SYNGAP-Syndrom

Das SYNGAP-Syndrom (auch SYNGAP1-Syndrom genannt) ist eine sehr seltene angeborene Erkrankung mit dem Hauptmerkmal einer geistigen Behinderung. In der Vergangenheit wurde die Erkrankung auch als mentale Retardierung 5 (MRD5) bezeichnet und zu den nicht-syndromalen, autosomal-dominanten mentalen Retardierungen gezählt.[1] Inzwischen wird die Gesamtheit der Symptome jedoch als Syndrom bezeichnet.

Klassifikation nach ICD-10
F79 Nicht näher bezeichnete Intelligenzminderung
ICD-10 online (WHO-Version 2019)

Häufigkeit

Der Bridge t​he Gap Foundation zufolge sollen e​twa 1–2 % d​er geistig behinderten Menschen v​om Syngap-Syndrom betroffen sein. Bei e​iner Anzahl v​on 420.000 geistig behinderten Menschen i​n Deutschland[2] ergibt s​ich eine Häufigkeit v​on etwa 1:10.000 b​is 1:20.000.

Ursache

Zugrunde l​iegt eine Mutation i​m SYNGAP1-Gen. Es befindet s​ich auf d​em kurzen Arm (p-Arm) v​on Chromosom 6, e​s kodiert für e​in RasGTPase aktivierendes Synapsenprotein.[3]

Klinische Erscheinungen

Die Hauptsymptome d​es Syngap-Syndroms sind:

  • Globale Entwicklungsverzögerung bzw. Entwicklungsstörung
    • Motorische Entwicklung
      Die Meilensteine der Entwicklung erreichen Syngap-Patienten meist später als normal entwickelte Kinder. Das fällt Eltern und Kinderärzten oft schon im 1. Lebensjahr durch Muskelhypotonie auf. Dadurch ist die motorische Entwicklung deutlich verlangsamt und die betroffenen Kinder lernen später Laufen. Später fallen sie durch einen breitbeinigen, staksigen Gang auf.[4] Auch die Feinmotorik ist stark beeinträchtigt und zeigt sich bei vielen Kindern als ausgeprägte Dyspraxie.
    • Sprachliche Entwicklung
      Bereits beim Neugeborenen fällt eine schlechte Mundmotorik auf, z. B. in Form von Fütterungsproblemen und verringertem Lautieren. Typisch für betroffene Kinder ist auch ein zeitweises Herausragen der Zungenspitze zwischen den Lippen – eine Folge der Hypotonie der Mundmuskulatur. Bereits erworbene Laute und Silben werden oft wieder verlernt. In höherem Alter wird oft eine verbale Entwicklungsdyspraxie (VED) oder Apraxie diagnostiziert. Die meisten Syngap-Patienten sind non-verbal oder haben einen sehr geringen Wortschatz von nur wenigen Begriffen oder Silben. Einige Kinder sind aber in der Lage, einfache schriftliche Kommunikation zu erlernen. Um ihre Bedürfnisse zu äußern, nutzen die Betroffenen sowohl die körpereigene Sprache (Gestik und Mimik) als auch Mittel der Unterstützten Kommunikation (wie Gebärden, Symbolkarten und komplexe Kommunikationshilfen, auch Talker genannt)
    • Geistige Entwicklung
      Einige Kinder fallen schon bei frühen Entwicklungstests durch eine verlangsamte kognitive Entwicklung auf, was in ärztlichen Berichten dann als mentale Retardierung bezeichnet wird. Bei späteren Intelligenztests liegen die Patienten im Bereich der mittleren bis schweren geistigen Behinderung.[5]
  • Epilepsie
    Eltern bemerken die epileptischen Anfälle erstmals bewusst im Alter von 2–3 Jahren. Doch meistens realisieren sie erst im Nachhinein, dass schon viel früher (im 1. Lebensjahr) erste Anzeichen von Anfällen zu sehen waren. Diese zeigen sich als (atypische) Absencen (Starren oder Innehalten), Lidmyoklonien (Lidflattern), myoklonisch-astatische Anfälle (Augenrollen mit kurzem Tonusverlust), Sturzanfälle (plötzliches Umfallen). Dabei ähneln die Anfälle denen des Doose-Syndroms.[5][4]
    Im EEG zeigen sich die Anfälle beginnend im Sehzentrum (Okzipitallappen) und sekundär generalisierend. Das äußert sich meist auch im klinischen Bild durch einen auffälligen Blick mit anschließendem Tonusverlust. In vielen Fällen bleibt das EEG aber auch unspezifisch.
    • Auslöser: Die epileptischen Anfälle werden vor allem durch Müdigkeit, Stress und sensorische Reize ausgelöst. Besonders auffällig sind bei Syngap-Patienten epileptische Anfälle, die durch Essen ausgelöst werden (Reflexepilepsie). Diese kurzen, meist nur ein paar Sekunden dauernden Anfälle werden oft erst viel zu spät als Epilepsie wahrgenommen und insbesondere bei kleineren Kindern als Müdigkeit oder genussvolles Essen fehlinterpretiert. Daher sollten Eltern von (möglichen) Syngap-Kindern versuchen, die Essenssituation auf einem Video für den behandelnden Kinderarzt oder Neurologen festzuhalten. Im EEG, insbesondere bei einem Schlaf-EEG, können diese Patienten völlig unauffällig sein oder das EEG wird als auffällig, aber nicht pathogen bezeichnet. Gib man ihnen jedoch im Wach-EEG etwas zu Essen, so zeigt sich bei vielen Patienten ein typisches EEG-Muster.
  • Autismus und Verhalten
    Etwa 50 % der Syngap-Patienten haben eine diagnostizierte Autismus-Spektrum-Störung. Nach der klassischen Einteilung würde man die autistischen Symptome wohl am ehesten dem atypischen Autismus zuordnen. Vermutlich liegt die tatsächliche Zahl der von Autismus Betroffenen jedoch deutlich höher, da die Autismusdiagnostik bei nonverbalen, geistig behinderten Menschen mit Dyspraxie nicht einfach ist. Außerdem kann es zu Verhaltensauffälligkeiten wie Impulsivität und Aggressivität kommen.
    Besonders auffällig sind jedoch obsessive Verhaltensweisen. Syngap-Kinder lieben vor allem Wasser und Musik, aber auch Dinge wie Ventilatoren, Aufzüge, Rolltreppen, Schalter, Glasdächer und räumliche Perspektive in Bewegung (z. B. Tunnel, Autofahren). Sobald sie das Bedürfnis danach verspüren, erscheinen sie ungewöhnlich stark motiviert. Wird ihnen jedoch der Zugang zum Objekt der Begierde verweigert, setzen sie aufgrund der fehlenden Sprache sämtliche körperlichen Mittel ein, um ihren Willen durchzusetzen.
  • Sonstige Merkmale
    Verstopfung, Stuhlinkontinenz, Schlafprobleme, platte Füße[6]

Diagnose

Die Diagnose d​es SYNGAP-Syndroms k​ann ausschließlich d​urch einen Gentest erfolgen. Dabei w​ird in d​er Humangenetik d​as SYNGAP1-Gen a​uf Veränderungen untersucht. Diese Analyse erfolgt einerseits m​it einem Einzelgentest a​ls Sanger-Sequenzierung. Andererseits bieten verschiedene Labore unterschiedliche Genpanel an, b​ei denen s​ie das SYNGAP1-Gen mittels Next-Generation-Sequencing analysieren. Je n​ach Labor k​ann das e​in Genpanel für Entwicklungsstörungen, mentale Retardierung, Epilepsie, epileptische Enzephalopathie o​der Autismus sein.[7]

Therapie

Eine ursächliche Therapie w​urde weltweit erstmals erfolgreich d​urch die Arbeitsgruppe v​on Gerhard Kluger a​n der Schön Klinik i​n Vogtareuth i​m Rahmen e​iner Einzelfallbeobachtung m​it Statinen erprobt.[8] Dabei w​ird die b​eim Syngap-Syndrom überaktive RAS-Kaskade d​urch Statine gehemmt. Weitere klinische Studien d​urch die Arbeitsgruppe v​on Gerhard Kluger s​ind in Vorbereitung.

Differenzialdiagnostik

Abzugrenzen i​st hauptsächlich d​as Angelman-Syndrom.[9]

Literatur

  • F. F. Hamdan, J. Gauthier, D. Spiegelman, A. Noreau, Y. Yang, S. Pellerin, S. Dobrzeniecka, M. Côté, E. Perreau-Linck, E. Perreault-Linck, L. Carmant, G. D’Anjou, E. Fombonne, A. M. Addington, J. L. Rapoport, L. E. Delisi, M. O. Krebs, F. Mouaffak, R. Joober, L. Mottron, P. Drapeau, C. Marineau, R. G. Lafrenière, J. C. Lacaille, G. A. Rouleau, J. L. Michaud: Mutations in SYNGAP1 in autosomal nonsyndromic mental retardation. In: The New England Journal of Medicine. Bd. 360, Nr. 6, Februar 2009, S. 599–605, doi:10.1056/NEJMoa0805392, PMID 19196676, PMC 2925262 (freier Volltext).
  • C. Mignot, C. von Stülpnagel, C. Nava, D. Ville, D. Sanlaville, G. Lesca, A. Rastetter, B. Gachet, Y. Marie, G. C. Korenke, I. Borggraefe, D. Hoffmann-Zacharska, E. Szczepanik, M. Rudzka-Dybała, U. Yiş, H. Çağlayan, A. Isapof, I. Marey, E. Panagiotakaki, C. Korff, E. Rossier, A. Riess, S. Beck-Woedl, A. Rauch, C. Zweier, J. Hoyer, A. Reis, M. Mironov, M. Bobylova, K. Mukhin, L. Hernandez-Hernandez, B. Maher, S. Sisodiya, M. Kuhn, D. Glaeser, S. Weckhuysen, C. T. Myers, H. C. Mefford, K. Hörtnagel, S. Biskup,., J. R. Lemke, D. Héron, G. Kluger, C. Depi: Genetic and neurodevelopmental spectrum of SYNGAP1-associated intellectual disability and epilepsy. In: Journal of medical genetics. Bd. 53, Nr. 8, 08 2016, S. 511–522, doi:10.1136/jmedgenet-2015-103451, PMID 26989088.
  • M. H. Berryer, F. F. Hamdan, L. L. Klitten, R. S. Møller, L. Carmant, J. Schwartzentruber, L. Patry, S. Dobrzeniecka, D. Rochefort, M. Neugnot-Cerioli, J. C. Lacaille, Z. Niu, C. M. Eng, Y. Yang, S. Palardy, C. Belhumeur, G. A. Rouleau, N. Tommerup, L. Immken, M. H. Beauchamp, G. S. Patel, J. Majewski, M. A. Tarnopolsky, K. Scheffzek, H. Hjalgrim, J. L. Michaud, G. Di Cristo: Mutations in SYNGAP1 cause intellectual disability, autism, and a specific form of epilepsy by inducing haploinsufficiency. In: Human mutation. Bd. 34, Nr. 2, Februar 2013, S. 385–394, doi:10.1002/humu.22248, PMID 23161826.
  • N. Jeyabalan, J. P. Clement: SYNGAP1: Mind the Gap. In: Frontiers in cellular neuroscience. Bd. 10, 2016, S. 32, doi:10.3389/fncel.2016.00032, PMID 26912996, PMC 4753466 (freier Volltext) (Review).

Einzelnachweise

  1. Mutations in SYNGAP1 in autosomal nonsyndromic mental retardation. PMID 19196676
  2. Flyer (PDF) Lebenshilfe
  3. Genetik der nicht-syndromalen geistigen Behinderung
  4. Genetic and neurodevelopmental spectrum of SYNGAP1-associated intellectual disability and epilepsy. PMID 26989088
  5. Mutations in SYNGAP1 cause intellectual disability, autism, and a specific form of epilepsy by inducing haploinsufficiency. PMID 23161826
  6. UniqueUK, Disorder Guide SYNGAP1 (Memento des Originals vom 28. Februar 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.rarechromo.org (PDF)
  7. Liste der testenden Genlabore, und der Genpanel.
  8. Gerhard Kluger, Celina von Stülpnagel-Steinbeis, Stephan Arnold, Kirsten Eschermann, Till Hartlieb: Positive Short-Term Effect of Low-Dose Rosuvastatin in a Patient with SYNGAP1-Associated Epilepsy. In: Neuropediatrics. 15. März 2019, ISSN 0174-304X, doi:10.1055/s-0039-1681066 (thieme-connect.de [abgerufen am 26. Mai 2019]).
  9. Genpanel: Angelman-Syndrom und Differenzialdiagnosen

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