The 78
The 78 ist ein Stadtentwicklungsprojekt in Chicago im US-Bundesstaat Illinois. Der Name ist eine Anlehnung an die 77 bestehenden Stadtbezirke (engl. community areas) Chicagos – das Projekt ist so groß, dass es nach seiner Fertigstellung einen weiteren, den 78. Bezirk der Stadt darstellen wird.[1]
Es umfasst eine 62 Acres (ca. 25 Hektar) große, linksseitig des Südarms des Chicago Rivers gelegene Fläche, die im Norden durch die Roosevelt Road, im Osten durch die Clark Street, im Süden durch die 16th Street und im Westen durch den Chicago River begrenzt wird.[2]
Für die Entwicklung von The 78 zeichnet ein Joint Venture aus GMH und dem Chicagoer Immobilienentwickler Related Midwest verantwortlich;[2] die Architekten sind Skidmore, Owings and Merrill. Das Gesamtinvestitionsvolumen des Projekts beträgt 7 Milliarden US-Dollar.[3]
Das Areal war einer der Kandidaten für den zweiten Hauptverwaltungsstandort des Versandhändlers Amazon (HQ2),[4] konnte sich letztlich jedoch nicht durchsetzen.
Der erste Bauabschnitt (Nordteil des Geländes, einschl. Gateway Towers, Parkside HQ und Riverfront Innovation Office) soll bis 2024 umgesetzt werden; die Fertigstellung der verbleibenden Bauabschnitte ist zwischen 2030 und 2040 vorgesehen.[5]
Geschichte
Ursprünglich verlief der südliche Arm des Chicago Rivers durch das Gelände, bevor dessen Lauf in den späten Zwanzigerjahren begradigt wurde, um einerseits zunächst mehr Platz für die sich östlich davon befindlichen Eisenbahnanlagen zu schaffen, anderseits aber auch anschließend (durch teilweise Verlagerung der Bahnanlagen und die Errichtung eines gemeinsamen South Side Terminals für mehrere Bahngesellschaften[6]) die Möglichkeit zu schaffen, die Franklin Street, Wells Street, LaSalle Street und Dearborn Street nach Süden hin zu verlängern, und so die South Side besser an den Loop anzubinden.
Neben dem (zwischenzeitlich verlegten) Flusslauf befanden sich auf dem Gelände zur Hochzeit des Eisenbahnverkehrs in den Vereinigten Staaten, in dem Chicago einen der wichtigsten Knotenpunkte darstellte, Gleisanlagen verschiedener Bahngesellschaften, darunter der Baltimore and Ohio Railroad, der Chicago, Burlington and Quincy Railroad, der Pennsylvania Railroad sowie der Chicago and North Western Railway.[7]
Mit dem Niedergang des Bahnverkehrs in den Fünfziger- und Sechzigerjahren sank die Bedeutung der Bahnanlagen zusehends. 1971 übernahm Amtrak die (westlich des Flusses gelegene) Union Station und konsolidierte dort wesentliche Teile des Zugverkehrs, sodass die Anlagen auf dem Gelände obsolet wurden.
Die Gleise wurden bis Ende der Siebzigerjahre zurückgebaut; seither lag die Fläche jahrzehntelang in unerschlossenem Zustand[2][8] brach.
In den späten Siebziger- und frühen Achtzigerjahren waren immer wieder Pläne für eine Nachnutzung des Areals aufgekommen;[9] sie scheiterten jedoch aus unterschiedlichen Gründen.
1998 gründeten die Immobilienunternehmen U.S. Equities Realty Inc. und Joseph Cacciatore & Co. ein Joint Venture zur Vermarktung des Geländes, welches sich aus Grundstücken in ihren eigenen Beständen, sowie vom Eisenbahnunternehmen CSX Corporation erworbenen Grundstücken zusammensetzte.[10]
Im Jahr 2002 kaufte ein Konsortium unter Führung der Rezmar Corporation das Gelände für 67 Millionen US-Dollar.[10] Rezmar gehörte dem (mittlerweile wegen Korruption verurteilten) Geschäftsmann Tony Rezko. Versuche Rezmars, das Gelände in eine als Riverside Park bezeichnete Reihenhaussiedlung mit angrenzender Geschäftsbebauung entlang der Roosevelt Road sowie in der Mitte des Areals[11] umzuwandeln, blieben letztlich erfolglos, nachdem sich der Einrichtungs-Einzelhändler IKEA, der als einer der Hauptnutzer im Gespräch war, aus den Verhandlungen zurückzog.
2007 wurde das Gelände von der luxemburgischen Kapitalbeteiligungsgesellschaft General Mediterranean Holding (GMH) des ebenfalls (jedoch in anderer Sache) wegen Korruption verurteilten irakisch-britischen Geschäftsmannes Nadhmi Auchi übernommen.[2]
Nachdem alle vorherigen Entwicklungspläne fehlschlugen, bemühte sich die Stadt unter Bürgermeister Rahm Emanuel im Jahr 2014 zwischenzeitlich um die Enteignung von GMH, um daraufhin das Gelände selbst zu entwickeln,[12] setzte diese Drohung jedoch letztlich nicht um, da mit Related Midwest inzwischen ein weiterer Immobilienentwickler Miteigentümer des Geländes geworden war und versichert hatte, selbiges zu erschließen.
Die Stadt bewilligte das Projekt im April 2019,[13] einschließlich der Finanzierung von 700 Mio. US-Dollar für das Projekt erforderlicher Infrastrukturmaßnahmen in Form von Tax Increment Financing.[14]
Nutzung
Bebauung
Im ersten (als The 78 North bezeichneten) Bauabschnitt, in dem der Nordteil des Geländes erschlossen werden soll, ist die Errichtung mehrerer Wohn- und Geschäftsgebäude geplant:[15] An der nordöstlichen Ecke des Areals (das heißt an der Kreuzung Clark Street und Roosevelt Road) soll ein Ensemble aus zwei Wolkenkratzern entstehen, die als Gateway Towers bezeichnet werden. Der östliche der beiden Türme soll mit 50 Geschossen das höchste Gebäude auf dem Gelände sein; der Ostturm soll über 35 Etagen verfügen. Die Gateway Towers sollen als Wohn-, Hotel- und Einzelhandelsflächen genutzt werden.[5]
Weiter westlich, unmittelbar am Chicago River, entsteht das Riverfront Innovation Office, das ausschließlich Geschäftsräume beherbergen soll.[15]
Etwa mittig soll zudem ein als Parkside HQ bezeichnetes, vierzehngeschossiges Bürogebäude entstehen.[15]
Unmittelbar südlich davon soll zudem ein Forschungs- und Entwicklungszentrum des Discovery Partners Institute, einer mit der University of Illinois verbundenen Forschungseinrichtung, errichtet werden.[16] Das Forschungsgebäude begrenzt den ersten Bauabschnitt nach Süden hin[5] und wird mit 235 Mio. US-Dollar öffentlicher Mittel kofinanziert.[13]
Die Fertigstellung des ersten Bauabschnitts soll bis zum Jahr 2024 erfolgen; der Abschluss des Gesamtprojekts soll zwischen 2030 und 2040 erreicht werden.[5]
Straßenverkehr
Die derzeit an der Nordseite des Geländes endende Wells Street soll durch das Areal hindurchgeführt und im Süden mit der Wentworth Street verbunden werden, wodurch Chinatown besser an den Loop angebunden wird. Das als Wells-Wentworth Connector bezeichnete neue Straßensegment soll auch die Nutzungsansprüche von Fußgängern und Radfahrern berücksichtigen (separate, von Fahrbahn und Gehwegen abgetrennte Fahrradspuren, gesondert beleuchtete Gehwege usw.).[17] Der Automobilverkehr soll zudem durch die Installation von Bremsschwellen beruhigt werden. Die Bauarbeiten begannen im Juni 2019.[18]
Ferner soll die 15th Street nach Westen bis an die (dann verlängerte) Wells Street herangeführt werden. Eine weitere Nord-Süd-Verbindung soll östlich der Wells Street entstehen.[19]
CTA
Die Haltestelle Roosevelt Station der CTA Red Line ist etwa 350 Meter von der Nordostecke des Areals entfernt. Im südlichen Teil des Geländes, an der Kreuzung Clark Street und 15th Street ist zudem eine neue Haltestelle für die Red Line geplant.[4][13] Darüber hinaus verkehren mehrere Buslinien der CTA entlang der das Areal umschließenden Straßen.[20]
METRA
Die an der Ostseite des Geländes in Nord-Süd-Richtung verlaufenden Gleise des METRA-Nahverkehrssystems sollen nach Westen verlegt und so von der Clark Street abgekoppelt werden.[19] Sie führen die METRA-Pendlerzüge der Rock Island District-Linie von bzw. zur LaSalle Street Station. Die Pläne sehen vor, die Gleise zu um- bzw. überbauen, wodurch die Lärmbelästigung reduziert und die Luftqualität verbessert werden soll.[19]
Schifffahrt
Am Flussufer ist ein Anlegepunkt für Wassertaxis vorgesehen.[19] Bereits heute existieren, unabhängig von The 78, mehrere Anlegestellen für Wassertaxis entlang anderer Abschnitte des Chicago Rivers (bspw. Union Station, Riverside Plaza, River North, North Avenue usw.) sowie des Michigansees (Navy Pier, Museum Campus).
Landschaftsarchitektur
In der Mitte des Geländes soll ein 7 Acres (ca. 2,8 Hektar) großer, etwa sichelförmiger Park entstehen, dessen Konturen dem ursprünglichen Flussverlauf nachempfunden sind, bevor dieser in den Zwanzigerjahren begradigt wurde.[19]
Entlang des Flusses soll eine Uferpromenade entstehen.[5]
Einzelnachweise
- Jay Kosiarz: The 78 megadevelopment prepares to break ground, starting with U of I innovation center. The massive project essentially creates a new neighborhood on Chicago’s Near South Side. In: Curbed Chicago. 12. Februar 2020, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Kim Janssen: Developer signs deal to build 62-acre neighborhood linking South Loop and Chinatown. In: Chicago Tribune. 12. Mai 2016, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Ryan Smith: Work at ‘The 78’ ramps up as crews break ground on Wells Street extension. The first piece of the megadevelopment’s puzzle is the final phase of the Wells-Wentworth Connector project. In: Curbed Chicago. 24. Juni 2019, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Jay Kosiarz: New Red Line stop next to ‘The 78’ shown to concerned South Loop neighbors. Related Midwest wants to build the station at Clark and 15th Street, across from it 62-acre megadevelopment. In: Curbed Chicago. 21. Dezember 2018, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Jack Crawford: Wells-Wentworth Connector Progressing Rapidly at The 78 in Near South Side. In: Chicago YIMBY. 20. Oktober 2020, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- COUNCIL REVICES PLAN FOR CONSTRUCTION OF SOUTH SIDE TERMINAL. In: Chicago Daily Tribune. 19. April 1928, S. 4 (englisch).
- 70% OF DIGGING DONE FOR NEW RIVER CHANNEL. In: Chicago Daily Tribune. 15. Juli 1929, S. 16 (englisch).
- Fruzsina Eordogh: Will Rezko's Lot in the South Loop Ever Be Developed? In: Chicago Magazine. 23. August 2013, abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- Stanley Ziemba: Neighorhoods get voice in city's plan. In: Chicago Tribune. 8. Januar 1976, S. F1 (englisch).
- Thomas A. Corfman: S. Loop parcel for sale--again. In: Crain’s Chicago Business (= Crain’s Chicago Business. Band 22, Nr. 29). 29. Mai 2006, S. 2 (englisch).
- David Roeder: Up to 5,000 residential units in plans for Near S. Side development. In: Chicago Tribune. 31. Juli 2003, S. 55 (englisch).
- Micah Maidenberg: Emanuel moves to acquire huge South Loop development site. In: Crain’s Chicago Business. 6. März 2014, abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- Ori Ryan, Dan Petrella: The 78 Megadevelopment to kick off with 3 million square feet of construction, including U. of I.-led research facility. In: Chicago Tribune. 13. Februar 2020, S. 1 (englisch).
- Jay Kosiarz: City Council approves $2B in TIF money for Lincoln Yards, The 78. The votes represent the final legislative hurdle for the transformative megadevelopments. In: Curbed Chicago. 10. April 2019, abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- The 78 North. Abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- Related Midwest unveils first phase of The 78, anchored by Discovery Partners Institut. 12. Februar 2020, abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- John Greenfield: Work begins on Wells-Wentworth Connector, linking Chinatown, Loop, and The 78. In: Streetsblog Chicago. 10. September 2019, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Sara Freund: Wells-Wentworth Connector streetscape will prioritize bike and pedestrian safety. Bikers are protected by a double, landscaped parkway. In: Curbed Chicago. 11. September 2019, abgerufen am 17. April 2021 (englisch).
- Jay Kosiarz: New CTA station, covered Metra tracks for Related’s riverfront megadevelopment. `The 78` will require major infrastructure improvements. In: Curbed Chicago. 11. Mai 2018, abgerufen am 27. März 2021 (englisch).
- Getting to the 78. Abgerufen am 17. April 2021 (englisch).