Race to the bottom
Der Begriff race to the bottom (englisch wörtlich Rennen zum Bodensatz) oder Unterbietungswettlauf bezeichnet eine Theorie, die einen stetigen Abbau von Sozial-, Arbeits- und Umweltstandards im globalisierten Wettbewerb sowie internationalen Steuerwettbewerb um immer niedrigere Steuersätze beinhaltet und erklärt.[1]
Spieltheorie
In der Spieltheorie lässt sich ein race to the bottom als Version des Gefangenendilemmas beschreiben. Es stellt alle Handelnden insofern vor ein Dilemma, als es sich für den einzelnen Akteur nur dann lohnt zu kooperieren, wenn er sicher sein kann, dass alle anderen auch kooperieren; sobald ein Einzelner davon ausgeht, dass die anderen nicht kooperieren – etwa weil es keinen institutionalisierten Kooperationsdruck gibt –, ist es für ihn lohnender, ebenfalls nicht zu kooperieren und stattdessen den Abwärtswettlauf zu beschleunigen, indem er seinerseits Standards unterbietet. Anders formuliert stellt sich das Dilemma so dar: Die individuell vorteilhafter erscheinende Handlungsoption – nicht kooperieren – erzeugt am Ende ein für alle Handelnden unvorteilhafteres Ergebnis: Man trifft sich am Ende am „bottom“, beim kollektiv schlechtestmöglichen Ergebnis.
Grundlagen
Grundvoraussetzungen des Modells sind, dass Standards (etwa das Niveau des Kündigungsschutzes) nur für begrenzte Räume (z. B. Nationen) festgelegt werden und die zugehörigen Wirtschaftsakteure (etwa Finanzinvestoren) sich weit über diese begrenzten Räume hinaus frei bewegen können.
Die Wirtschaftsakteure können dann unter den verschiedenen begrenzten Räumen (z. B. den Nationen) den Raum für ihre Aktivitäten (z. B. Investitionen) wählen, der ihnen die besten Bedingungen anbietet. Die begrenzten Räume treten also zueinander in Konkurrenz um die Gunst der Wirtschaftsakteure. Sie beginnen ein race to the bottom darin, die Standards der anderen zu unterbieten, um die Gunst der Wirtschaftsakteure zu gewinnen.
Ein race to the bottom kann auf verschiedenen Skalen auftreten: Zwischen großen Wirtschaftsblöcken (etwa USA – EU – China) ebenso, wie zwischen verschiedenen Nationen (etwa innerhalb der EU) oder zwischen verschiedenen Regionen (z. B. innerhalb von Deutschland).
Auch Aufrüstungswettläufe zwischen Staaten oder die Ausbreitung von privatem Waffenbesitz in einer Gesellschaft lassen sich als race to the bottom beschreiben. Institutionalisierte Kooperation würde das bestmögliche Ergebnis erzielen: Ein Rüstungskontrollabkommen verhindert auf beiden Seiten ruinöse Ausgaben für Waffenarsenale, strenge Waffengesetze erzeugen eine niedrigstmögliche Zahl von Toten durch Schusswaffen. Wenn aber die einzelnen Akteure unsicher sind, ob die anderen Akteure auch kooperieren, weil es keinen institutionalisierten Druck zur Kooperation gibt, werden sie ebenfalls nicht kooperieren mit dem schlechtestmöglichen Ergebnis für alle: Die Gefahr eines nuklearen Holocaust, der Ruin ganzer Wirtschaftssysteme durch exzessive Rüstungsausgaben oder ein maximales individuelles Sicherheitsrisiko durch eine epidemische Verbreitung von Feuerwaffen.[2]
Diskurs
Globalisierungskritiker werfen dem Neoliberalismus vor, ein race to the bottom zwischen verschiedenen (Welt-)Regionen und Nationen zu verursachen: Der Abbau von Handelsbarrieren führe zu global beweglichen Wirtschaftsakteuren. Die gleichzeitige Forderung nach innerer Entmachtung des Nationalstaates („schlanker Staat“) führe zu dessen Unterwanderung durch Lobbygruppen der Wirtschaftsakteure. Die Nationalstaaten würden damit unfähig, sich untereinander entweder auf gemeinsame Sozial-, Arbeits- und Umwelt-Standards zu einigen, oder aber ihre Wirtschaftsakteure wieder in die nationalen Räume zu binden.
Auch Industrievertreter basieren ihre Argumente gegen strikte Umweltregulierung oft auf vermuteten komparativen Nachteilen im globalen Wettbewerb. Einzelstaatliche Alleingänge seien daher zum Scheitern verurteilt.
Kritiker der These vom race to the bottom wenden ein, dass staatliches Umweltrecht sich zumindest de facto auch auf die Beziehung zu ausländischen Handelspartnern auswirken kann. Der internationale Wettbewerb kann dann dazu führen, dass in weniger entwickelten Nationen die Standards erhöht werden. Gerade bei produktbezogener Regulierung, etwa Emissionsstandards von Autos, müssen sich die Standards an den strengsten Maßstäben orientieren (Race to the Top). Aufgrund einzelökonomischer Überlegungen kann es z. B. für multinationale Unternehmen ökonomisch vorteilhaft sein, in allen Betriebsstätten weltweit dieselben Standards anzulegen, wenn einzelne Gesetzgeber zur Abwendung so genannter „dreckiger Industrien“ höhere Standards erlassen. Dies wird auch unter dem Begriff California-Effekt und Brüssel-Effekt diskutiert.[1]
Weblinks
- Marxistische Kritiken der Race-to-the-Bottom-These (PDF-Datei; 165 kB)
Einzelnachweise
- Für einen umfassenden Literaturüberblick über race to the bottom-Theorien siehe z. B. Hahn, R.: Multinationale Unternehmen und die 'Base of the Pyramid' - Neue Perspektiven von Corporate Citizenship und Nachhaltiger Entwicklung. Gabler, Wiesbaden 2009, ISBN 978-3-8349-1643-3, insbes. S. 118–126.
- Joseph Heath & Andrew Potter: The Rebel Sell. Harper Collins, Toronto 2005, ISBN 1-841-12655-1, insbes. S. 100 ff.