Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden
Werktätige des Bezirkes fordern: Staatsfeindlichkeit nicht länger dulden war der Titel eines vom Kampfgruppenkommandeur Günter Lutz verfassten Textes, der am 6. Oktober 1989 in der Leipziger Volkszeitung (LVZ) erschien. In dem als Leserbrief gekennzeichneten Schreiben wandte sich Lutz angeblich im Auftrag der Kampfgruppenhundertschaft Hans Geiffert gegen die Montagsdemonstrationen in Leipzig und kündigte an, dass die Kampfgruppen der Arbeiterklasse bereit seien, „das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand“. Der martialische Ton des Aufrufs und die Drohung mit Gewalt sorgten für Empörung. Der Brief wird oft als ein Katalysator für die Montagsdemonstrationen in Leipzig und damit auch für die Wende und friedliche Revolution in der DDR gesehen.
Vorgeschichte
Aufgrund der massiven Ausreisewelle, der Reformen in anderen Staaten des Ostblocks, der fehlenden Reformbereitschaft der DDR- und SED-Führung um Erich Honecker sowie aufgrund der Wahlfälschungen bei den Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 wuchs die Oppositionsbewegung in der DDR stark an. Ab September 1989 fanden in Leipzig nach Gebeten in mehreren Kirchen Demonstrationen statt, die oft gewaltsam unterbunden wurden. Für den Nationalfeiertag der DDR am 7. Oktober erwartete die Staats- und Parteiführung ebenfalls Demonstrationen. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse waren nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 gebildet worden, auch, um eventuelle Proteste niederzuwerfen. Am 27. September 1989 forderte die SED-Bezirksleitung Leipzig, dass aus den Kampfgruppen Stellungnahmen zu „organisieren“ sein, in denen sich die Angehörigen der Kampfgruppen öffentlich zu ihrer Bereitschaft bekennen, die DDR „mit der Waffe gegen innere und äußere Feinde zu verteidigen“. Am 5. Oktober 1989 erschien in der LVZ ein Brief eines Kampfgruppenkommandeurs unter dem Titel „Nicht nur zusehen“.
Der „Leserbrief“ von Günter Lutz und die Folgen
In dem am 6. Oktober 1989 auf der zweiten Seite der LVZ erschienenen Text behauptete Lutz zunächst, dass „gewissenlose Elemente“ kirchliche Veranstaltungen „missbraucht[en,] [...] um staatsfeindliche Provokationen gegen die DDR durchzuführen“. Er erklärte, seine Kampfgruppe sei bereit, „das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene wirksam zu schützen, um diese konterrevolutionären Aktionen endgültig und wirksam zu unterbinden. Wenn es sein muss, mit der Waffe in der Hand“. Abschließend sprach Lutz den Demonstranten das Recht ab, Lieder und Losungen der Arbeiterbewegung zu verwenden.
Günter Lutz gehörte der Leitung des Baukombinats Leipzig an und war seit 25 Jahren Mitglied der Betriebskampfgruppe und der SED. Das Schreiben war zwar von Lutz verfasst worden, aber nicht zur Veröffentlichung in einer Zeitung bestimmt gewesen, sondern Lutz hatte es nur für den Gebrauch innerhalb der SED angefertigt. Die Stadtleitung der SED entschied sich dann ohne Absprache mit Lutz für die Veröffentlichung in der LVZ. Nach Lutz’ Angaben beruhte die Verfassung des Briefes auf einer falschen Einschätzung der Lage. Noch am selben Tag erhielt ein Günther Lutz (mit h), der anders als Günter Lutz im Telefonbuch stand, über hundert empörte Anrufe, sodass ihm die Deutsche Volkspolizei eine neue Telefonnummer zuweisen musste. Dem echten Günter Lutz wurde am 9. Oktober ein von Leipziger Bürgern unterschriebenes Protestschreiben zugestellt.
An diesem Tag demonstrierten über 70.000 Menschen friedlich in der Leipziger Innenstadt; die Proteste wurden nicht niedergeschlagen. Günter Lutz selber war an diesem Tag mit seiner Kampfgruppe im Einsatz und führte Gespräche mit Demonstranten. Der Kabarettist Bernd-Lutz Lange, der am 9. Oktober gemeinsam mit fünf weiteren Persönlichkeiten (Leipziger Sechs) einen Aufruf zur Gewaltlosigkeit veröffentlicht hatte, war im Nachhinein der Meinung, dass Lutz’ Brief letztlich „eine Revolution ausgelöst“ habe.
Die Betriebszeitung des Baukombinats veröffentlichte am 18. Oktober 1989 das Protestschreiben an Lutz und verurteilte es; auch wurde behauptet, dass viele Betriebsangehörige Lutz’ Standpunkt teilten. Die Junge Welt, die Zeitung der Freien Deutschen Jugend, veröffentlichte am 11. Oktober Lutz’ Brief und stimmte ihm zu.
Auch die westdeutsche Presse reagierte auf den Aufruf, insbesondere die Welt und die taz, der Leserbrief wurde als Gewaltankündigung aufgefasst. Die taz ließ auch den Bürgerrechtler Rolf Henrich zu Wort kommen, der von einem „eindeutigen Aufruf zur Gewaltanwendung“ sprach.[1] In der Wochenendausgabe der LVZ vom 21./22. Oktober 1989 erschien ein weiterer Artikel von Günter Lutz, in dem er behauptete, missverstanden worden zu sein; er sei zwar für Dialog, aber die Straße sei dazu kein geeigneter Ort. Es kam zu weiteren Anfeindungen gegenüber Lutz, wobei die SED-Parteileitung in der Stadt und im Bezirk Leipzig Lutz nicht unterstützte. Zwar entschied die Bezirksparteikontrollkommission, dass ein Artikel in der LVZ erscheinen solle, in dem klargestellt würde, dass der Brief ohne Lutz’ Zustimmung veröffentlicht worden war; dazu kam es jedoch nicht.
Literatur
- Steffen Reichert: Transformationsprozesse. Der Umbau der LVZ. LIT Verlag, Berlin 2000, ISBN 3-8258-4487-0, S. 108–117