Wiktor Wladimirowitsch Jerofejew
Wiktor Wladimirowitsch Jerofejew (russisch Виктор Владимирович Ерофеев, wissenschaftliche Transliteration Viktor Vladimirovič Erofeev; * 19. September 1947 in Moskau) ist ein russischer Schriftsteller.
Leben
Jerofejews Vater Wladimir Jerofejew (1920–2011 in Moskau) war Französisch-Dolmetscher und Übersetzer Stalins und ab 1955 sowjetischer Kulturattaché in Paris.[1][2] Dort lebte die Familie bis 1959 und kehrte danach in die UdSSR zurück.
Wiktor Jerofejew studierte Literatur und Sprachwissenschaft an der Moskauer Lomonossow-Universität. Nach Studienabschluss 1970 forschte er bis 1973 am Institut für Weltliteratur, wo er seine Dissertation über Fjodor Dostojewski und den französischen Existentialismus schrieb. Sein Bruder Andrej ist Kunsthistoriker; er war zwischen 2002 und 2010 Kurator an der Staatlichen Moskauer Tretjakow-Galerie.[3]
Seit Mitte der siebziger Jahre war Wiktor Jerofejew literarisch tätig. 1979 wurde er wegen seiner Beteiligung am Literaturalmanach Metropol aus dem Schriftstellerverband der UdSSR ausgeschlossen, 1988 rehabilitiert.[4] Der Ausschluss kam einem Berufsverbot gleich: Jerofejew schrieb in den folgenden Jahren für die Schublade.[5] Im Jahr 1980 entstand der Roman Leben mit einem Idioten, der erst im Jahr 1991 veröffentlicht werden konnte und im Jahr 2021 in deutscher Übersetzung erschien.[5] Weiteren Kreisen wurde er in der Zeit der Perestroika mit seinem Roman Die Moskauer Schönheit (Русская красавица, 1990) bekannt, der in 27 Sprachen übersetzt wurde.
Jerofejew äußerte sich in Interviews und öffentlichen Stellungnahmen wiederholt kritisch zur Politik der russischen Regierung und zu Präsident Wladimir Putin.[6][7] Schon 2009 hatte er erklärt, dass beim Antritt Putins als Präsident ein „Staatsstreich“ stattgefunden habe:
„Das genaue Datum zu nennen ist unmöglich, denn es gab ja keins. Es war einfach so, dass irgendwie Wind aufkam, der Himmel sich zuzog und Regen einsetzte. Da haben Sie den ganzen Staatsstreich. Eine Naturkatastrophe. Normal für das Klima in unseren Breiten. Es schüttet wie aus Eimern, aber Sie laufen immer noch ohne Schirm herum, weil man Ihnen sagt, dass die Sonne scheint.“
2014 hatte er erklärt, dass die Krim seit dem Amtsantritt Putins an einem seidenen Faden gehangen habe, der nur im richtigen Moment zu kappen war – dazu, dass man im 21. Jahrhundert so nicht vorgehen könne, meinte Jerofejew: „Wer sagt denn, dass Russland im 21. Jahrhundert steht?“ Putin habe vom Westen einen großen Vertrauensvorschuss bekommen, aber er halte nichts von westlichen Werten.[9]
Den Euromaidan in der Ukraine bezeichnete er als „Erfolg, getragen von echten Revolutionären“, gleichzeitig charakterisierte er den Einfluss der russischen Außenpolitik auf die weitere Entwicklung des Landes mit den Worten:
„Das Interesse Putins wird sein, eine positive Entwicklung zu verhindern – er wird die Ukraine nicht in Ruhe lassen.“
Den Krieg in der Ukraine nannte er einen Krieg zwischen zwei Zivilisationen – die russische autoritäre und die der humanistischen Werte.[11]
Werke (Auswahl)
- Жизнь с идиотом. 1980
- Leben mit einem Idioten. Erzählungen. S. Fischer, Frankfurt 1991, ISBN 3-10-037104-6
- Libretto für die Oper Leben mit einem Idioten von Alfred Schnittke nach Jerofejews gleichnamiger Erzählung. Das Werk in 2 Akten und 4 Szenen wurde 1992 in Amsterdam uraufgeführt.
- Русская красавица. Moskau 1990
- Die Moskauer Schönheit. Roman. S. Fischer, Frankfurt 1990, ISBN 3-10-037102-X; Fischer-Taschenbuch-Verlag, Frankfurt 1993, ISBN 3-596-11410-1; Berliner Taschenbuch-Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3-8333-0392-0
- Im Labyrinth der verfluchten Fragen. Essays. S. Fischer, Frankfurt 1993, ISBN 3-10-037105-4
- (Hrsg.): Русские цветы зла. 1997
- Tigerliebe. Russische Erzähler am Ende des 20. Jahrhunderts. Eine Anthologie. Berlin-Verlag, Berlin 1995, ISBN 3-8270-0110-2
- Страшный суд. Moskau 1996
- Das Jüngste Gericht. Berlin-Verlag, Berlin 1997, ISBN 3-8270-0111-0
- Мужчины. Moskau 1997
- Männer. Ein Nachruf. Kiepenheuer und Witsch, Köln 2000, ISBN 3-462-02924-X
- mit Gabriele Riedle: Fluß. Roman. Aufbau-Verlag, Berlin 1998, ISBN 3-351-02848-2 (russische Ausgabe: Пять рек жизни. Moskau 1998)
- (Hrsg.): Vorbereitung für die Orgie. Junge russische Literatur. Übers. Christiane Körner. Dumont, Köln 2000, ISBN 3-7701-5230-1
- Хороший Сталин. Moskau 2004
- Der gute Stalin. Roman. Berlin-Verlag, Berlin 2004, ISBN 3-8270-0113-7; Berliner Taschenbuch-Verlag, Berlin 2006, ISBN 3-8333-0336-0; Matthes & Seitz, Überarbeitete Ausgabe, ungekürzte Ausgabe und revidierte Ausgabe, Berlin 2021, ISBN 978-3-75180-105-8.
- Der Mond ist kein Kochtopf. Ein Russe auf Reisen. Marebuchverlag, Hamburg 2005, ISBN 3-936384-21-5; Berliner Taschenbuch-Verlag, Berlin 2007, ISBN 978-3-8333-0445-3
- De profundis. Erzählungen. Berlin-Verlag, Berlin 2006, ISBN 978-3-8270-0637-0
- Русский апокалипсис. 2006
- Russische Apokalypse. Berlin-Verlag, Berlin 2009, ISBN 978-3-8270-0711-7
- mit Andreas Herzau: Moscow Moskau street. Braus, Berlin 2012, ISBN 978-3-86228-028-5
- Акимуды. Ripol Klassiks, Moskau 2012.
- Die Akimuden. Ein nichtmenschlicher Roman. Hanser, Berlin 2013, ISBN 978-3-446-24370-5
Weblinks
Fußnoten
- Susanne Beyer, Matthias Schepp: Stalin ist in unseren Genen (Interview mit Wiktor Jerofejew). Am 9. September 2013 auf spiegel.de
- Simone Schlindwein: Sowjetunion – „Ich hatte eine schöne stalinistische Kindheit“ (Interview mit Wiktor Jerofejew). In: einestages. 5. März 2008
- Jerofejew, Andrej Wladimirowitsch. In: Exil-Archiv
- Sprach-Orgie aus Rußland - DER SPIEGEL 46/1990. Abgerufen am 27. Januar 2021.
- Norma Schneider: Pandemie der Brutalität. In: FAZ.net. 3. Februar 2022, abgerufen am 3. Februar 2022.
- Viktor Jerofejew: Rüstung: Putins Russland hat ein Image-Problem (aus dem Russischen übersetzt von Beate Rausch). In: Die Welt. 13. Februar 2007
- Matthias Schepp: Schriftsteller Jerofejew im Interview: „Das Volk wollte eine harte Strafe“. In: Spiegel Online. 17. August 2012
- Die Vertikale der Macht, Handelsblatt, 16. August 2009
- Russland und der Westen: Was trennt, was verbindet?, Deutsche Welle, 7. Juni 2014, ab Minute 4:30
- Andreas Breitenstein: «Putin wollte die ganze Ukraine» (Interview mit Wiktor Jerofejew). Am 20. Juli 2015 auf nzz.ch
- Viktor Jerofejew – Russland lieben – Interview in Sternstunde Philosophie, SRFKultur, 13. September 2015, zu Beginn des Interviews.