Stadtkirche (Balingen)

Die evangelische Stadtkirche Balingen entstand als spätgotische Hallenkirche in Erweiterung der im 14. Jahrhundert ersterwähnten Nikolauskapelle. Ihre Erhebung zur Pfarrkirche soll um 1516 erfolgt sein. Seitdem ist sie Liebfrauenkirche. Sie liegt zentral innerhalb der ehemaligen Stadtmauern am Marktplatz der Stadt Balingen im Zollernalbkreis.

Stadtkirche

Geschichte

Archivlade des Heiligenvogts im Chorraum

Im 11. Jahrhundert entstand in Balingen die heutige Friedhofs- oder alte Liebfrauenkirche, die einst Balingens Pfarrkirche war. Da sie außerhalb der Stadtmauern lag, wurde bald nach der Stadtgründung eine Kapelle innerhalb der Stadt errichtet. Bauhistorische Funde lassen darauf schließen, dass diese Nikolaus- und Liebfrauenkapelle seit 1443 erweitert wurde. Mit Einführung der Reformation wurde Balingen evangelisch. Das älteste Epitaph der Stadtkirche stammt aus dem Jahr 1565 und zeigt – in spanischer Mode – die Frau des Obervogts Ehrenfried Senfft von Sulburg, 1595 wurde das Epitaph des Bürgermeisters Kaspar Murschel, 1605 das der Magdalena von Tegernau im Chor angebracht. 1612 befahl Herzog Johann Friedrich die Ausmalung der Kirche. Die heute nahezu übertünchte Ausmalung mit biblischen Geschichten erfolgte durch den Maler Melchior Drescher aus Rottweil. Damals entstand auch die Wappenscheibe der württembergischen Herzöge, die sich heute in der Zehntscheune Balingen befindet.1760 wurde der Kirchturm mit der Sonnenuhr des Philipp Matthäus Hahn ausgestattet. Der Große Stadtbrand von 1809 erfasste auch den Innenraum der Kirche, insbesondere die Orgel. 1861/62 werden sämtliche Schlusssteine und Konsolen überstrichen, ebenso die Bemalung von 1613. 1913/14 wurde die gesamte Kirche innen und außen renoviert und die fehlenden Gewölbe im Mittel- und Seitenschiff eingezogen, die Kanzel wurde versetzt. Seit 1978 wurden beginnend am Turmdach, Turm und Kirchenschiff renoviert. Die Wiedereinweihung erfolgte 1990.

Architektur

Turm

Im Kern geht der spätgotische Kirchenbau auf die erstmals 1342 erwähnte Nikolauskapelle zurück. Bauhistorische Befunde belegen einen groß angelegten gotischen Umbau, auf den der Chor und der Chorturm zurückgehen. Laut Inschrift am Chorhaupt, an der Ostwand des Chores, wurde dieser im Jahr 1443 begonnen. Entwurf und Ausführung lag zunächst in den Händen der Baumeisterfamilie Jörg, dann des Meisters Franz. Das Joerg-Wappen, ein Sparren mit drei Sternen, erscheint über dem westlichen Schlussstein des Chores. Es entstand ein nur einschiffiges, schmaleres Langhaus in heutiger Länge. Die Rippen ruhen auf Brustbildern der Aposteln, Evangelisten und Propheten, aus den Schlusssteinen schauen Heiligenfiguren. Wegen des Todes Hänslin Jörg des Jüngeren blieb der Turm 1490 zunächst unvollendet. Er erhielt ein Wächterhaus mit Ziegeldach. Erst 1541 erhielt er durch den Steinmetz Meister Stephan seine charakteristische und unverwechselbare Gestalt. Der dann aufgesetzte Helm erhielt ein Kupferdach. Dendrochronologische Untersuchungen am noch erhaltenen Dachwerk des 15. Jh. ergeben, dass das Dach um 1455 aufgeschlagen wurde, so dass hier das ungefähre Ende der Umbaumaßnahme angenommen werden kann. Das Maßwerk der drei großen Chorfenster ist um 1470 entstanden, das der kleineren Hochfenster an der Nord- und Südwand des Chores und am Westgiebel ist vermutlich älter. Nur sie sind noch mit Butzenscheiben ausgestattet. Um ein halbes Jahrhundert jünger ist das Maßwerk der Fenster des Kirchenschiffs. Die dreischiffige Staffelhalle mit Seitenkapellen zwischen den eingezogenen Strebepfeilern geht auf eine Veränderung des frühen 16. Jh. zurück (1510–1516), eine Arbeit des Meisters Franz von Tübingen. Um die Jahrhundertwende wurde der Chor renoviert. Die damals neu verglasten Fenster wurden von Kommerzienrat Behr gestiftet, dem Inhaber der ältesten und größten Trikotwarenfabrik Balingens. Die Einwölbung des Mittelschiffs erfolgte erst bei einer grundlegenden Renovierung 1913 bis 1919 als Betonkonstruktion über den mittelalterlichen Rippenanfängen.

Ausstattung

Epitaph der Elisabetha Senfft von Sulburg, Ehefrau des Balinger Obervogts Ehrenfried Senft von Sulburg (1560–1587)

Epitaphe und Grabplatten

  • Steinerne Grabplatte des Friedrich von Zollern-Schalksburg (gest. 1403). Sie zeigt den schräggestellten Zollernschild mit den Bracken als Helmzier und das mütterliche Kyburger Wappen. 1403 wurde der einzige Sohn des Grafen Friedrich von Zollern-Schalksburg und der Verena von Kyburg in der Nikolaus- und Liebfrauenkapelle bestattet. Sein frühzeitiger Tod soll den Verkauf der Herrschaft und der Stadt Balingen an Württemberg ausgelöst haben. Seine Grabplatte wurde bei Umbaumaßnahmen in die Südwand eingelassen.
  • Grabplatte der Katharina von Anweil, Ehefrau des Obervogts Hans Caspar von Anweil (1551)
  • Steinerne Grabplatte der Elisabeth Senfft von Sulburg, geborene von Karpffen, Ehefrau des Obervogts in Balingen (1565)
  • Holzepitaph des Balinger Bürgermeisters Caspar Murschel (1595) (Werk des Simon Schweizer, Balingen)
  • Steinerne Grabplatte der Magdalena von Tegernau (gest. 1609), Ehefrau des Obervogts Friedrich von Tegernau in Balingen (1600–1629)
  • Grabplatte des Wolf Erasmus von Gruental, Sohn des Tübinger Obervogts Hans Joachim von Grüntal (1636)
  • Steinerne Grabplatte der Amalia Barbara Gräfin zu Candel (gest. 1668), Ehefrau des Obervogts Karl Philibert Ferrere Fiesce Graf von Candel
  • Steinerne Grabplatte der 1650, noch nicht einjährig, verstorbenen Tochter Katharina Friederika Gräfin zu Candel
  • Grabplatte des Magisters Georg Christoph Hoffmann

Bauplastiken

„Apokalyptisches Weib“-Schlussstein Stadtkirche (Balingen)
  • Gewölbeschlusssteine („apokalyptisches Weib“, Maria mit dem Jesuskind, bekleidet mit der Sonne, zu ihren Füßen der Mond als Sinnbild des Bösen, St Nikolaus, St. Sebastian; Wappen der Grafschaft Wirtemberg, des Bistums Konstanz und der Stadt Balingen)
  • Bildplastik des Kirchenlehrers Hieronymus
  • Reliefbildnisse alttestamentlicher Priesterkönige, von Aposteln und Evangelisten (um 1510/1516) (Meister Franz von Tübingen)

Skulpturen

Inventar

Orgel

Der Haußdörffer-Silbermann-Prospekt mit Spielschrank

Die erste in der Stadtkirche nachgewiesene Orgel wurde 1661 vom Orgelbauer Hans Georg Ehemann (Ulm), der später Hoforgelbauer in Stuttgart war, gebaut. Das Instrument stand wohl im Chor auf einer Empore. 1765 war es in einem so schlechten Zustand, dass laut Kirchenkonventsprotokoll nur ein Neubau oder eine sehr gründliche Reparation in Frage kamen.

Der Tübinger Orgelmacher Johann Sigmund Haussdörffer wurde mit dem Neubau beauftragt, starb aber kurz vor Vollendung der Kirche. Sein Gehilfe und Schwiegersohn Hans Rüdiger, auch Rudigier geschrieben, vollendete das Werk. Am 24. Dezember 1767 wurde die Orgel eingeweiht. Haussdörffer war ein Enkelschüler von Gottfried Silbermann und brachte dessen Prospektform nach Württemberg. Der Prospekt konnte auf Intervention des Kunsthistorikers Pfeffer bei der großen Kirchenrenovierung 1913/14 erhalten werden und wurde nicht durch einen, damals modernen, neugotischen Prospekt ersetzt. Die Orgel verfügte über 2 Manuale mit 22 Registern.

Gesamtansicht der Orgel mit Brüstungspositiven und Brüstungsfiguren

In den Jahren 1786, 1803, 1811, 1833 und 1865 erfolgten Reparaturen. 1833 wurde der Spielschrank durch einen freistehenden Spieltisch ersetzt.

Im Zuge der großen Kirchenrenovierung 1913/14 baute die Giengener Orgelmanufaktur Gebr. Link ein neues Werk hinter den barocken Prospekt. Es verfügte über modernste Kegelladen und pneumatische Spieltraktur und hatte 32 Register auf zwei Manualen und Pedal. Das Instrument war spätromantisch intoniert, mit starkem grundtönigem Charakter. Bei Umbauten in den Jahren 1934, 1942 und 1948 unter dem Balinger Organisten Hermann Rehm wurde die Intonation barockisiert und der Klang aufgehellt. Das Orgelwerk wurde auf 48 Register verteilt auf drei Manuale ausgebaut. Das dritte Manual wurde dabei 1948 auf zwei Brüstungspositive verteilt.

1973 wurde die Orgel von Orgelbau Friedrich Weigle grundlegend umgebaut. Hauptwerk und Schwellwerk und das Pedalwerk wurden auf mechanische Spieltraktur mit neuer Schleiflade umgebaut. Der alte Spielschrank wurde wieder hergestellt. Die beiden Rückpositive wurden mit eigenen Manualen versehen, die aber, aus Kostengründen, noch elektro-pneumatisch betrieben wurden. Im Rahmen einer geplanten umfassenden Innen- und Außenrenovation der Kirche wurde ein Neubau der Brüstungspositive von 1948 geplant. 1987 baute der Orgelbaumeister Diethelm Berner (Stuttgart-Botnang) das III. und IV. Manual komplett um stattete beide Werke mit mechanischen Traktoren aus. Die barocke Marmorierung der Orgel und der Orgelempore wurde wieder hergestellt, die neuen Brüstungswerke wurden in Stilkopie dem Haußdörffer-Silbermann-Prospekt angepasst. Auch die Brüstungsfiguren erhielten ihre Erstfassung.

Das Instrument hat heute 54 Register mit 3952 Pfeifen auf vier Manualwerken und Pedal. Die Spieltraktur ist mechanisch, die Registertraktur ist elektrisch.[1]

I Hauptwerk C–g3
01.Quintade16′
02.Praestant08′
03.Gedeckt08′
04.Gambe08′
05.Oktave04′
06.Rohrflöte04′
07.Quinte0223
08.Blockflöte02′
09.Rauschpfeife IV0223
10.Mixtur V02′
11.Kornett III-V0223
12.Fagott16′
13.Trompete08′
Tremulant
II Schwellwerk C–g3
14.Gedeckt16′
15.Flöte08′
16.Harfoktave08′
17.Quintatön08′
18.Salicional08′
19.Schwebung08′
20.Prinzipal04′
21.Gedecktflöte04′
22.Nasat0223
23.Schweizerpfeife 002′
24.Terzflöte0135
25.Sifflöte01′
26.Larigot II02′
27.Quintan II0113
28.Scharff IV023
29.Oboe08′
30.Clairon04'
Tremulant
III Brüstungspositiv Nord C–g3
31.Rohrgedackt8′
32.Spillflöte4′
33.Prinzipal2′
34.Zimbel III 014
35.Schalmei4′
Tremulant

IV Brüstungspositiv Süd C–g3
36.Gedecktpommer8′
37.Violprinzipal4′
38.Gemshorn2′
39.Quinte113
40.Terz-Septime II 0135
41.Krummhorn8'
Tremulant
Pedalwerk C–f1
42.Prinzipalbass16′
43.Subbass16′
44.Quintbass1023
45.Oktavbass08′
46.Gemsbass08′
47.Nachthorn04′
48.Hohlflöte02′
49.Choralbass III04′
50.Basszink III0513
51.Hintersatz VI0223
52.Posaune16′
53.Trompetenbass08′
54.Singend Kornett02′
Tremulant für Kleinpedale
  • Koppeln
    • Normalkoppeln: I/II, II/I, III/I, III/II, IV/I, IV/II, IV/III, I/P, II/P, III/P, IV/P
    • Suboktavkoppeln: II/I, II/II
  • Spielhilfen: 10.000-fache Setzeranlage, 4 freie Kombinationen, 2 freie Pedalkombinationen, Tutti, Pianopedal, Zungenabsteller, Crescendowalze
  • Effektregister: Zimbelstern

Geläut

Im Turm der Stadtkirche hängt ein siebenstimmiges Geläut, welches zu den größten Geläuten Württembergs zählt. 1948 erhielt die Kirche ein fünfstimmiges Geläut, gegossen in der Gießerei Kurtz aus Stuttgart. 1955 wurde das Geläut nach unten um Glocke 2 („Gloriosa“) erweitert; 2009 wurde mit der Friedensglocke die heute tontiefste Glocke von der Gießerei Bachert aus Karlsruhe gegossen.[2][3]

Nr.
 
Name
 
Gussjahr
 
Gießer
 
Masse
(kg)
Durchmesser
(mm)
Nominal
 
Inschrift
 
1Friedensglocke2009Albert Bachert,
Karlsruhe
54641940gis0Ehre sei Gott und Friede auf Erden
2Gloriosa
(Festtagsglocke)
1955Heinrich Kurtz,
Stuttgart
27531643h0Ehre sei dem Vater und dem Sohne und dem Heiligen Geist
3Ewigkeitsglocke
(Christusglocke)
194819451460cis1Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit
4Abendglocke
(Betglocke)
10921230e1Wachet und betet
5Tagesglocke
(Kreuzglocke)
8171090fis1O Land, Land, Land, höre des Herrn Wort
6Morgenglocke572970gis1Seine Barmherzigkeit ist alle Morgen neu
7Taufglocke319810h1Lasset die Kindlein zu mir kommen
8Segensglocke14. Jhd.113,5550gis2

Literatur

  • Balingen. In: Ministerium des Kirchen- und Schulwesens (Hrsg.): Die Kunst- und Altertumsdenkmale im Königreich Württemberg, Inventar Schwarzwaldkreis. Stuttgart 1897, S. 1421.
  • Kurt Wedler: Ist Aberlin Joerg der Baumeister der Balinger Stadtkirche. In: Heimatkundliche Blätter Balingen. Jg. 7 (1960) Nr. 12, S. 337 f.
  • Eugen Gröner: Die älteste und historisch wichtigste Grabplatte der Evangelischen Stadtkirche Balingen. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 32 (1985) Nr. 3, S. 492.
  • Eugen Gröner: Die Fenster der Balinger Stadtkirche. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 33 (1986) Nr. 12, S. 573 f.
  • Eugen Gröner: Vor 475 Jahren geschaffen. Die Kanzel der Balinger Stadtkirche. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 34 (1987) Nr. 2, S. 581 f.
  • Eugen Gröner: Figürlicher Schmuck in der Balinger Stadtkirche. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 34 (1987) Nr. 5, S. 592 f.
  • Eugen Gröner: Das große Kruzifix und der Kanzeldeckel in der Balinger Stadtkirche – 375 Jahre alt. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 35 (1988) Nr. 9, S. 657 f.
  • Eugen Gröner: Die Evangelische Stadtkirche zu Balingen. Ihre Baugeschichte neu geschrieben. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 36 (1989), Nr. 4–6, S. 685 f., 689 f., 693 f.
  • Evangelische Kirchengemeinde Stadtkirche Balingen (Hrsg.): Stadtkirche Balingen. Balingen 1990.
  • Eugen Gröner: Uhren auf dem Turm der Stadtkirche in Balingen. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 38 (1991) Nr. 6, S. 789.
  • Eugen Gröner: Balinger Stadtkirche vor mehr als 200 Jahren. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 38 (1991) Nr. 6, S. 816
  • Eugen Gröner: Balinger Kirchturm vor genau 450 Jahren vollendet. In: Heimatkundliche Blätter Balingen (= Heimatkundliche Blätter Zollernalb.) Jg. 38 (1991) Nr. 8, S. 797 f.
  • Eugen Gröner: Balinger Stadtkirche feiert Doppeljubiläum Vor 650 Jahren erste urkundliche Erwähnung – Vor 550 Jahren Beginn des Umbaues. Jg. 40 (1993) Nr. 4, 877 f.
  • Stadtverwaltung Balingen (Hrsg.): 750 Jahre Stadt Balingen 1255–2005 (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs. Band 7, 2005) ISBN 3-00-017595-4

Einzelnachweise

Commons: Stadtkirche Balingen – Sammlung von Bildern, Videos und Audiodateien

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