Reserveantibiotikum
Als Reserveantibiotikum (englisch antibiotics of last resort oder drugs of last resort) werden Antibiotika bezeichnet, die für einen Einsatz mit strenger Indikation vorgesehen sind, denn durch eine gezielte Verwendung von Antibiotika kann grundsätzlich die Häufigkeit der Entstehung von Antibiotikum-Resistenzen vermindert werden. Daher werden vor allem neu entwickelte Antibiotika wie Tigecyclin, Linezolid und Tedizolid als Reserveantibiotika verwendet. Ein Grund für die Einschränkung können auch schwere Nebenwirkungen sein. So ist Ciprofloxacin für Kinder nur bei schweren und schwersten bakteriellen Infektionen mit ansonsten resistenten Erregern angezeigt.[1]
Obwohl in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern Antibiotika sparsamer eingesetzt werden, entfällt in etwa einem Drittel aller Fälle die Verordnung auf ein als Reserveantibiotikum bezeichnetes Mittel.[2]
Grundsätzliche Überlegungen für den Einsatz von Antibiotika
Im Idealfall wird vorab eine Erregerkultur angelegt, mit deren Hilfe die Empfindlichkeit auf verschiedene Antibiotika mittels eines Plattendiffusionstests ermittelt wird (Antibiogramm). Ziel ist der Einsatz eines geeigneten Antibiotikums. Wenn sich klassische, gut verträgliche Antibiotika als nicht wirksam herausstellen, wird auf nebenwirkungsreichere sogenannte Reserveantibiotika zurückgegriffen. Sobald auf diesem Wege die Wirksamkeit der Substanz bestätigt wurde, kann eine Therapie erfolgen, wobei darauf geachtet wird, dass nicht durch vorzeitigen Abbruch der Therapie die Entwicklung einer Resistenz begünstigt wird.
Reserveantibiotika haben – wie alle Antibiotika – sehr unterschiedliche Einsatzgebiete bei Infektionen. Viele dieser Medikamente sind beispielsweise auch bei Infektionen mit einem Vancomycin-resistenten Staphylococcus aureus wirksam. Wie sorgfältig der Einsatz geplant werden muss, zeigte sich etwa bei den Erfahrungen im Einsatz von Linezolid, bei dem es vorübergehend zu einer erhöhten Sterblichkeit bei schweren Haut- und Weichteilinfektionen kam, weil Linezolid nur gegen grampositive und nicht gegen gramnegative Erreger wirksam ist und so die damit behandelten Infektionen nicht vollständig bekämpft wurden.[3] Andere Antibiotika haben erhebliche Nebenwirkungen, z. B. Verursachung von Nierenschäden, und dürfen nur im äußersten Notfall verwendet werden. Auch bei einer Behandlung einer Infektion mit Reserveantibiotika gestaltet sich im klinischen Einsatz eine Therapie von Patienten mit multiresistenten Erregern (z. B. MRSA) oft schwierig und langwierig.
Die Verwendung von Reserveantibiotika in der Massentierhaltung ist umstritten. Einerseits würde dadurch die Entstehung von Antibiotikum-Resistenzen gefördert, andererseits gäbe es ohne keine Möglichkeiten erkrankte Tiere und Bestände der Verwertung zuzuführen, heißt es.[4][5][6]
Liste von Reserveantibiotika
Die WHO hat in ihrer Model List of Essential Medicines in der Auflage vom März 2017 Antibiotika in drei Kategorien klassifiziert und zielt dabei auf die Behandlung der weltweit gesehen 21 häufigsten bakteriellen Infektionskrankheiten ab. Die Kategorien heißen ACCESS, deren Vertreter immer verfügbar sein sollten, WATCH, deren Vertreter ein erhöhtes Resistenzpotential aufweisen und als 1. oder 2. Wahl nur bei begrenzten, spezifischen Indikationen eingesetzt werden sollten, sowie die Kategorie RESERVE, deren Vertreter nur als letzte Option bei Versagen aller Alternativen verwendet werden sollten.[7]
Zur Reservegruppe gehören demnach:
- Cephalosporine der 4. Generation
- Cephalosporine der 5. Generation
- Oxazolidinone
- Polymyxine
- Aztreonam
- Daptomycin
- Fosfomycin
- Tigecyclin
Weblinks
- Ignoranz: Unkritischer Einsatz von Reserveantibiotika in der Humanmedizin, bei Animal-Health-Online, 15. September 2010; abgerufen am 8. Juni 2012
- WHO besorgt über Gonorrhö – Tripper-Erreger zunehmend gegen Medikamente resistent, Süddeutsche Zeitung, 6. Juni 2012; abgerufen am 9. Juni 2012
- Antimicrobial resistance in Neisseria gonorrhoeae, by John Tapsall, World Health Organisation (PDF, engl.; 539 kB); abgerufen am 9. Juni 2012
- Aktuelles zur Antibiotikaresistenz von Helmut Tschäpe, Robert Koch-Institut (als PDF; 872 kB); abgerufen am 8. Juni 2012
Einzelnachweise
- Klaus Miksits, Helmut Hahn: Basiswissen medizinische Mikrobiologie und Infektiologie. Springer, Berlin/Heidelberg 2003, ISBN 3-540-01525-6, S. 351, (eingeschränkte Vorschau in der Google-Buchsuche).
- Judith Günther, Winfried V. Kern, Katrin Nink, Helmut Schröder, Katja de With: Solange sie noch wirken … (PDF; 595 kB) Analysen und Kommentare zum Antibiotikaverbrauch in Deutschland. Wissenschaftliches Institut der AOK in Zusammenarbeit mit dem Universitätsklinikum Freiburg, Januar 2003, S. 104, archiviert vom Original am 2. Mai 2016; abgerufen am 22. Mai 2019.
- Linezolid (Zyvoxid®): Erhöhte Mortalität bei schweren Haut- und Weichteilinfektionen, die nicht ausschließlich durch grampositive Erreger verursacht werden – Anwendungsbeschränkungen beschlossen (Memento vom 16. Juli 2013 im Webarchiv archive.today), Mitteilung des BfArM, 16. März 2007
- Darum ist der Einsatz von Reserveantibiotika gefährlich, Video vom 30. September 2015 auf welt.de, abgerufen am 1. Dezember 2020
- Frontal21 - Streit um Reserveantibiotika vom 21. April 2020, abgerufen am 1. Dezember 2020
- Folgen der Massentierhaltung: Resistente Keime im Hühnerstall vom 14. Januar 2020 auf Deutschlandfunk, abgerufen am 1. Dezember 2020
- WHO: WHO Model List of Essential Medicines. März 2017, abgerufen am 22. Januar 2018 (englisch).