Traditionsinsel
Traditionsinsel[1] ist ein Begriff aus der Denkmalpflege und bezeichnet die punktuelle historische Rekonstruktion einzelner städtebaulicher Ensembles bzw. Plätze nach den großflächigen Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges in Braunschweig.
Geschichte
Vorgeschichte
Bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges war die seit dem Mittelalter über Jahrhunderte gewachsene Stadtlandschaft mit ihren teils organisch entstandenen Straßenzügen und Bauwerken verschiedener Epochen und Baustile weitestgehend erhalten geblieben. Braunschweig war, vor allem im Stadtzentrum, eine von hunderten Fachwerkhäusern geprägte Stadt, als die Zerstörungen durch alliierte Luftangriffe im Sommer 1941 begannen. Der erste Luftangriff erfolgte am 17. August 1940[2] durch die Royal Air Force (RAF). Seit dem 27. Januar 1943 griffen Bomber der United States Army Air Forces (USAAF) deutsche Städte auch bei Tage an. Ab Februar 1944 (Big Week[3]) war der Industrie-, Forschungs- und Rüstungsstandort Braunschweig ein planmäßiges Ziel amerikanischer und britischer Bomberstaffeln. Bis Kriegsende folgten etwa 42 Luftangriffe alliierter Bomberverbände.[4] Der verheerendste Angriff fand in der Nacht des 15. Oktober 1944 durch die No. 5 Bomber Group der RAF statt. Der dadurch verursachte zweieinhalb Tage andauernde Feuersturm zerstörte 90 % der Innenstadt.[5] Der letzte Bombenangriff auf die Stadt erfolgte am 31. März 1945 durch die 392. US Bomber Group.[6]
Das Konzept der „Traditionsinseln“
Der damalige Landeskonservator und oberste Denkmalschützer des Landes Braunschweig Kurt Seeleke[7] entwarf angesichts der großflächigen Zerstörungen zusammen mit dem in der Stadt tätigen Architekten Friedrich Wilhelm Kraemer das Konzept der „Traditionsinsel“.[8] Sein Ziel war es, erhaltene historische Bauwerke, vor allem um fünf Innenstadtkirchen der fünf historischen Weichbilde Braunschweigs, Altewiek, Altstadt, Hagen, Neustadt und Sack herum, zu sichern.
Nachfolgend die fünf Traditionsinseln, zuzüglich der mehr oder weniger weitläufigen Umgebung in Abhängigkeit erhalten gebliebener bzw. wieder aufgebauter historischer Bausubstanz:
- Aegidienviertel, rund um die Aegidienkirche
- Altstadtmarkt, rund um die Martinikirche
- Burgplatz, rund um den Braunschweiger Dom
- Magniviertel, rund um die Magnikirche
- Michaelisviertel, rund um die Michaeliskirche
Aufgrund der irreparablen Zerstörungen in den Weichbilden Neustadt rund um den Wollmarkt und die Andreaskirche und im Hagen mit dem Hagenmarkt und der angrenzenden Katharinenkirche mussten diese beiden Bereiche als zukünftige Traditionsinseln ausgeschlossen werden,[9] da es dort – außer den beiden schwer beschädigten Kirchen und der Liberei – keine andere erhaltene historische Bausubstanz mehr gab. Ebenso ausgeschlossen wurde der Bereich des beschädigten Braunschweiger Schlosses am Bohlweg, dessen dem Schloss gegenüber liegende Häuserreihe vollständig zerstört war.
1963 wurden die Traditionsinseln in die Denkmalpflegesatzung der Stadt Braunschweig aufgenommen, wodurch sie gesetzlichen Schutz erlangten.
Obwohl die meisten Gebäude rund um den unweit des Altstadtmarktes gelegenen Kohlmarkt den Krieg weitgehend unzerstört überstanden hatten, gehört dieser Bereich nicht zu den Traditionsinseln.
Kritik
Kritiker des Konzeptes führten u. a. an, dass es sich dabei um eine Art „Freilichtmuseum“ handele, da selbst diese „Inseln“ kriegsbedingte Lücken aufwiesen, die wiederum mit Gebäuden geschlossen wurden, die an deren ursprünglichen Standorten zunächst abgebaut werden mussten (z. B. das Rüninger Zollhaus), um sie dann anschließend in eine der Traditionsinseln einzupassen.[10] Ein anderer Kritikpunkt war die künstlich und nachträglich wieder erzeugte scheinbare historische Authentizität, die jedoch nicht den historischen Tatsachen entspreche.
Vorrangiger Zweck des Konzeptes „Traditionsinsel“ war es, wie Göderitz es formulierte, „späteren Generationen ein Bild des alten [im Bombenkrieg untergegangenen] Braunschweig zu vermitteln.“ Göderitz’ Verständnis war, die Architektur als Mittel zur Veranschaulichung von Städtebau-Geschichte einzusetzen; dazu sollten diese steinernen – aber nicht stummen – Zeugen beitragen. Kurt Seeleke hatte das Konzept in seinen Grundzügen bereits 1943 (nach den ersten Bombenangriffen auf Braunschweig) entworfen und bis 1955 in Zusammenarbeit mit Kraemer weiter entwickelt. Seeleke war ein beständiger und scharfer Kritiker des, wie er fand, anonymen oder belanglosen „Architektur-Breis“, der als Wiederaufbau in die zerstörten deutschen Städte Einzug hielt und in dem, „verstreut wie Rosinen“, diese „historischen Reservate“ verteilt seien.
Wilhelm Westecker, ein Kritiker der „Traditionsinsel“, meinte: „Im Burghof [= Burgplatz] spiegeln sich die Geschichte der Frühzeit und die Baugeschichte von Jahrhunderten noch immer sehr eindrucksvoll. Nur wurde die Krone der alten Stadt 1945 gleichsam zum isolierten Freilichtmuseum degradiert.“[11]
Die leidenschaftlich geführten Diskussionen über die Rekonstruktion von Ensembles haben sich später bei ähnlichen Projekten, wie der Neuen Frankfurter Altstadt oder dem Alten Markt in Potsdam, wiederholt.
Literatur
- Udo Gebauhr: Traditionsinseln. In. Luitgard Camerer, Manfred Garzmann, Wolf-Dieter Schuegraf (Hrsg.): Braunschweiger Stadtlexikon. Joh. Heinr. Meyer Verlag, Braunschweig 1992, ISBN 3-926701-14-5, S. 230.
- Johannes Göderitz: Braunschweig. Zerstörung und Aufbau. In: Kommunalpolitische Schriften der Stadt Braunschweig. Heft 4, Mai 1949.
- Kurt Seeleke: Der Wiederaufbau der Braunschweiger Altstadt. In: Bewahren und gestalten. Hamburg 1962, S. 115–118.
Einzelnachweise
- Johannes Göderitz: Braunschweig. Zerstörung und Aufbau. S. 33.
- Eckart Grote: Target Brunswick 1943–1945. Luftangriffsziel Braunschweig – Dokumente der Zerstörung. Braunschweig 1994, S. 11.
- Werner Girbig: 1000 Tage über Deutschland. Die 8. amerikanische Luftflotte im 2. Weltkrieg. München 1964, S. 198 ff.
- Rudolf Prescher: Der rote Hahn über Braunschweig. Luftschutzmaßnahmen und Luftkriegsereignisse in der Stadt Braunschweig 1927 bis 1945, Braunschweig 1955, S. 111.
- Braunschweiger Zeitung (Hrsg.): Die Bomben-Nacht. Der Luftkrieg vor 60 Jahren. Braunschweig 2004, S. 8.
- Eckart Grote: Target Brunswick 1943–1945. Luftangriffsziel Braunschweig – Dokumente der Zerstörung. Braunschweig 1994. S. 151.
- Bernd Wedemeyer: Das ehemalige Residenzschloß zu Braunschweig. Eine Dokumentation über das Gebäude und seinen Abbruch im Jahre 1960. 2. Auflage. Braunschweig 1993, S. 155.
- Gudrun Fiedler: Nicht mehr Land und doch Region. In: Horst-Rüdiger Jarck, Gerhard Schildt (Hrsg.): Die Braunschweigische Landesgeschichte. Jahrtausendrückblick einer Region. 2. Auflage. Appelhans Verlag, Braunschweig 2001, ISBN 3-930292-28-9, S. 1141.
- Gudrun Fiedler: Nicht mehr Land und doch Region. S. 1142.
- Friedrich Mielke: Die Zukunft der Vergangenheit. Grundsätze, Probleme, und Möglichkeiten der Denkmalpflege. DVA, Stuttgart 1975, ISBN 3-421-02456-1, S. 140.
- zitiert nach: Uwe Beitz: Zur Zierde der Stadt. Baugeschichte des Braunschweiger Burgplatzes seit 1750. Friedrich Vieweg & Sohn, Braunschweig / Wiesbaden 1989, ISBN 3-528-08732-3, S. 150.
Anmerkungen
- Im Streiflicht (Sonne steht im Westen) gut erkennbar: Die (helle, breite) Straße von unten, schräg nach rechts laufend ist die Fallersleber Straße, die in den Hagenmarkt mündet. Gut sichtbar, die stark beschädigte Katharinenkirche. An den Hagenmarkt nach rechts hin anschließend, vollständig zerstörte Bereiche der Innenstadt. Die von der Fallersleber Straße abzweigenden drei Straßen (mit großflächigen Bombenbrachen) Richtung Steinweg sind v. l. n. r.: Mauernstraße, Schöppenstedter Straße und Wilhelmstraße. Der Steinweg verläuft Richtung Burgplatz. Hier ist das Staatsministerium in der Dankwardstraße erkennbar, dem gegenüber das Rathaus. Auf dem Burgplatz sind die Burg Dankwarderode und der Dom sichtbar. Etwas oberhalb der Bildmitte liegt das stark beschädigte Braunschweiger Schloss am Bohlweg. Dahinter, Richtung Süden, zerstörte Straßenzüge in der Umgebung der Aegidienkirche, unter anderem Aegidienmarkt, Kuhstraße, Stobenstraße und Auguststraße. In der rechten oberen Ecke ist der alte Bahnhof erkennbar. Am linken Bildrand ist in der Mitte das Staatstheater sichtbar, etwas darüber das Herzog Anton Ulrich-Museum. In der linken oberen Ecke ist das Magniviertel mit zahlreichen zerstörten und beschädigten Gebäuden. Zum Beispiel: die schwer beschädigte Magnikirche sowie großflächig zerstörte Straßenzüge rund um den Ackerhof. Des Weiteren sind das Städtische Museum, der Löwenwall und die Gaußschule erkennbar.
- 1. Flugroute von Norden nach Süden:, Andreasfriedhof, Hamburger Straße, Gaußbrücke, Bammelsburg, Löbbeckes Insel, Inselwall, Rehnstoben-Bunker, Nickelnkulk, Kaiserstraße, Wollmarkt, Andreaskirche, Liberei, Kröppelstraße, Alte Waage, Lange Straße, Neustadtrathaus, Packhof, Meinhardshof, Brüdernkirche, Kannengießerstraße, Schuhstraße, Kohlmarkt, Haus zur Sonne, Haus zur Rose, Haus zum Goldenen Stern, Ziegenmarkt, Bankplatz, Oberpostdirektion, Friedrich-Wilhelm-Platz
2. Flugroute von Osten nach Süden:, Wasserturm auf dem Giersberg, Parkstraße, Museumpark, Herzog Anton Ulrich-Museum, Magniviertel, Magnikirche, Städtisches Museum, Gaußschule, Bunker Ritterstraße, Ackerhof, Ölschlägern, Klint, Kuhstraße, Auguststraße, Aegidienmarkt, Aegidienkirche, Aegidienkloster, Garnison-Schule, Lessingplatz