Pariser Tageblatt
Das Pariser Tageblatt und dessen Nachfolger, die Pariser Tageszeitung, war die einzige bis 1940 erschienene deutschsprachige Tageszeitung im Exil. Von der ersten Nummer des 12. Dezember 1933 erschien sie bis zum 14. Juni 1936 täglich in Paris. Das Pariser Tageblatt war eine parteiunabhängige Gründung verschiedener deutscher liberaler und linksgesinnter Journalisten. Ziel war „eine Tribüne für freiheitliche Ideale zu schaffen“, so der Chefredakteur, Georg Bernhard im Editorial der ersten Nummer im Dezember 1933. Dieser war vor seiner Vertreibung viele Jahre Chefredakteur der Vossischen Zeitung in Berlin gewesen. Auch die anderen Mitarbeiter waren größtenteils prominente Berliner Journalisten. Zu den Autoren gehörten unter anderem Henri Barbusse, der tschechoslowakische Außenminister Edvard Beneš, Hellmut von Gerlach, Oskar Maria Graf, Heinrich Mann und der ehemalige Nationalsozialist Otto Strasser. Die Redakteure und Mitarbeiter versuchten von Frankreich aus, den Nationalsozialismus politisch bekämpfen. Trotzdem war die Zeitung kein Kampfblatt wie der kommunistische von Willi Münzenberg herausgegebene Gegen-Angriff oder die Deutsche Volkszeitung (1936–1939), sondern entsprach eher dem „Typ einer eher leichtgewichtigen Boulevardzeitung“.[1] Die Zeitung bemühte sich auch, ihren Lesern die Besonderheiten des neuen Heimatlandes Frankreich zu vermitteln.
1936 machten ein Großteil der Redakteure und Mitarbeiter einen Putsch gegen den Herausgeber Wladimir Poliakov. Sie konnten die Enteignung des alten Herausgebers bewirken und an einer anderen Adresse eine Neugründung als Pariser Tageszeitung durchführen. Hinter diesem Komplott standen anscheinend zeitweilig Willi Münzenberg und auch die KPD. Die neue Zeitung existierte bis kurz vor dem deutschen Einmarsch der Deutschen im Zweiten Weltkrieg.
Geschichte
Der Russe jüdischer Herkunft Wladimir Poliakov (geboren Odessa 1864 – gestorben Paris 1938), Vater von Léon Poliakov, war im Zarenreich ein erfolgreicher Geschäftsmann und Zeitungsverleger gewesen. Ihm gehörte eine Kette von Zeitungen in St. Petersburg, Wilna und Odessa. Mit der Eroberung Odessas durch bolschewistische Truppen floh Poliakov nach Paris. Ende 1933 gab er das Pariser Tageblatt als Tageszeitung des deutschen Exils heraus. Teilhaber und Mitfinanzier war zunächst Isaak Grodzenski, der polnische Herausgeber der Pariser jiddischen Zeitung Pariser Haynt oder Haint (auf Deutsch Paris Heute).[2]
Chefredakteur wurde Georg Bernhard, der bis 1930 die Vossische Zeitung geleitet hatte und von 1928 bis 1930 Reichstagsabgeordneter der Deutschen Demokratischen Partei (DDP) gewesen war. Stellvertreter war Kurt Caro, ehemaliger Chefredakteur der Berliner Volks-Zeitung.
Die Zeitung erschien ab der ersten Ausgabe am 12. Dezember 1933 täglich im Umfang von vier Seiten, ab Januar 1934 sonntags mit einer zweiseitigen Beilage. Die Zeitung hatte einen festen Aufbau. Die erste Seite enthielt politische Kommentare, Leitartikel, Berichte aus Deutschland. Auf der zweiten Seite gab es eine Rubrik mit Pressestimmen des Auslands, die dritte Seite hatte Aktuelles aus Paris. Auf der vierten Seite war u. a. der Fortsetzungsroman und der Veranstaltungskalender „Heute in Paris“. Extra-Rubriken wechselten an den Wochentagen wie der freitägliche Filmüberblick, samstags die Sportvorschau, montags Musikkritiken und der „Blick ins Reich“. Die Sonntagsbeilage enthielt die Kolumnen „Theater und Film“ von Alfred Kerr, Kunst, Reise und literarische Beiträge.[3]
Die Zeitung finanzierte sich über den Anzeigenteil, der bis zu eineinhalb Druckseiten beanspruchte, und wurde per Post in verschiedene europäische Länder vertrieben. Die Zeitung warb um Abonnements, sie kostete am Kiosk 50 Centimes und hatte eine Auflage von 14.000 Exemplaren.[4] Davon waren ca. 1100 Abonnements und Freiexemplare für Werbezwecke. Der einzige gut bezahlte Journalist war der Chefredakteur Bernhard. Die anderen Mitarbeiter waren schlecht- oder unterbezahlt. Trotzdem arbeiteten sie mit, da sie sonst arbeitslos und ohne jedes Einkommen gewesen wären. Die Zeitung wurde auch ins Ausland vertrieben, was die deutsche Botschaft in Budapest Ende 1935 veranlasste, ein Verbot der Zeitung in Ungarn zu erwirken.[5]
Zu den festen Mitarbeitern gehörten der unter Pseudonym schreibende Salomon Grumbach, der seinen Leser Informationen über die politischen Verhältnisse in Frankreich lieferte.[2] Weiter feste Mitarbeiter waren u. a. Paul Westheim, der Korrespondent in Prag Kurt Grossmann. Zu den ausländischen Mitarbeitern zählten Upton Sinclair und Wickham Steed. Weitere Autoren waren unter anderen Paul Bekker, Robert Breuer, Richard Dyck, Manfred George, Anna Geyer, Erich Gottgetreu, Gertrud Isolani, Berthold Jacob, Harry Kahn, Lili Körber, Rudolf Leonhard, Heinrich Mann, Paul Marcus, Carl Misch, Rudolf Olden, Alexander Roda Roda, Joseph Roth, Joseph Wechsberg, Alfred Wolfenstein und Georg Wronkow.[6]
Als Fortsetzungsroman gedruckt wurden u. a. Klaus Manns Romane Flucht in den Norden und Mephisto (Roman), Balder Oldens Roman eines Nazi, Joseph Roths Tarabas. Ein Gast auf dieser Erde, Georges Simenons Der Mann aus London und Heil Kadlatz von Paul Westheim.
Ein besonderes Ereignis war die 1935 Entführung und später Freilassung des auch am Pariser Tageblatt mitwirkenden Journalisten Berthold Jacob, der seit 1931 in Straßburg wohnte.
In die Erscheinungszeit fiel auch die Saarabstimmung, deren Ergebnis von den Emigranten mit Sorge gesehen wurde, und der Beginn der Volksfrontverhandlungen in Frankreich, über die nur spärlich berichtet wurde.
Die Aneignung des Tageblatts und Neugründung als „Pariser Tageszeitung“
Es gab von Anfang an Reibungen zwischen Poliakov und der Redaktion. Die Redaktion wollte beispielsweise die Zeitung stärker an das Projekt der von den Kommunisten initiierten Volksfront der deutschen Hitlergegner gegen das Dritte Reich anbinden. Bernhard war selbst Mitglied des Lutetia-Kreises. Poliakov, der seit seiner Vertreibung aus Sowjetrussland Gegner kommunistischer Bestrebungen war, wollte eher den Antisemitismus der Nazis in der Vordergrund stellen.[7] Auch finanzielle Probleme spielten eine Rolle. 1936 kam es zum Bruch zwischen Poliakov, der einen Ausweg aus der finanziellen Krise suchte, und dem größten Teil der Redaktion und der Verlagsmitarbeiter. Diese versuchten die Zeitung unter ihre Kontrolle zu bekommen und zu zerstören. Dazu beschuldigten die Redakteure Poliakov auf Seite 1 der Ausgabe vom 11. Juni 1936 zu Unrecht der Kollaboration mit den Nationalsozialisten und behaupteten unter anderem, er habe die „Zeitung an die Nazis verkaufen wollen“.[7] Poliakov versuchte, die Lügen in Sonderausgaben des Pariser Tageblatts zu widerlegen. Aber die Redakteure verhinderten die Verbreitung dieser Nummern mit Gewalt. Der neue ernannte Chefredakteur, der renommierte Journalist Richard Lewinsohn, und der Journalist Heinz Pol brachten zwar noch 2 Ausgaben heraus, aber Lewinsohn wurde überfallen und krankenhausreif geschlagen, so dass er von seinem Amt zurücktrat. Die Redaktionsräume wurden zerstört, die neue Ausgabe größtenteils in die Seine gekippt und die Abonnentenkartei gestohlen.
Bernhard übernahm mit den Redakteuren Fritz Wolff und Kurt Caro die Zeitung unter leicht geändertem Namen als die „ Pariser Tageszeitung“. Nach neueren Erkenntnissen gilt als sicher, dass hinter der Neugründung der Zeitung Willi Münzenberg und die KPD standen. Sie finanzierten über Mittelsmänner 1937/38 die Zeitung und beeinflussten die Personalpolitik. Sie ließen Bernhard aber freie Hand bei der Redaktionsarbeit. Ein Versuch der KPD, die Zeitung zu übernehmen, scheiterte. Auch Willi Münzberg schaffte es nach seiner Trennung von der KPD nicht, die Zeitung zu übernehmen.[8]
Viele Emigranten und Intellektuelle fielen auf die Denunziation herein, dass Poliakov ein Verräter gewesen sei. Bernhard schaffte es, führende Intellektuelle der Emigration und aus Frankreich gegen Poliakov mobilisieren. Das Komplott wurde schließlich von Iwan Heilbut aufgedeckt, dem Telegramme der Verschwörer zugespielt worden waren. Ein zionistisches Ehrengericht unter der Leitung von Wladimir Jabotinsky, ein von Emigranten eingesetzter Untersuchungsausschuss und ein französisches Gericht kamen zwar in der Folgezeit zu dem Ergebnis, dass die Beschuldigungen haltlos waren, doch da war Poliakov bereits ausgebootet und hatte seinen Versuch, die Zeitung weiter erscheinen zu lassen, aufgeben müssen. Zwei Jahre später starb er.
Die Affäre riss Gräben des Misstrauens unter den Emigranten auf. Lion Feuchtwanger verarbeitete die Affäre im Roman Exil, in dessen Vorwort er 1939 betonen musste, „dass der Verleger meiner ‚Pariser Nachrichten‘ nicht das leiseste zu tun hat mit dem verstorbenen russischen Emigranten Poliakov, dem Inhaber des ‚Pariser Tageblatts‘, der verdächtigt wurde, mit den Nationalsozialisten paktiert zu haben; wie sich später durch gerichtliche Verfahren herausstellt hat, zu Unrecht“,[9] um die verhängnisvollen Streitereien unter den Emigranten nicht zu schüren.[10] Victor Basch war einer der wenigen, die ihre vorschnelle Parteinahme gegen Poliakov öffentlich eingestanden und zurückzogen.[2] Die Verurteilung Bernhards im Juni 1937 durch ein französisches Strafgericht führte dazu, dass er sich von der Pariser Tageszeitung zurückziehen musste.
Folgen der Affäre Pariser Tageblatt
Die Tageblatt-Affäre bewirkte Spaltungen in kulturellen Organisationen des Exils. Eine Gruppe einflussreicher Publizisten um Leopold Schwarzschild mit seiner Exilzeitschrift „Das Neue Tage-Buch“ und u. a. Konrad Heiden zogen sich aus dem gemeinsamen Volksfrontprojekt zurück. Einflussreiche Autoren wie Alfred Döblin, Konrad Heiden und andere verließen den kommunistisch dominierten Schutzverband deutscher Schriftsteller. Sie traten 1937 dem von Schwarzschild und Hans Sahl gegründeten Bund Freie Presse und Literatur bei. Die Pariser Tageszeitung schwächelte seit ihrer Gründung. Finanz- und Redaktionskrisen traten häufig auf. Bernhard wurde Ende 1937 zum Rücktritt gezwungen. Schließlich gelang es Leopold Schwarzschild 1938 einen seiner Redakteure, Joseph Bornstein, als Chefredakteur der Zeitung zu installieren.[11] Als die deutsche Exilanten mit dem Kriegsausbruch 1939 interniert wurden, sank die Auflage und die Zeitung musste im Februar 1940 eingestellt werden.[12]
Literatur
- Hélène Roussel; Lutz Winckler (Hrsg.): Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933–1940. Niemeyer, Tübingen 2002, ISBN 3-484-35089-X.
- Willi Jasper: Die Affäre Poliakov. Das Scheitern der liberalen Publizistik. In: Menora – Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte (7/1996), S. 117–132.
- Hélène Roussel; Lutz Winckler (Hrsg.): Deutsche Exilpresse und Frankreich, 1933–1940. Lang, Bern 1992, ISBN 3-261-04491-8.
- Liselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945, Band 4. Die Zeitungen des deutschen Exils in Europa in Einzeldarstellungen. Hrsg. Eberhard Lämmert, München 1990, ISBN 3-446-13260-0, S. 155–180.
- Liselotte Maas: Kurfürstendamm auf den Champs-Elysées? Der Verlust von Realität und Moral beim Versuch einer Tageszeitung im Exil. In: „Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch“. Band 3, München 1985, S. 106–126.
- Angela Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils. 1933–1945. Metzler, Stuttgart 1987, ISBN 3-476-10238-6, S. 82–85.
- Walter F. Peterson: The Berlin liberal press in exile. A history of the Pariser Tageblatt – Pariser Tageszeitung. 1933–1940. Niemeyer, Tübingen 1987, ISBN 3-484-35018-0.
- Martin Mauthner: German Writers in French Exile, 1933-1940. Vallentine Mitchell, London 2007, ISBN 978-0-85303-540-4.
- Hanno Hardt, Elke Hilscher, Winfried B. Lerg (Hrsg.): Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933–1945. Saur, München 1979, S. 129–135.
- Michaela Enderle-Ristori: Markt und intellektuelles Kräftefeld: Literaturkritik im Feuilleton von „Pariser Tageblatt“ und „Pariser Tageszeitung“ (1933–1940). Tübingen: Niemeyer, 1997 ISBN 3-484-35057-1. Zugl.: Tübingen, Univ., Diss. 1994[13]
Weblinks
- Online-Version des Pariser Tageblatt und der Pariser Zeitung bei der Deutschen Nationalbibliothek unter Exilpresse digital portal.dnb.de seit November 2016.
- Exil (1981, Verfilmung von Egon Günther) in der Internet Movie Database (englisch)
Einzelnachweise
- so Liselotte Maas 1985 nach Willi Jasper: Die Affäre Poliakov. Das Scheitern der liberalen Publizistik. In: Menora – Jahrbuch für deutsch-jüdische Geschichte (7/1996), S. 118.
- Léon Poliakov: Die Affäre „Pariser Tageblatt“. In: Hélène Roussel (Hrsg.): Deutsche Exilpresse und Frankreich, 1933–1940. S. 105–115
- Angela Huß-Michel: Literarische und politische Zeitschriften des Exils. 1933–1945. Metzler, Stuttgart 1987, S. 83.
- Hanno Hardt, Elke Hilscher, Winfried B. Lerg (Hrsg.): Presse im Exil. Beiträge zur Kommunikationsgeschichte des deutschen Exils 1933–1945. Saur, München 1979, S. 129.
- René Geoffroy: Ungarn als Zufluchtsort und Wirkungsstätte deutschsprachiger Emigranten (1933–1938/39). Frankfurt am Main : Lang 2001, S. 261.
- Liselotte Maas: Handbuch der deutschen Exilpresse 1933–1945, Band 4. Die Zeitungen des deutschen Exils in Europa in Einzeldarstellungen. Hrsg. Eberhard Lämmert, München 1990, ISBN 3-446-13260-0, S. 155
- Hélène Roussel: Das deutsche Exil in den dreißiger Jahren und die Frage des Zugangs zu den Medien. In Hélène Roussel, Lutz Winckler (Hrsg.): Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933–1940. Niemeyer, Tübingen 2002, ISBN 3-484-35089-X, S. 22.
- Hélène Roussel, Lutz Winckler (Hrsg.): Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933–1940. Niemeyer, Tübingen 2002, ISBN 3-484-35089-X, S. 4.
- Lion Feuchtwanger: Vorwort zu Exil: Roman. Querido Verlag, Amsterdam 1940.
- Gisela Lüttig: Nachwort in Lion Feuchtwanger: Exil. Unter dem Titel: Zu diesem Band S. 773.
- Kurzbiographie auf der Homepage des Leo Baeck Institute New York
- Hélène Roussel: Das deutsche Exil in den dreißiger Jahren und die Frage des Zugangs zu den Medien. In: Hélène Roussel, Lutz Winckler: Rechts und links der Seine. Pariser Tageblatt und Pariser Tageszeitung 1933–1940. 2002, S. 34.
- Rezension (pdf, 1 MB)