Spolie
Spolien (von lateinisch spolium: „Beute, Raub, dem Feind Abgenommenes“) sind Bauteile und andere Überreste wie Teile von Reliefs oder Skulpturen, Friese und Architravsteine, Säulen- oder Kapitellreste, die aus Bauten älterer Kulturen stammen und in neuen Bauwerken wiederverwendet werden.
Der Einbau von Spolien kann – neben dem praktischen Nutzen – auch als Übertragung einer Tradition gemeint sein, wenn sie aus dem Vorgängerbau übernommen werden und als „Reliquien“ an hervorgehobener Stelle am Neubau wieder auftauchen. Dies gilt insbesondere, wenn Spolien stilistisch außerhalb des neueren architektonischen Gestaltungskonzeptes liegen. Die Heiligkeit eines Ortes kann auf diese Weise tradiert werden. Ein bruchstückhafter, versteckter oder verkehrter Einbau einer Spolie kann allerdings auch als demonstrative Kennzeichnung der Überwindung einer Vorgängerkultur aufgefasst werden.
Begriff
Auf die Architektur übertragen wurde der Begriff erstmals in der Renaissance. So berichtet der Florentiner Kanonikus Francesco Albertini in seiner Rombeschreibung aus dem Jahr 1510, die Porphyrsäulen in der Kapelle Papst Sixtus’ IV. in der Peterskirche seien „Spolia“ aus den Diokletiansthermen, und wenig später ist im sogenannten Raffaelsbrief an Papst Leo X. von den Spolien am Konstantinsbogen die Rede, dem Bauwerk, das dann für die moderne Forschungsdiskussion über Spolien von besonderer Bedeutung sein sollte.[1] Bereits Giorgio Vasari verwendete den Begriff in seiner fundamentalen Künstlergeschichte Le vite dei più eccellenti architetti, pittori et scultori italiani ganz selbstverständlich und über diese Schrift dürfte der Begriff dann auch im 20. Jahrhundert Einzug in die kunstgeschichtliche Forschung genommen haben.
Geschichte
Antike
Die Wiederverwendung von Baumaterialien gehörte in der Vormoderne, als Baumaterial teuer und meistens knapp war, zu den selbstverständlichen Praktiken des Baubetriebs, insbesondere wenn es sich um Materialien handelte, die sonst von weit her herangeholt werden müssten. So sind auch viele Spolien in der Architektur ohne künstlerische oder programmatische Absicht entstanden. In der Antike verwendete man etwa Gebäuderuinen als Steinbruch für Neubauten wie z. B. beim Mausoleum von Halikarnassos oder der Stadt Tralleis, aus deren Steinen die Neugründung Aydın errichtet wurde. Die justinianische Zisterne (Yerebatan Sarnıçı oder Yerebatan Sarayı) in Istanbul wird von Hunderten aus anderen Gebäuden stammenden meist korinthischen Säulen gestützt. Zwei von diesen sitzen auf monumentalen Medusenhäuptern als Basen auf.
Mittelalter
Spätestens seit der Romanik wurden Spolien auch geplant eingesetzt: So zeigen Kirchen manchmal komplette vorromanische oder westgotische, langobardische und iroschottische Portale (z. B. einige Kirchen und Kapellen in Aachen, Regensburg, Tuscania, Perpignan oder Romainmôtier); die Kathedrale von Syrakus birgt die Säulen eines vormals am gleichen Ort befindlichen griechischen Tempels. Skulpturen aus Byzanz, wie die in Porphyr gehauenen Statuen der Tetrarchen, zieren die Ecke des Markusdoms in Venedig; die Säulen der Pfalzkapelle in Aachen stammen aus Ravenna.
Die Grabsteine des jüdischen Friedhofs Regensburg wurden nach dessen Zerstörung vielfach umgenutzt.
Renaissance bis 19. Jahrhundert
Seit der Renaissance wurden Spolien vor allem als romantisches Zitat verwendet. Sie wurden gesammelt und gehandelt, um sie in scheinbarer Zufälligkeit, jedoch gut sichtbar, in Villen und Palästen zu verbauen. In dieser Tradition stehen auch die im 18. und 19. Jahrhundert errichteten künstlichen Ruinen, die allerdings meist keine Spolien mehr enthalten ― Ausnahmen sind beispielsweise die Eberhardsburg im Eulbacher Park oder auch die Löwenburg im Kasseler Bergpark Wilhelmshöhe, hier sollte die Verwendung von älteren Bauteilen die "Authentizität" der Ruine suggerieren.[2] Spolien in größerem Ausmaß waren zentrale Gestaltungselemente in einigen romantisch-historisierenden Schauburgen, wie etwa der Franzensburg im Schlosspark Laxenburg, der Burg Liechtenstein und, in besonders exzessivem Ausmaß, der Burg Kreuzenstein.
Gegenwart
In der Gegenwart werden Spolien meist ebenfalls aus eher dekorativen Gründen und als originelles Gestaltungselement eingesetzt, manchmal aber auch aus historischen Gründen als Erinnerung an ein Vorgängergebäude. Ein Beispiel aus dem Jahr 2009 ist die Wohnanlage "Klostergarten Lehel"[3] von Hild und K Architektur. Im Sinne der Denkmalpflege wird letzteres kritisch gesehen, da nur einzelne Bruchstücke eines Denkmals erhalten bleiben und diese zusammenhanglos integriert werden. Zudem besteht die Gefahr, dass durch unseriösen Handel mit dekorativen Bauteilen kulturgeschichtlich bedeutsame Bauwerke ausgeschlachtet werden.
Sonstiges
Auch antike Gemmen und Reliefs auf mittelalterlichen Buchdeckeln und Reliquiaren können Spolien genannt werden.
Literatur
- Friedrich Wilhelm Deichmann: Die Spolien in der spätantiken Architektur. Beck, München 1975, ISBN 3-7696-1473-9 (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften München, Philosophisch-Historische Klasse; 1975, Heft 6).
- Joachim Poeschke (Hrsg.): Antike Spolien in der Architektur des Mittelalters und der Renaissance. München 1996, ISBN 3-7774-6870-3.
- Arnold Esch: Wiederverwendung von Antike im Mittelalter. Die Sicht des Archäologen und die Sicht des Historikers. Berlin 2005, ISBN 3-11-018426-5 (Hans-Lietzmann-Vorlesungen; 7).
- Richard Brilliant, Dale Kinney (Hrsg.): Reuse Value. Spolia and Appropriation in Art and Architecture, from Constantine to Sherrie Levine. Ashgate, Farnham 2011, ISBN 978-1-4094-2422-2.
- Stefan Altekamp, Carmen Marcks-Jacobs, Peter Seiler (Hrsg.): Perspektiven der Spolienforschung 1. Spoliierung und Transposition. Topoi. Berlin Studies of the Ancient World Vol. 15, De Gruyter, Berlin/Boston 2013, ISBN 978-3-11-029105-6.
- Hans-Rudolf Meier: Spolien. Phänomene der Wiederverwendung in der Architektur. Jovis, Berlin 2020, ISBN 978-3-86859-651-9.
Weblinks
Einzelnachweise
- Hans-Rudolf Meier: Die Anfänge des neuzeitlichen Spolienbegriffs bei Raffael und Vasari und der Konstantinsbogen als Paradigma der Deutungsmuster für den Spoliengebrauch, in: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft Jahrgang 2007, Heft 1, ISSN 0027-299X, Seite 2.
- Die Löwenburg im Schlosspark Wilhelmshöhe von Anja Doetsch, S. 129
- Klostergarten Lehel. In: Hild und K Architekten. Abgerufen am 18. Juli 2020 (deutsch).