Wildes Stiefmütterchen in der Medizingeschichte
Im 15. und 16. Jahrhundert wurde das Wilde Stiefmütterchen freisam[1], freischem krut[2], dreifaltigkeit blümlin[3] oder stiefmuoter[4] genannt.
In der Variation freischlich wurde der Name freisam auch in der Pariser Physica-Handschrift der Hildegard von Bingen aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts verwendet.[5] Das Stiefmütterchen wurde in den Hildegard-Texten nicht erwähnt. Matthias Lexer deutete in seinem Mittelhochdeutschen Handwörterbuch (Bd. III, Sp. 497) vreise als etwas, das Gefahr und Verderben bringt, grausam und schrecklich ist. Ähnlich interpretierten die Brüder Grimm im Deutschen Wörterbuch die Wörter freissam und freissamkeit. Max Höfler führte unter dem Stichwort frais viele Krankheiten auf, die als gemeinsames Charakteristikum haben, dass sie heftig und hitzig sind.[6]
Unter dem Namen freisam wurde das Stiefmütterchen erstmals in dem Michael Puff aus Schrick zugeschriebenen Büchlein von den ausgebrannten Wässern erwähnt. Folgende Wirkungen wurden darin für das aus Stiefmütterchen hergestellte Destillat angegeben: Wirkt gegen „unnatürliche Hitze“, die in jungen Kindern „überläuft“ und sie „bekrenckt“. „Lüftet Dämpfigkeit“ um Herz und Brust. Wirkt gegen „Geschwulst“ um Herz, Brust und Lunge bei Jungen und bei Alten. Wirkt allgemein gegen „böse Hitze“. Aus den Puff-Texten ist nicht ersichtlich, welcher Teil der Pflanze (Blüte, Kraut und/oder Wurzel) zur Herstellung des Destillats verwendet wurde.[7][8][9]
Im Mainzer Gart der Gesundheit vom Jahre 1485 bildete Erhard Reuwich das Stiefmütterchen unter den Namen jacea freischem krut erstmals naturgetreu ab. Der Text beschrieb die Herstellung eines Destillats aus dem Kraut ohne Wurzeln und übernahm die Indikationen aus dem Puff’schen Destillierbüchlein.[10] Darüber hinaus wurden das Destillat und die Abkochung aus dem Kraut als besonders wirksam bei Hauterkrankungen empfohlen.[11] Im Hortus sanitatis wurde das Wilde Stiefmütterchen unter dem Namen Jacea abgehandelt.[12]
In seinem 1500 in Straßburg erschienenen Kleinen Destillierbuch interpretierte Hieronymus Brunschwig freissam als hitzige Hauterkrankung.[13][14]
Bis ins 20. Jahrhundert wurde das Wilde Stiefmütterchen in pharmakologischen Werken als Freisamkraut zur Behandlung von Hauterkrankungen empfohlen. 16. Jahrhundert: [15][16][17][18] 17. – 18. Jahrhundert: [19][20] 19. Jahrhundert: [21][22][23][24][25][26][27][28][29][30] 20. Jahrhundert: [31]
Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts behandelte der Mainzer Arzt Karl Strack den Milchschorf der Kinder durch innere Gabe des Pulvers vom Kraut des Wilden Stiefmütterchens. Als „blutreinigendes“ Mittel (Antidyskraticum) wurde das Stiefmütterchen bei Hauterkrankungen bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts verwendet.[32]
Aus pharmakologischer Sicht schrieb dazu Theodor Husemann:
„Antidyskratische Mittel, Antidyskratica. ... Herba Violae tricoloris, Herba Jaceae; Stiefmütterchen, Freisamkraut ... Das Freisamkraut schmeckt schleimig, schwach bitter, kaum kratzend und enthält außer etwas Violin nach den Untersuchungen von Mandein Salicylsäure. Es ist im vorigen Jahrhundert von Strack gegen Impetigo faciei empfohlen und wird auch jetzt bei Ekzem u. a. Hautaffektionen im kindlichen Lebensalter besonders im Volke angewendet. Man kann es zu 1,0-5,0 mehrmals täglich in Pulvern, oder zweckmäßiger in Abkochung mit Milch oder Wasser (1:10) anwenden. Auch äußerlich hat ein daraus bereitetes Extrakt in Salbenform bei chronischen Hautleiden Empfehlung gefunden. Piffard (1882) empfiehlt ein Fluid Extract zu 5-10 Tropfen beim Erwachsenen und 1-5 Tropfen bei Kindern. Anhaltender Gebrauch von Stiefmütterchentee soll dem Urin einen widrigen Geruch nach Katzenharn geben.“
Historische Abbildungen
- Gart der Gesundheit 1485
- Hortus sanitatis 1491
- Otto Brunfels 1532
- Leonhart Fuchs 1543
- Hieronymus Bock 1546
- Mattioli / Handsch / Camerarius 1586
- Köhler 1887
Siehe auch
Einzelnachweise
- Puff-Handschriften: Heidelberg, cpg 558, Nordbayern 1470–1485, Blatt 24r. - Heidelberg, cpg 545, Nürnberg 1474, Blatt 111r.
- Gart der Gesundheit. Mainz 1485, Cap. 432.
- Hieronymus Brunschwig: Kleines Destillierbuch. 1500, Blatt 49r-v: „… drivaltigkeit blůmen genant / vmb dryerley farb ſiner blůmen / gelb / blow vnd wyß […]“.
- Jürgen Martin: Die ‚Ulmer Wundarznei‘. Einleitung – Text – Glossar zu einem Denkmal deutscher Fachprosa des 15. Jahrhunderts. Königshausen & Neumann, Würzburg 1991 (= Würzburger medizinhistorische Forschungen. Band 52), ISBN 3-88479-801-4 (zugleich Medizinische Dissertation Würzburg 1990), S. 175.
- Carl Daremberg, Jacques Paul Migne: S. Hildegardis Abbatissae opera omnia. Gebrüder Granier Verlag, Paris 1882. Der Name freischlich als Krankheitsbezeichnung kommt in folgenden Kapiteln der Physica dieses Manuskripts vor: I / 28 Cristiana (Digitalisat) „…Et homo, in quo pessimi et mortiferi humores eriguntur, ita, quod in aliquo membro ejus ebulliunt, sic quod dicunt freischlich …“ („… und ein Mensch, in dem schlechteste und todbringende Säfte sich erheben, so dass sie in irgendeinem seiner Glieder hervorsprudeln, so dass man freischlich sagt …“). I / 132 Agleya (Digitalisat) „Et homo in quo freischlich, quod dicitur selega, nasci incipit …“ („Und ein Mensch, in dem freischlich, was selega genannt wird, zu entstehen beginnt …“). III / 26 Fagus (Digitalisat) „… Et cum quispiam homo in illo anno freyszchlich, quod est selega, in corpore suo habuerit …“ („ … Und wenn irgendein Mensch in jenem Jahr freyszchlich, was selega heisst, in seinem Körper hat …“). III / 47 Iffa (Digitalisat) „ … Et qui freischlich in corpore suo habet, id est selega, … et freyschlich evanescet. …“ („ … Und wer freischlich in seinen Körper hat, das ist selega … und freyschlich wird verschwinden. …“).
- Max Höfler: Deutsches Krankheitsnamen-Buch. München 1899, S. 165–166.
- Michael Puff: Büchlein von den ausgebrannten Wässern. 15. Jh. Druck Augsburg (Johannes Bämler) 1478: Freysam (Digitalisat)
- Cpg 558, Medizinische Sammelhandschrift, Nordbayern um 1470–1485, Blatt 24r, (Digitalisat)
- Cpg 545, Medizinische Rezeptsammlung und Traktate, Nürnberg (?) 1474, Blatt 111r (Digitalisat)
- Gart der Gesundheit. Mainz 1485, Kap. 432: „…drybet vß die böse füchtung vnd benympt daz freyschem in dem lybe vnd drybet das vß mechtiglich …“ (Digitalisat)
- „…dienet sunderlich wole den rüdigen menschen“.
- Hortus sanitatis 1491, Mainz 1491, Teil I, Kapitel 511: Jacea (Digitalisat)
- Hieronymus Brunschwig: Kleines Destillierbuch. Straßburg 1500, Blatt 49r-v: „Von freiſſam krut waſſer … ſin waſſer iſt gůt getruncken für ein kranckheit der iungen kinden genant dz freiſſam. in latiniſcher zungen eriſipila genant…“ Ausserdem: H. Brunschwig: Kleines Destillierbuch 1500, Blatt 63r-63v: Ibisch wurtzel waſſer. ... B. „Ibiſch wurtzel waſſer iſt gut getruncken ... für die vnnatürlich hitz genant dz freiſem oder eriſipila.“
- Hieronymus Brunschwig: Kleines Destillierbuch, Straßburg 1500, Blatt 49r: Freissam Krut (Digitalisat)
- Otto Brunfels: Contrafayt Kreüterbůch. Johann Schott, Straßburg 1532, S. 130: Dreyfaltigkeit Blumen. Freysam- oder Nagelkraut (Digitalisat)
- Hieronymus Bock: New Kreütter Bůch. Wendel Rihel, Straßburg 1539, Teil I, Kapitel 192: Freyssam. Dreiflatigkeyt (Digitalisat)
- Leonhart Fuchs: New Kreütterbuch … Michael Isingrin, Basel 1543, Kapitel 313: Freyschamkraut (Digitalisat)
- Pietro Andrea Mattioli: Commentarii, in libros sex Pedacii Dioscoridis Anazarbei, de medica materia. Übersetzung durch Georg Handsch, bearbeitet durch Joachim Camerarius den Jüngeren, Johan Feyerabend, Franckfurt am Mayn 1586, Blatt 413r–414r: Freisamkraut. Dreyfaltigkeitblumen (Digitalisat)
- Nicolas Lémery : Dictionnaire universel des drogues simples., Paris 1699, S. 353 : Herba trinitatis (Digitalisat); Übersetzung. Vollständiges Materialien-Lexicon. Zu erst in Frantzösischer Sprache entworffen, nunmehro aber nach der dritten, um ein grosses vermehreten Edition [...] ins Hochteutsche übersetzt / Von Christoph Friedrich Richtern, [...]. Leipzig: Johann Friedrich Braun, 1721, Sp. 529–530: Herba trinitatis (Digitalisat)
- Albrecht von Haller (Herausgeber): Onomatologia medica completa oder Medicinisches Lexicon das alle Benennungen und Kunstwörter welche der Arzneywissenschaft und Apoteckerkunst eigen sind deutlich und vollständig erkläret [...]. Gaumische Handlung, Ulm/ Frankfurt am Main/ Leipzig 1755, Sp. 809–810: Jacea tricolor (Digitalisat)
- Jean-Louis Alibert: Nouveaux éléments de thérapeutique et de matière médicale. Crapart, Paris Band I 1803, S. 250–252: Herba Violae tricoloris (Digitalisat)
- Carl Wilhelm Juch: Pharmacopoea Borussica oder Preußische Pharmakopoe. Aus dem Lateinischen übersetzt, und mit Anmerkungen und Zusätzen begleitet von Dr. Carl Wilhelm Juch. Stein, Nürnberg 1805, S. 81: Herba Violae tricoloris s. Jaceae. Dreyfaltigkeitsblume. Freisamkraut (Digitalisat)
- August Friedrich Hecker’s practische Arzneimittellehre. Revidiert und mit neuesten Entdeckungen bereichert von einem practischen Arzte. Camesius, Wien, Band I 1814, S. 231: Herba Jaceae. Fraisamkraut. Dreifaltigkeitsblume. Stiefmütterchen (Digitalisat)
- Jonathan Pereira’s Handbuch der Heilmittellehre. Nach dem Standpunkte der deutschen Medicin bearbeitet von Rudolf Buchheim. Leopold Voß, Leipzig 1846–48, Band II 1848, S. 733: (Digitalisat)
- Alexander Willem Michiel van Hasselt. J. B. Henkel (Übersetzer): Handbuch der Giftlehre für Chemiker, Ärzte, Apotheker und Gerichtspersonen. Vieweg, Braunschweig 1862, S. 485: Violin (Digitalisat)
- Friedrich Mohr: Commentar zur Preussischen Pharmakopoe : nebst Übersetzung des Textes … Friedrich Vieweg, Braunschweig 1865. Nach der siebten Auflage der Pharmakcopoea borussica. Dritte Auflage in einem Band, S. 324–325: Herba Violae tricoloris. Freisamkraut. Stiefmütterchenkraut (Digitalisat)
- August Husemann / Theodor Husemann: Die Pflanzenstoffe in chemischer, physiologischer, pharmakologischer und toxikologischer Hinsicht. Für Aerzte, Apotheker, Chemiker und Pharmakologen. Springer, Berlin 1871, S. 105–106: Violin (Digitalisat)
- Hermann Hager Commentar zur Pharmacopoea GermanicaJulius Springer Berlin, Band II (1874), S. 145–145: Herba Violae tricoloris (Digitalisat)
- Henry Granger Piffard: A treatise on the materia medica and the therapeutics of the skin. William Wood & Company, New York 1881, S. 113–116 (Digitalisat)
- Theodor Husemann: Handbuch der gesammten Arzneimittellehre. Springer, Berlin 2. Aufl. 1883, S. 837–838: (Digitalisat)
- Hugo Schulz: Vorlesungen über Wirkung und Anwendung der deutschen Arzneipflanzen. Thieme, Leipzig 1929, 2. Aufl., S. 115–117.
- Caroli Strack: De crusta lactea infantum ejuisdem specifico remedio. Frankfurt / Main 1779. (Digitalisat) --- Carl Strack: Von dem Milchschorf der Kinder und einem specifischen Mittel darwider. Weimar 1788 (1. Aufl. 1779). (Digitalisat) --- C. Strack de crusta lactea infantum … Besprechung in: Allgemeine Deutsche Bibliothek. 46. Band, 1. Stück, Nicolai, Berlin und Stettin 1781, S. 161–164 (Digitalisat)
- Theodor Husemann. Handbuch der gesammten Arzneimittellehre. 2. Aufl., Band II, Springer, Berlin 1883, S. 837, (Digitalisat)