Savoyerhandel
Der Savoyerhandel (auch: Savoyer Handel) war ein Konflikt zwischen dem Französischen Kaiserreich unter Napoleon III. und der Schweiz in den Jahren 1859 und 1860. Streitpunkt war die strategisch bedeutsame Region südlich des Genfersees mit damals etwa 275'000 Einwohnern, die dem heutigen französischen Département Haute-Savoie entspricht.
Vorgeschichte
Savoyen, zwischen 1792 und 1815 von Frankreich annektiert, war auf dem Wiener Kongress an das Königreich Sardinien-Piemont zurückgegeben worden. Der Schweiz wurde dabei das Recht zugestanden, im Kriegsfall zum Schutz der schweizerischen Neutralität die nordsavoyischen Provinzen Chablais und Faucigny besetzen zu dürfen.
Die Krise
Während des Zweiten Italienischen Unabhängigkeitskrieges, bei dem Sardinien-Piemont im Bund mit Frankreich gegen Österreich stand, machte die neutrale Schweiz keinen Gebrauch von ihrem Besetzungsrecht und duldete den Transport französischer Truppenteile durch Hochsavoyen. Als jedoch Ende 1859 deutlich wurde, dass dem Bündnis eine geheime Absprache vorhergegangen war, der zufolge Piemont seine hochsavoyischen Provinzen an Frankreich abtreten würde, sah die Schweizer Regierung darin eine schwerwiegende Neutralitätsverletzung und wurde diplomatisch aktiv.
Anfang 1860 führte der Schweizer Gesandte in Paris, Johann Konrad Kern, Gespräche mit dem Ziel einer Angliederung Hochsavoyens an die Schweiz. Dabei teilte der französischen Außenminister ihm mit, «der Kaiser werde im Falle der noch sehr zweifelhaften Annexion, der eine Abstimmung der Savoyarden vorangehen müsse, aus Sympathie für die Schweiz sich ein Vergnügen machen, ihr Chablais und Faucigny als eigenes Territorium zu überlassen.»[1]
Jakob Stämpfli, einflussreiches Mitglied der Regierung, misstraute dieser Erklärung, insistierte auf schriftlichen Garantien und entfachte – entgegen diplomatischer Gepflogenheit – zur gleichen Zeit eine Kampagne, die sich für die militärische Besetzung und Annexion Hochsavoyens starkmachte. Auf dem radikalen Flügel der Liberalen fand er damit grossen Widerhall, zumal Napoleon dort als Despot und Zerstörer der Französischen Republik verhasst war. Stimmen wurden laut, die Neutralität als „Bastard der Restauration“ aufzugeben, doch überwog der Wille, sie beizubehalten. Nur gingen die Meinungen darüber, was der Wahrung der Neutralität zuträglicher sei und ihrem Geist besser entspreche, gewaltsames Vorgehen oder Duldung des „Länderschachers“, weit auseinander; dies sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Regierung, wo Bundesrat Friedrich Frey-Herosé für eine nicht-militärische Lösung eintrat. Zugleich war die Bereitschaft der Bevölkerung, es auf einen Krieg ankommen zu lassen, viel geringer als im vorausgegangenen Neuenburgerhandel, wo eine allgemeine Volksbewegung zur militärischen Abwehr der preussischen Interventionsdrohung stattgefunden hatte.
Am 24. März 1860 trat König Viktor Emanuel II. im Vertrag von Turin Savoyen und Nizza an Frankreich ab. Daraufhin verlangte Stämpfli von der Bundesversammlung Vollmacht für die Regierung, der französischen Okkupation durch den Einmarsch in Hochsavoyen zuvorzukommen. Die Versammlung entschied dagegen und stimmte für den Antrag der gemässigt-liberalen Politiker Alfred Escher und Jakob Dubs, Berichterstatter der zur Klärung der Rechtsfragen eingesetzten Kommission. Dieser Antrag erklärte die diplomatischen Mittel für nicht erschöpft und verpflichtete die Regierung auf weitere Verhandlungen.
Über diese Entscheidung schrieb der Schweizer Historiker Edgar Bonjour:
„Es sind die kühlen Ostschweizer gewesen, die Vertreter von Handel und Industrie, die dem Bundesrat diese eklatante Niederlage bereitet haben. Wären sie ihm nicht in den Arm gefallen, so hätte die Schweiz ohne einen klaren Rechtstitel, ohne Beweis eines Anspruchs, Savoyen besetzen und damit den Krieg mit zwei Gegnern, Frankreich und Sardinien, auf sich nehmen müssen, ohne Hilfe durch die (anderen) Mächte; überdies wären Volk und Behörden uneinig in diesen kriegerischen Konflikt getreten. Der Schweiz stand nur das Recht zu, im Krieg um der Neutralität willen und bloß vorübergehend, Savoyen zu okkupieren, nicht aber im vollen Frieden; sie besaß dort keine Herrschaftsrechte. Darum war es eine unhaltbare Absicht, Sardinien zu verbieten, das Land zu veräußern, und Frankreich gewissermaßen am Antritt des Landes zu hindern, dies umso mehr, als Napoleon längst eingewilligt hatte, das Servitut[2] auf sich zu nehmen. Natürlich hätte es für die Neutralität der Schweiz einen großen Vorteil bedeutet, wenn Hochsavoyen und damit das ganze weite Genferseebecken schweizerisch geworden wäre. Die Möglichkeit zu einer solchen Lösung war jetzt aber gründlich verscherzt.[3]“
Im weiteren Fortgang der Krise kam es am 30. März zu einem Zwischenfall, als 150 Freischärler, Genfer und Savoyarden, ein Dampfboot kaperten und damit in Evian landeten. Sie wurden von regulärem schweizerischem Militär umgehend zurückeskortiert.[4]
Napoleon veranstaltete am 22. April 1860 das angekündigte Plebiszit, bei welchem Hochsavoyen eine Freihandelszone mit der Schweiz in Aussicht gestellt wurde. Angesichts dieser Aussicht und der ohnehin vollendeten Tatsachen stimmten die Wahlberechtigten (volljährige Männer) weit überwiegend mit «oui et zone».
Nachwirkung
Die Erbitterung in der Schweiz war gross und hielt lange an. Viele sahen ihr Misstrauen bestätigt und warfen dem französischen Alleinherrscher Wortbruch und Wahlmanipulation vor. Die Regierung verstärkte den bereits angeordneten Aktivdienst, vor allem um weitere Provokationen von schweizerischen und savoyardischen Irregulären zu unterbinden.[4] Im Herbst 1860 erreichte Frey-Herosé nur knapp seine Wiederwahl. In Zürich bildete sich unter der Federführung Gottfried Kellers eine Wahlinitiative gegen die Gefolgschaft von Escher und Dubs im Nationalrat, die allerdings erfolglos blieb. Die Situation entschärfte sich erst allmählich, als Napoleon die im Vertrag von Turin erneuerte Neutralitätsgarantie für Hochsavoyen[5] einhielt und sich mit der Einrichtung einer Zivilverwaltung begnügte. Am 9. November 1870, also während des Deutsch-Französischen Krieges, wurde bekannt, dass der Bundesrat mit der Absicht spielte, Nord-Savoyen militärisch zu besetzen. Der Schweiz war völkerrechtlich zwar ein solches Recht zugebilligt, aber nur defensiv im Falle einer Neutralitätsverletzung, wie Nationalrat Alfred Escher im Parlament betonte, welches dem Bundesrat das Vorhaben verwehrte.[6]
Da die Schweiz die Annexion nicht anerkannte, blieb die Savoyerfrage lange Zeit unerledigt. Sie beschäftigte 1919 noch die Versailler Friedenskonferenz – in diesem Jahr wurde auch die Freihandelszone aufgehoben – und bis 1932 mehrfach den Internationalen Gerichtshof in Den Haag.
Literatur
- Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. Drei Jahrhunderte eidgenössische Außenpolitik. Verlag von Helbing und Lichtenhahn. Basel 1946.
Weblinks
- Rita Stöckli: Savoyerhandel. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Jean-Jacques Bouquet: Chablais. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Artikel Genf im Schutz der Luzerner Artillerie (PDF; 297 kB) von Werner Lustenberger.
Einzelnachweise
- Zitiert nach Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. Basel 1946, S. 261.
- Hier: die Respektierung der schweizerischen Neutralität.
- Edgar Bonjour: Geschichte der schweizerischen Neutralität. S. 266.
- Vgl. den Artikel Genf im Schutz der Luzerner Artillerie unter Weblinks.
- Siehe Art. 2 des Vertragstextes (französisch).
- Ernst Gagliardi: Geschichte der Schweiz. 1927, Band 3, S. 92 ff.