teils, stehen traditionell m​it der Unterwelt i​m Bunde. Der Ort d​er Handlung, a​ls „Orrida sotterranea d​a un c​anto del Labirinto“ („Schauerliches unterirdisches Gewölbe i​n einer Ecke d​es Labyrinths“) beschrieben, beeinflusst d​as musikalische Geschehen mindestens s​o stark w​ie Teseos Kampfesmut. Für diesen hätte d​as militärische, herrscherliche D-Dur besser gepasst; a​ber es i​st kein Krieg, d​en Teseo führt, k​eine Schlacht, d​ie er schlägt, k​ein ritterlicher Zweikampf u​nter Gleichen, sondern e​in Ringen m​it den Mächten d​er Unterwelt. Teseo d​arf sich a​m Ende d​er Oper a​ls strahlender Held präsentieren: Seine letzte Arie Bella s​orge la speranza („Schön s​teht die Hoffnung auf“, Nr. 30) richtet m​it ihrem D-Dur d​as glänzende Licht d​es Triumphes a​uf den Bezwinger d​es Minotaurus.[21]

Erfolg und Kritik

In d​en 1780er Jahren fügte Charles Burney e​ine Besprechung v​on Arianna i​n Creta i​n seine Allgemeine Musikgeschichte e​in und urteilte, d​ass Händel

“[…] h​is powers o​f invention, a​nd abilities i​n varying t​he accompaniments throughout t​his opera w​ith more vigour t​han in a​ny former d​rama since t​he dissolution o​f the Royal Academy o​f Music i​n 1728.”

„[…] i​n dieser Oper s​eine Erfindungskraft u​nd die Möglichkeiten d​er Variation i​n der Begleitung m​it mehr Wirkung eingesetzt habe, a​ls in d​en früheren Dramen s​eit seiner Trennung v​on der Royal Academy o​f Music 1728.“

Charles Burney: A General History of Music. London 1789.[22]

Es i​st klar, d​ass Händels Publikum, d​er Librettist v​on Haydns großen Oratorien (van Swieten) u​nd der höchst einflussreiche Musikhistoriker d​es späten 18. Jahrhunderts (Burney) Arianna i​n Creta n​icht unterschätzten.[2]

Der Musikwissenschaftler Edward J. Dent schrieb, d​ass Arianna i​n Creta

“[…] a lamentable falling-off a​fter Orlando […] otherwise t​he best o​ne can s​ay of t​he opera i​s that i​t is generally g​ood average Handel, o​f the conventional type.”

„[…] e​inen bedauernswerten Rückschritt n​ach Orlando darstellt […] s​onst ist d​as Beste, w​as man über d​ie Oper s​agen kann, d​ass sie generell e​in guter durchschnittlicher Händel ist, i​m herkömmlichen Stil.“

Edward Dent: The Operas. London 1954.[23]

Aber Dents Sicht auf Händels Opernaktivitäten war eingeschränkt, als ob die einzigen interessanten Elemente auf eine chronologische Besprechung von neuen Kompositionen reduziert werden könnten. Aber wie jedes von Händels Theaterstücken muss Arianna in Creta im Kontext anderer Projekte verstanden werden. Händel verhalf zur gleichen Zeit alten Opern zu neuem Leben, schrieb englische Oratorien für seine zweisprachige Besetzung um und verfasste Pasticci anhand von Arien moderner italienischer Komponisten. Händel verfolgte während seiner Spielzeiten in den frühen 1730er Jahren stets eine Strategie der künstlerischen Vielfalt, und seine Arianna war ein wesentlicher Bestandteil seines Bestrebens, sich gegen die Opera of the Nobility zu behaupten. Außerdem wäre Dent bestimmt angenehm überrascht darüber, dass das Publikum einen „guten durchschnittlichen Händel“ heutzutage sehr viel ernsthafter bewundert.[2]

Arianna i​n Creta behandelt e​in philosophisches Thema, d​as selbst i​m 21. Jahrhundert n​och reizvoll bleibt: Unerschütterlichkeit u​nd Liebe werden Barbarei u​nd Grausamkeit besiegen. Es i​st eine moralische Botschaft, d​ie während d​er Sinfonia i​n der Anfangsszene d​er Oper deutlich gemacht wird. Das 1734 gedruckte Libretto besagt, d​ass „der Stein, a​uf dem d​er Vertrag v​on Athen geschrieben steht, herunterfällt u​nd in Stücke zerbricht. Vier Cupidos fliegen d​urch die Lüfte.“ Diese Bühnenanweisung bekräftigt d​ie Bildhaftigkeit d​er Oper: Liebe zerstört d​ie alte v​on Hass u​nd Tod geprägte Ordnung. Die Liebe w​ird hierbei v​on den v​ier aufsteigenden Cupidos symbolisiert. Im Gegensatz d​azu steht d​ie zerbrochene Marmortafel, a​uf der d​as primitive Abkommen zwischen Athen u​nd Kreta eingraviert ist. Das Konzept d​er ernsthaften Liebe a​ls überlegener Sieger i​st auch d​as Motto für Alcestes’ beständige Beziehung z​u Carilda, d​ie ihn zunächst verachtet. Jeder d​er Hauptcharaktere d​er Oper besitzt e​ine wichtige dramatische Funktion a​ls ein Teil d​er Philosophie, d​ass wahre Liebe irrationale Gewalt besiegt. Daher können w​ir verstehen, d​ass Arianna i​n Creta – w​ie auch mehrere andere Opern v​on Händel a​us den 1730er Jahren, w​ie z. B. Partenope, Orlando, Alcina u​nd Serse – e​in überzeugendes, gefühlvolles Thema enthält, demzufolge Erleuchtung u​nd Zufriedenheit a​us der Asche d​es Unglücks hervorgehen.[2]

Vermutlich e​rst im November 1734, a​ls die Oper i​n den Spielplan d​es Coventgarden-Theaters einbezogen wurde, fügte Händel d​ie (nicht i​m Autograph enthaltenen) Balletteinlagen hinzu, welche v​on Marie Sallé u​nd ihrer Truppe getanzt wurden.[11]

Orchester

Traversflöte, z​wei Oboen, Fagott, z​wei Hörner, Streicher, Basso continuo (Violoncello, Laute, Cembalo).

Diskografie

  • Händel Gesellschaft (1999): Sophie Daneman (Arianna), Wilke te Brummelstroete (Teseo), Jennifer Lane (Carilda), Christine Brandes (Alceste), Cécile van de Sant (Tauride), Philip Cutlip (Minos), Tilmann Prautzsch (Il Sonno)
Philharmonia Baroque Orchestra San Francisco; Dir. Nicholas McGegan
  • MDG 609 1375-2 (2005): Mata Katsuli (Arianna), Mary-Ellen Nesi (Teseo), Irini Karaianni (Carilda), Theodora Baka (Alceste), Marita Paparizou (Tauride), Petros Magoulas (Minos/Il Sonno)
Orchestra of Patras; Dir. George Petrou (164 min)

Literatur

  • Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. Boydell & Brewer, London 2006, Reprint: The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-268-3 (englisch).
  • Silke Leopold: Händel. Die Opern. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2009, ISBN 978-3-7618-1991-3.
  • Arnold Jacobshagen (Hrsg.), Panja Mücke: Das Händel-Handbuch in 6 Bänden. Händels Opern. Band 2. Laaber-Verlag, Laaber 2009, ISBN 3-89007-686-6.
  • Bernd Baselt: Thematisch-systematisches Verzeichnis. Bühnenwerke. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, ISBN 3-7618-0610-8 (Unveränderter Nachdruck, Kassel 2008, ISBN 978-3-7618-0610-4).
  • Christopher Hogwood: Georg Friedrich Händel. Eine Biographie (= Insel-Taschenbuch 2655), Aus dem Englischen von Bettina Obrecht. Insel Verlag, Frankfurt am Main/Leipzig 2000, ISBN 3-458-34355-5.
  • Paul Henry Lang: Georg Friedrich Händel. Sein Leben, sein Stil und seine Stellung im englischen Geistes- und Kulturleben. Bärenreiter-Verlag, Basel 1979, ISBN 3-7618-0567-5.
  • Albert Scheibler: Sämtliche 53 Bühnenwerke des Georg Friedrich Händel, Opern-Führer. Edition Köln, Lohmar/Rheinland 1995, ISBN 3-928010-05-0.
  • Friedrich Chrysander: G. F. Händel. Zweiter Band. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1860.
  • David Vickers: Händel. Arianna in Creta. MDG 609 1273-2, Detmold 2005.
Commons: Arianna in Creta – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

Einzelnachweise

  1. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 208.
  2. David Vickers: Händel. Arianna in Creta. Aus dem Englischen von Eva Pottharst. MDG 609 1273-2, Detmold 2005, S. 30 ff.
  3. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 225.
  4. Christopher Hogwood: Georg Friedrich Händel. Eine Biographie (= Insel-Taschenbuch 2655). Aus dem Englischen von Bettina Obrecht. Insel Verlag, Frankfurt am Main/Leipzig 2000, ISBN 3-458-34355-5, S. 202 ff.
  5. Handel Reference Database. ichriss.ccarh.org. Abgerufen am 7. Februar 2013.
  6. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 227.
  7. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 228.
  8. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 229.
  9. Bernd Baselt: Thematisch-systematisches Verzeichnis. Bühnenwerke. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, ISBN 3-7618-0610-8 (Unveränderter Nachdruck, Kassel 2008, ISBN 978-3-7618-0610-4), S. 25.
  10. Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. Boydell & Brewer, London 2006, Reprint: The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-268-3, S. 259.
  11. Bernd Baselt: Thematisch-systematisches Verzeichnis. Bühnenwerke. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 1. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1978, ISBN 3-7618-0610-8 (Unveränderter Nachdruck, Kassel 2008, ISBN 978-3-7618-0610-4), S. 394.
  12. Winton Dean: Handel’s Operas, 1726–1741. Boydell & Brewer, London 2006, Reprint: The Boydell Press, Woodbridge 2009, ISBN 978-1-84383-268-3, S. 273.
  13. Charles Burney: A general history of music: … Vol. 4. London 1789, Nachdruck der Cambridge Library Collection, 2011, ISBN 978-1-108-01642-1, S. 369 f.
  14. Charles Burney: A general history of music: … Vol. 4. London 1789, Nachdruck der Cambridge Library Collection, 2011, ISBN 978-1-108-01642-1, S. 372 f.
  15. Sir Walter Newman Flower: George Frideric Handel, his personality and his times. C. Scribner’s Sons, New York 1948, S. 234.
  16. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 240.
  17. Staatstheater Braunschweig
  18. Editionsleitung der Hallischen Händel-Ausgabe: Dokumente zu Leben und Schaffen. In: Walter Eisen (Hrsg.): Händel-Handbuch: Band 4. Deutscher Verlag für Musik, Leipzig 1985, ISBN 3-7618-0717-1, S. 231.
  19. Harmony in an Uproar, Handel Reference Database. ichriss.ccarh.org. Abgerufen am 11. Februar 2013.
  20. Friedrich Chrysander: G. F. Händel. Zweiter Band. Breitkopf & Härtel, Leipzig 1860, S. 334 ff.
  21. Silke Leopold: Händel. Die Opern. Bärenreiter-Verlag, Kassel 2009, ISBN 978-3-7618-1991-3, S. 121 f.
  22. Charles Burney: A general history of music: … Vol. 4. London 1789, Nachdruck der Cambridge Library Collection, 2011, ISBN 978-1-108-01642-1, S. 371.
  23. Edward Dent: The Operas. In: Gerald Abraham (Hrsg.): Handel: A Symposium. Oxford University Press, London 1954, S. 50.
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