Vaginale Orgasmusunfähigkeit
Vaginale Orgasmusunfähigkeit ist ein Begriff, mit dem in der psychoanalytischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre weibliche Frigidität definiert und beschrieben wurde.
Historische Sichtweise
So schrieben Eduard Hitschmann und Edmund Bergler vom Psychoanalytischen Ambulatorium der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (1934):
„Dabei spielt es für den Effekt der Frigidität keine Rolle, ob die Frau während des Koitus kalt bleibt oder erregt ist, ob die Erregung schwach oder stark ist, ob sie am Anfang oder am Ende langsam oder jäh abbricht, ob die Erregung bei den Vorlustakten aufgezehrt wird oder von Anfang an fehlt. Das einzige Kriterium der Frigidität ist das Ausbleiben des vaginalen Orgasmus.“[1]
Als Ursachen für die vaginale Orgasmusunfähigkeit wurden u. a. genannt:
- die Ödipusfixierung an den Vater mit konsekutivem Genussverbot aus dem unbewussten Strafbedürfnis,
- die Nichterledigung des Kastrationskomplexes und der Männlichkeitswünsche,
- die Ablehnung der weiblichen, passiv-masochistischen Rolle sowie
- das Festhalten prägenitaler unbewusster Phantasien und Fixierungen, so das gewalttätig Genommenwerdenwollens, unbewusste Homosexualität und sexualverbietende Ideologien.[2]
In dieser Sichtweise der klassischen Psychoanalyse ist der Wandel der erogenen Leitzone des Mädchens von entscheidender Bedeutung. Während der Zeit der infantilen Frühblüte der Sexualität sei fast immer die Klitoris das Zentrum der Erregbarkeit und die Vagina psychologisch noch nicht entdeckt.[3] Spätestens in der Pubertät sollte es der heranwachsenden Frau im Rahmen ihrer gesunden psychosexuellen Entwicklung gelingen, die Klitoris als erogene Leitzone an die Vagina abzutreten, um die vollständige Lustfähigkeit im Sexualakt zu erlangen. Für die Psychoanalytikerin Helene Deutsch übernimmt die Vagina im Koitus unter Reizleitung des Penis die Rolle des saugenden Mundes in der Gleichsetzung Penis = Brust. Bei frigiden Frauen seien daher häufig orale Symptome wie Essstörungen oder hysterisches Erbrechen zu beobachten.[4]
Heutige Sichtweise
Diesem Erklärungsmodell wurde sowohl von feministischer Seite wie auch von Psychoanalytikerinnen heftig widersprochen. Es gilt seit den Forschungsergebnissen von Masters und Johnson als überholt (obsolet).
In der modernen psychiatrischen Nomenklatur werden Orgasmusstörungen unter den Sexuellen Dysfunktionen (F52.3 im ICD-10) untergeordnet, die primär oder situativ sein, und körperliche oder psychische Ursachen haben können.[5]
Literatur
- Janine Chasseguet-Smirgel (Hrsg.): Psychoanalyse der weiblichen Sexualität. Suhrkamp, Frankfurt am Main 1974 (5. Auflage 1981, französische Erstausgabe von 1964), ISBN 978-3-518-10697-6.
- Edmund Bergler, Eduard Hitschmann: Die Geschlechtskälte der Frau: ihr Wesen und ihre Behandlung. Ars medici, Wien 1934. Digitalisat als PDF (21,4 MB)
- Volkmar Sigusch: Sexualitäten: Eine kritische Theorie in 99 Fragmenten. Campus Verlag, Frankfurt 2013, ISBN 978-3-593-39975-1, S. 470: #87 Kritik der psychoanalytischen Orgasmuslehre. (eingeschränkte Buchvorschau auf books.google.de).
Weblinks
- Sigmund Freud Privatuniversität Wien – Norbert Finzsch: Lecture SFU Wien Berlin March 25th, 2021 (Vortrag SFU): Die „frigide Neurotikerin“, die Psychoanalyse und die weibliche Genitalverstümmelung. S. 11–15: Der Mythos vom vaginalen Orgasmus. Wien 2021 Auf: academia.edu; abgerufen am 19. Februar 2022.
Einzelnachweise
- E. Bergler, E. Hitschmann: Die Geschlechtskälte der Frau: ihr Wesen und ihre Behandlung. Wien 1934, S. 30.
- E. Bergler, E. Hitschmann: Die Geschlechtskälte der Frau: ihr Wesen und ihre Behandlung. Wien 1934, S. 32.
- Karl Abraham: Äußerungsformen des weiblichen Kastrationskomplexes. In: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse. Band VII. Wien 1920.
- Helene Deutsch: Zur Psychoanalyse der weiblichen Sexualfunktionen. Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1925.
- Brigitte Vetter: Sexualität: Störungen, Abweichungen, Transsexualität. Klett-Cotta/ Schattauer, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-608-26414-2 (google.de [abgerufen am 17. Februar 2022]).