Organspendeskandal in Deutschland
Der Organspendeskandal in Deutschland handelt von mutmaßlichen Richtlinienverstößen einzelner Transplantationszentren, um die Wahrscheinlichkeit der Leber-Organvergabe an Patienten des eigenen Zentrums zu erhöhen, die auf eine Lebertransplantation warten. Der vollständige Bericht der Prüfungs- und Überwachungskommission der Bundesärztekammer (BÄK) ist auf der Webseite der BÄK einsehbar.[1] Im Einzelnen heißt es im Kurzstatement des Berichtes in Auszügen:
In den Jahren 2010 und 2011 wurden in Deutschland insgesamt 2303 postmortal gespendete Lebern transplantiert.
- In 24 Transplantationszentren wurden die Krankenakten von insgesamt 1180 Empfängern postmortal gespendeter Lebern geprüft.
- In den vier Transplantationszentren Göttingen, Leipzig, München rechts der Isar und Münster wurden schwerwiegende Richtlinienverstöße unterschiedlicher Ausprägung festgestellt.
- In Göttingen ergab sich aufgrund der Art der Verstöße, der Umstände im Einzelfall sowie der Häufigkeit des Auftretens der Verdacht auf systematische oder bewusste Falschangaben zur Bevorzugung bestimmter Patienten.
- Auch in Leipzig, München und Münster ergaben sich eindeutige Anhaltspunkte für systematische Falschangaben, wenn auch teilweise in zahlenmäßig geringerem Umfang.
- In 20 Transplantationszentren wurden keine bzw. nur solche Richtlinienverstöße festgestellt, bei denen sich aufgrund der Umstände des Einzelfalls oder der geringen Anzahl kein Verdacht auf systematische oder bewusste Falschangaben zur Bevorzugung bestimmter Patienten ergab (z. B. Dokumentationsfehler, Flüchtigkeitsfehler, Bewertungsfehler).
- Es haben sich keine Anhaltspunkte ergeben, dass privatversicherte Patienten oder sogenannte Non-ET-Residents bevorzugt behandelt und transplantiert worden wären.
- Das beschleunigte Vermittlungsverfahren hatte bei Leberspenden 40 % erreicht. Eine sorgfältige Prüfung der Umstände ist nicht erfolgt. Welche Zentren in welchem Umfange davon Gebrauch machten, ist nicht mitgeteilt worden.
- Die Wartelisten wurde im Hinblick auf die Berechtigung nicht überprüft. Die Zahl der Patienten, die auf ein Organ gewartet haben, hat sich mittlerweile halbiert, wenn man von nierenkranken Patienten absieht.
In Berlin, Hamburg, Hannover, Magdeburg und Würzburg wurden keine Richtlinienverstöße festgestellt (siehe S. 17 des Prüfberichtes).[2][3]
Einzelne Kliniken
Universitätsmedizin Göttingen (UMG)
In Deutschland wurde an der UMG im Jahr 1995 der erste Lehrstuhl speziell für Lebertransplantationen (Klinik für Hepato-biläre und Transplantationschirurgie) eingerichtet. Wie sämtliche weiteren Lebertransplantationszentren in Deutschland war auch diese Klinik der UMG international ausgerichtet. Gemäß der damaligen Rechtslage durften in den deutschen Transplantationszentren auch Patienten aus anderen europäischen Ländern (sog. non-ET-residents) behandelt werden, bei denen eine Lebertransplantation als letzte Behandlungsoption indiziert war.
Aus organisatorischen Gründen wurde der Lehrstuhl im Jahr 2002 an der UMG geschlossen und der Direktor der Klinik als Chefarzt an eine große amerikanische Klinik berufen. Dennoch wurde die Lebertransplantation an der UMG nicht aufgegeben, sondern als Funktionsbereich der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie zugeordnet. Dort wurden bis zum Jahr 2015 Lebertransplantationen durchgeführt. Bei der Lebertransplantation handelt es sich um eine interdisziplinäre Aufgabe (Transplantationschirurgie, Psychiatrie, Labormedizin, Innere Medizin, Anästhesie und Intensivmedizin, Radiologie und Pathologie). Entsprechend bedarf es einer Bündelung der Informationen und Steuerung der Abläufe. Dieses war an der UMG in der Lebertransplantations-Ambulanz der Chirurgischen Klinik gewährleistet; hier wurden entsprechend zentral die Krankenakten geführt. Weiterhin bestand eine unabhängige Stabsstelle mit dem Transplantationskoordinator, unmittelbar dem Vorstand UMG zugeordnet. Letzteres diente der Ablaufsteuerung über Eurotransplant und Deutschen Stiftung für Organtransplantation (DSO).
Insofern war die Lebertransplantation an der UMG gut organisiert, als im Jahr 2011 erstmals der Vorwurf einer Datenmanipulation gegen den dafür zuständigen Oberarzt in der Chirurgie erhoben wurde. Von ihm hat sich die UMG nach Bekanntwerden der Vorwürfe sofort getrennt.
Dieser Chirurg war ein „Kind der ersten Stunde“ beim Aufbau der Lebertransplantation an der UMG, war Assistent in der Aufbauphase des 1995 eingerichteten Lehrstuhls. Seine damaligen wissenschaftlichen Untersuchungen blieben die Grundlage späterer Publikationen, auch nach seinem Wechsel an das Universitätsklinikum Regensburg.[4][5][6] Hier bildeten sie zudem die Grundlage seiner Habilitationsschrift. Im Jahr 2008 kehrte er an die UMG als seine alte chirurgische und wissenschaftliche Wirkungsstätte zurück. In leitender Oberarztfunktion oblag ihm die Verantwortung für den Aufgabenbereich Lebertransplantation in der Klinik für Allgemein-, Viszeral- und Transplantationschirurgie. Im Jahr 2009 erfolgte, nach dem üblichen Verfahren die Berufung auf eine Professur (W2 auf Zeit) durch den Präsidenten der Universität.
Die Manipulationsvorwürfe gegen ihn führten dazu, dass er 2013 in Untersuchungshaft genommen und wegen versuchten Totschlags in 11 Fällen sowie Körperverletzung mit Todesfolge in 3 Fällen angeklagt wurde. Am 6. Mai 2015 wurde er vom Landgericht Göttingen freigesprochen, da nach dessen Ansicht die Manipulationen nicht von diesen Straftatbeständen erfasst würden. Die Staatsanwaltschaft legte beim Bundesgerichtshof Revision ein, der aber den Freispruch am 28. Juni 2017 bestätigte.[7] Das Landgericht Braunschweig sprach ihm am 13. September 2019 eine Entschädigung von etwa 1,1 Millionen Euro sowie circa 80.000 Euro für Kautionszinsen zu.[8] Die Verfahren gegen weitere Angehörige der UMG und eine Vermittlungsfirma wurden eingestellt. Gegen eine Patientin wurde wegen falscher Angabe vor Gericht zu ihrem Alkoholkonsum das Verfahren gegen Zahlung einer Geldauflage eingestellt.[9] Hinweise auf Bestechlichkeit oder auf etwaigen Organhandel haben sich nach Angaben der Staatsanwaltschaft Braunschweig nicht ergeben.
Universitätsklinikum Regensburg
Nach Angaben der Sprecherin des Universitätsklinikums Regensburg könnten auch Patienten aus Jordanien verbotenerweise auf eine Warteliste für europäische Transplantations-Patienten gesetzt worden sein.[10] Der ehemalige Leiter der Transplantation der UMG war von 2003 bis 2008 in Regensburg als Oberarzt beschäftigt und soll auch mit Unterstützung der Bayerischen Staatsregierung 2004 eine Kooperation mit dem Jordan Hospital in Amman eingegangen sein.[11] Es wird sogar vermutet, dass eine unter Regensburg verbuchte Transplantation in Amman durchgeführt wurde.[10]
Der Direktor der Klinik und Poliklinik für Chirurgie am Universitätsklinikum Regensburg wurde vorübergehend vom Dienst beurlaubt;[12] die Beurlaubung wurde im November 2012 aufgehoben.[13]
Klinikum rechts der Isar
Die Prüfungs- und Überwachungskommission der BÄK stellte hier 38 Richtlinienverstöße fest. Die Kommission unter Leitung des Wiener Chirurgen Ferdinand Mühlbacher bestätigt in ihrem Abschlussbericht im Wesentlichen die bereits bekannten Verstöße gegen Transplantationsrichtlinien am Klinikum rechts der Isar. Sie kommt auf eine Zahl von insgesamt 28. Bei dreien davon sieht Mühlbacher „kriminelle Potenz“. Bei ihnen besteht laut Bericht „der Verdacht auf eine systematische oder bewusste Täuschung zur Bevorzugung besonderer Patienten“. Konkret sollen Blutproben mit Urin manipuliert worden sein. Diese Fälle werden bereits von der Staatsanwaltschaft untersucht. Vor allem aber spricht Mühlbacher ein vernichtendes Urteil über die Organisation des Lebertransplantationszentrums am Klinikum rechts der Isar. Die Abteilung habe „weder Struktur noch das richtige Personal“. Zudem seien die Überlebensraten der Patienten zu niedrig. 70 Prozent überstehen das erste Jahr. Der europäische Standard liegt laut dem Gutachten bei über 80 Prozent.
Die übrigen 25 Verstöße gegen Richtlinien stuft Mühlbacher als weniger gravierend ein, sie seien teils durch menschliche Fehler, teils durch Mängel im Regularium für Transplantationen zu erklären. Insgesamt aber zeige sich eine „fehlende Infrastruktur“ im Klinikum und ein „eher lockeres Umgehen mit bestehenden Regelvorschriften“.
Mit den Manipulationen bei Lebertransplantationen am Klinikum rechts der Isar sollte möglicherweise vor allem die Zahl der Verpflanzungen erhöht werden. Diesen Verdacht hat der ehemalige Leiter des Transplantationszentrums und Chef der Nephrologie genährt. In einem Artikel der Fachzeitschrift Dialyse aktuell äußerte er sich zu den Hintergründen des Skandals, in den das Klinikum rechts der Isar verwickelt war:
„Über die Gründe für diese Manipulationen ist viel spekuliert worden. Klar ist aber, dass eine der Hauptmotivationen der Wunsch nach vermehrten Lebertransplantationen war. Dies war nur über eine Manipulation der Warteliste möglich, da Deutschland bereits vor diesem Skandal eine im internationalen Vergleich niedrige Spenderate hatte.“[14]
Das Klinikum trennte sich bereits von seinem Chefarzt für Chirurgie. Hintergrund der geplanten Trennung von dem Professor sind drei Fälle, in denen Blutproben offenbar mit Urin verunreinigt wurden. Zwei dieser Blutpanschereien aus dem Jahr 2010 waren schon damals aufgefallen. Der Chirurgie-Chef zog aber keine Konsequenzen aus den Vorgängen. Einer Patientin ist darüber hinaus 2011 eine Leber transplantiert worden, obwohl dies nach Ansicht von Fachleuten, die derzeit das Transplantationsprogramm der Klinik begutachten, gar nicht nötig gewesen sei.[15]
Wissenschaftsminister Wolfgang Heubisch (FDP) und Gesundheitsminister Marcel Huber (CSU) teilten Mitte Mai 2013 auf einer Pressekonferenz die Schließung der Transplantationsprogramme in Erlangen und im Münchner Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München mit.
Klinikum der Universität München
Die Prüfer der Bundesärztekammer haben auch am Klinikum Großhadern sieben Richtlinienverstöße bei Lebertransplantationen festgestellt. Sie kamen zu dem Schluss, dass dort in den Jahren 2010 und 2011 vier Patienten mit Leberkrebs eine Spenderleber transplantiert wurde, obwohl ihr Krebsherd noch sehr klein war. Die Prüfer beurteilten dies als klare Verstöße gegen die Richtlinien für Lebertransplantationen. Bei den Großhaderner Patienten, um die es beiden Kommissionen geht, betrug der Durchmesser der Krebsherde weniger als zwei Zentimeter. Nach Ansicht der Prüfer erlauben die Richtlinien die Zuteilung einer Spenderleber an Krebskranke mit einem Tumor aber lediglich, wenn dieser zwischen zwei und fünf Zentimeter groß ist. Nur wenn sich bei einem Patienten bereits mehrere Krebsherde gebildet haben, dürfen diese auch kleiner als zwei Zentimeter sein.
Drei weitere Manipulationen am Klinikum Großhadern wurden nicht als schwerwiegende Verstoße gegen die Richtlinien gewertet.[16]
Universitätsklinikum Leipzig
Auch am Universitätsklinikum Leipzig hat es 76 Richtlinienverstöße bei Lebertransplantationen gegeben. Das veröffentlichte das Klinikum im Januar 2013. Bei 37 der 182 Patienten, denen in den Jahren 2010 und 2011 eine Spenderleber transplantiert wurde, seien Daten manipuliert worden, sagte der Medizinische Vorstand des Klinikums, Wolfgang Fleig. Wolfgang Fleig ist mittlerweile wegen eines zerstörten Vertrauensverhältnisses vom Aufsichtsrat des Universitätsklinikums Leipzig von seinem Posten abberufen worden.[17]
Ende Juni 2013 wurde gegen drei Ärzte ein Ermittlungsverfahren eröffnet. Die Leipziger Staatsanwaltschaft ging dem Verdacht des versuchten Totschlags und der gefährlichen Körperverletzung nach. Die Ermittlungen sollten klären, ob Patienten zu Schaden gekommen oder sogar gestorben sind.[18] Aufgrund nicht hinreichenden Tatverdachts wurde kein Gerichtsverfahren eröffnet.[19]
Universitätsklinikum Münster
Am Universitätsklinikum Münster gab es den Angaben zufolge insgesamt 25 Richtlinienverstöße u. a. auch bei der Angabe von Dialysen. Die Prüfer bezweifelten, dass in allen Fällen eine für eine Transplantation relevante Indikation vorgelegen hat. Die Vorgänge seien "noch nicht endgültig bewertet".[20] Der Bericht der Bundesärztekammer schildert dies wie folgt: „Die Kommissionen haben bei Ihren Überprüfungen systematische Richtlinienverstöße festgestellt. Bei den 30 Patienten, die in den Jahren 2010 und 2011 gegenüber Eurotransplant als dialysepflichtig gemeldet worden waren, hatte in fünf Fällen eine Dialyse gar nicht stattgefunden oder aber war vorzeitig abgebrochen worden, ohne dass eine Wiederaufnahme möglich oder beabsichtigt war. In weiteren 9 Fällen fehlte nach Auffassung der Kommissionen eine Indikation zur Dialyse, sodass eine Dialysemeldung gegenüber Eurotransplant von vornherein nicht berechtigt war. Dies war im Übrigen auch in den beiden Fällen zu beanstanden, in denen eine Meldung gegenüber Eurotransplant bereits nicht hätte stattfinden dürfen, weil die Therapie endgültig abgebrochen war. Die Vorlage der erforderlichen Unterlagen verlief bei den ersten Visitationen äußerst schleppend und war zum Teil gar nicht möglich. Bei den nachfolgenden Visitationen war dieser Mangel behoben. Die erforderlichen Unterlagen konnten vorgelegt bzw. nachgereicht werden. Die Visitationen verliefen in einer sachlichen und konzentrierten Atmosphäre.“ (siehe S. 13 u. 21 des Prüfberichtes Teil 4).[2]
Universitätsklinikum Essen
Am Universitätsklinikum Essen steht der Umgang mit Spenderlebern in der Kritik. Insgesamt wurden 15 Richtlinienverstöße festgestellt. Das Klinikum akzeptiert viele Organe niedriger Qualität, die anderswo abgelehnt werden, weil sie etwa verfettet sind oder von betagten Spendern stammen. Auch deshalb kommt Essen bundesweit auf die mit Abstand höchste Anzahl an Lebertransplantationen. Fast 17 Prozent der Lebertransplantierten starben dort 2011 noch im Krankenhaus.[21]
Die Richtlinienverstöße als systematische Manipulationen
Bei einer Gesamtbetrachtung der Fälle wird deutlich, dass es sich nicht um Einzeltaten, sondern vielmehr um eine systematische Manipulation innerhalb verschiedener deutscher Transplantationszentren handelt. Dies zeigen die Ergebnisse einer interdisziplinären Studie der Universität Heidelberg, welche zwischen 2014 und 2016 durchgeführt wurde.
In der Gesamtschau wird deutlich, dass die Manipulationsvorwürfe nicht die deutsche Transplantationsmedizin pauschal betreffen, sondern sie sich vielmehr auf bestimmte Zentren sowie bestimmte Transplantationsgebiete beschränken. So stellte die Prüfungs- und Überwachungskommission im Prüfzeitraum 2010–2012 in 14 der 51 deutschen Transplantationszentren Manipulationen fest. Dabei wurden in den betroffenen Zentren bei 369 der 1010 geprüften Fälle Richtlinienverstöße identifiziert. Somit beträgt die die durchschnittliche Manipulationsrate pro betroffenem Zentrum 40 % der geprüften Fälle.[22] Mit Hinblick auf die betroffenen Organe, konnten bei Leber-, Herz- und Lungentransplantationen Richtlinienverstöße festgestellt werden, wogegen Nieren und Pankreastransplantationen keine Verstöße aufwiesen.[23]
Bezogen auf die Mechanismen, die hinter den Manipulationsfällen wirksam waren zeigt die Studie, dass individuelle Bereicherungen auf Seiten der Ärzte nicht von Bedeutung waren. Vielmehr können die Anreize in den Eigenlogiken der ärztlichen Profession sowie der universitären Medizin gesehen werden. So hingen mit dem medizinischen Wettbewerb, der medizinischen Fachautorität und dem ärztlichen Ethos bestmögliche Behandlungsergebnisse zu erzielen Handlungsregeln zusammen, welche Anreize für Verstöße gegen die Transplantationsrichtlinien darstellten.[23]
Auswirkungen
Der Präsident der Deutschen Transplantationsgesellschaft sprach sich gegen Organhandel und Transplantationstourismus aus. Damit seien Patienten gemeint, die nie in Deutschland gelebt haben und nur ins Land einreisen, um ein neues Organ transplantiert zu bekommen und sich mit der Adresse eines Hotels beziehungsweise einer Klinik auf die Organspendeliste setzen lassen.[24]
Politiker aller Fraktionen[25] sowie der Bundesärztetag 2013[26] kritisierten umsatzabhängige Gehälter von leitenden Ärzten, sogenannte „Chefarzt-Boni“. Das Universitätsklinikum Göttingen zog Konsequenzen: Die Höhe der Ärzte-Gehälter ist seither nicht mehr an die Zahl der Transplantationen gekoppelt.
Das Transplantationsgesetz ist unter dem Eindruck der beschriebenen Vorkommnisse 2013 mehrfach modifiziert worden; neben erweiterter staatlicher Aufsicht des Transplantationswesens wurde ein neuer Straftatbestand für künftige Manipulationen geschaffen.[27] Seit November 2016 gibt es ein bundesweites Transplantationsregister.[28][29]
Unter dem Eindruck des Skandals hat die Spendenbereitschaft der Bevölkerung den tiefsten Stand seit 2002 erreicht. Gleichzeitig warten ca. 12.000 Patienten auf ein Spenderorgan.[30]
Durch die Bundesärztekammer, die Deutsche Krankenhausgesellschaft und den Gesetzgeber wurde eine Reihe von Maßnahmen durchgesetzt, um die Transparenz zu erhöhen, die Kontrollgremien zu stärken und Fehlanreize zu vermeiden:[31][32][33]
- Die Prüfungs- und die Überwachungskommission haben alle Zentren mit Lebertransplantationsprogrammen überprüft.
- Alle Transplantationszentren werden künftig mindestens einmal in drei Jahren unangekündigt vor Ort geprüft.
- Vertreter der Länder werden an den Prüfungen beteiligt, um einen lückenlosen Informationsfluss zu den zuständigen Überwachungsbehörden herzustellen.
- Im November 2012 wurde eine unabhängige Vertrauensstelle Transplantationsmedizin zur (auch anonymen) Meldung von Auffälligkeiten gegen das Transplantationsrecht eingerichtet.
- Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Wartelistenführung wurden geändert: Eine Transplantationskonferenz entscheidet unter Gewährleistung eines mindestens Sechs-Augen-Prinzips über die Aufnahme auf die Warteliste. Die dafür verantwortlichen Ärzte werden gegenüber der Vermittlungsstelle Eurotransplant benannt.
- Zur Errichtung eines nationalen Transplantationsregisters wurde ein Gutachten in Auftrag gegeben.
- Wartelisten-Manipulationen sind künftig strafbar und können mit einer Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit einer Geldstrafe belegt werden.
- Die Richtlinien der Bundesärztekammer zur Transplantationsmedizin werden künftig durch das Bundesministerium für Gesundheit genehmigt.
- Die Manipulationsvorwürfe betrafen den Bereich der Organvergabe, der im deutschen Transplantationssystem streng von dem Bereich der Organspende getrennt ist. Trotzdem wurde die Notwendigkeit gesehen, auch im Bereich der Organspende die staatliche Kontrolle zu verstärken. Die Deutsche Stiftung Organtransplantation als Koordinierungsstelle für die Organspende erhält daher eine stärkere öffentlich-rechtliche Ausrichtung.
- Fehlanreize, wie Bonuszahlungen für Transplantationen, sollen vermieden werden. Im April 2013 haben deshalb die Deutsche Krankenhausgesellschaft und die Bundesärztekammer Empfehlungen ausgesprochen, die sicherstellen, dass finanzielle Anreize für einzelne Operationen nicht vereinbart werden dürfen. Das gilt auch für die Transplantationsmedizin. Damit soll die Unabhängigkeit der medizinischen Entscheidung sichergestellt werden.
- Die Krankenhäuser müssen zukünftig in ihren Qualitätsberichten angeben, ob sie sich an die Empfehlungen der Deutschen Krankenhausgesellschaft halten.
Literatur
- Christina Berndt: Leber im Angebot. In: Süddeutsche Zeitung. 20. Juli 2012
- Christina Berndt: Auf Leben und Tod. In: Süddeutsche Zeitung. 20. August 2013
- Richard Fuchs: Tod bei Bedarf. Das Mordsgeschäft mit Organtransplantationen. Ullstein, Frankfurt am Main/ Berlin 1996, ISBN 3-548-36650-3.
- Nataly Bleuel, Christian Esser, Alena Schröder: Herzenssache. Organspende: Wenn der Tod Leben rettet. C. Bertelsmann, München 2017, ISBN 978-3-570-10109-4.
- Heike Haarhoff (Hrsg.): Organversagen. Die Krise der Transplantationsmedizin in Deutschland. Hans Huber, Bern 2014, ISBN 978-3-943441-16-1.
- Andrea Hoisl u. a: Wertungen des „Transplantationsskandals“ durch die Medien. Diskursanalytische Studie an ausgesuchten deutschen Zeitungen. In: Der Anästhesist. Heft 1/2015, S. 16–25.
- Andrea Krenn (geb. Hoisl): Wertungen des „Transplantationsskandals“ durch die Medien. Med. Dissertation. Regensburg 2017.
- Lisa Meyer: Gesundheit und Skandal. Organspende und Organspendeskandal in medialer Berichterstattung und interpersonal-öffentlicher Kommunikation. Nomos, Baden-Baden 2017, ISBN 978-3-8487-3674-4 (Med. Diss., Erfurt 2016)
- Eckart Roloff, Karin Henke-Wendt: Dubiose Transplantationen – verführt der Organmangel zum Manipulieren? In: Geschädigt statt geheilt. Große deutsche Medizin- und Pharmaskandale. Hirzel, Stuttgart 2018, ISBN 978-3-7776-2763-2.
Einzelnachweise
- bundesaerztekammer.de (Memento vom 2. Dezember 2013 im Internet Archive)
- bundesaerztekammer.de (Memento vom 2. Dezember 2013 im Internet Archive)
- Prüfung der Lebertransplantationszentren. (PDF) Prüfungskommission der BÄK, 9. August 2018, abgerufen am 9. August 2018.
- A. Obed, A. Beham, K. Püllman, H. Becker, H. Schlitt, T. Lorf: Patients without hepatocellular carcinoma progression after transarterial chemoembolisation benefit from liver transplantation. In: World J Gastroenterol. Band 13, Nr. 5, 2007, S. 761–767.
- A. Obed, T.-Y. Tsui, A. A. Schnitzbauer, M. Obed, H. J. Schlitt, H. Becker, T. Lorf: Liver transplantation as curative approach for advanced hepatocellular carcinoma:is it justified? In: Langenbecks Archiv Surg. Band 393, 2008, S. 141–147.
- T. Lorf, A. A. Schnitzbauer, S. K. Schäfers, M. N. Scherer, H. J. Schlitt, M. Oellerich, H. Becker, A. Obed: prognostic value of the monoethylglycinexylididde (MEGX)-test prior to liver resection. In: Hepatogastroenterology. Band 55, Nr. 82-83, 2008, S. 539–543.
- Aktenzeichen 5 StR 20/16: HRRS 2017, 500-511. Stephan Ast: Die Manipulation der Organallokation. In: hrr-strafrecht.de. 23. Dezember 2017, abgerufen am 24. Dezember 2017.
- Aktenzeichen 7 O 3677/18: Helmut A. Graf: Oberarzt erhält Millionenentschädigung für unrechtmäßige Untersuchungshaft. In: Graf-Detzer Rechtsanwälte PartG mbB. 18. September 2019, abgerufen am 7. Dezember 2019.
- Gelogen für den Lebensretter? Verfahren wegen Falschaussage im Transplantationsprozess eingestellt.
- Arzt blieb jahrelang unbehelligt. Obwohl Dr. O. schon 2005 im Regensburger Uniklinikum auffiel … In: Mittelbayerische Zeitung. 2. August 2012, abgerufen am 3. August 2012.
- Auch Chef-Chirurg gerät ins Zwielicht. (Nicht mehr online verfügbar.) In: Mittelbayerische Zeitung. 7. August 2012, ehemals im Original; abgerufen am 8. August 2012. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven)
- Organspende-Skandal - Transplantationszahlen geben Rätsel auf. (Nicht mehr online verfügbar.) In: br.de. Bayerischer Rundfunk, 3. August 2012, archiviert vom Original am 29. Juli 2012; abgerufen am 3. August 2012.
- Uniklinik Regensburg hebt Beurlaubung von Klinikdirektor Hans-Jürgen Schlitt auf. In: Wochenblatt Regensburg. 21. November 2012.
- Chefarzt äußert schweren Verdacht. In: Süddeutsche Online. 28. Juni 2013.
- Organspende-Skandal: Klinikum trennt sich von Chefarzt. auf: sueddeutsche.de, abgerufen am 24. Februar 2013.
- Mängel am LMU-Klinikum. auf: sueddeutsche.de, 12. April 2013.
- Anita Kecke und Mathias Wöbking: Uniklinikum Leipzig entlässt Wolfgang Fleig. In: lvz.de. Leipziger Volkszeitung, 20. Februar 2019, abgerufen am 20. Februar 2019.
- Unregelmäßigkeiten bei Lebertransplantationen in Münster und Essen. In: Zeit Online. 1. Juli 2013.
- OLG Dresden, Beschluss vom 2. Mai 2018, Medieninformation Nr. 17/2018
- Neue Auffälligkeiten. In: Süddeutsche Online. 1. Juli 2013.
- Auffälligkeiten bei Lebertransplantation. In: Süddeutsche Online. 1. Juli 2013.
- Markus Pohlmann: Der Transplantationsskandal in Deutschland: Eine sozialwissenschaftliche Analyse der Hintergründe. Springer VS, 2018, ISBN 978-3-658-22784-5, S. 155–159.
- Markus Pohlmann, Kristina Höly: Manipulationen in der Transplantationsmedizin. Ein Fall von organisationaler Devianz? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychiatrie. 2017 (69), S. 181–207, doi:10.1007/s11577-017-0436-3
- Organspendeskandal in Göttingen: „Dafür ist kriminelle Energie nötig“. In: Spiegel Online. abgerufen am 1. August 2012.
- Breite Front gegen Chefarzt-Boni. In: Ärzte Zeitung. 28. Januar 2013.
- Ökonomisierung der Medizin: Die Grenzen des Marktes. In: Dtsch Arztebl. Band 110, Nr. 23-24, 2013, S. A-1134 / B-986 / C-982.
- Transplantationsgesetz: Erneute Novelle. In: Dtsch Arztebl. Band 110, Nr. 25, 2013, S. A-1239 / B-1081 / C-1073.
- Transplantationsmedizin: Weitere Gesetzesänderungen stehen an. In: Dtsch Arztebl. Band 110, Nr. 27-28, 2013, S. A-1356 / B-1190 / C-1174.
- Weitere Novelle wird im Bundestag vorbereitet. aerzteblatt.de, 25. Juni 2013.
- Transplantationen 2013: Zahl der Organspender sinkt drastisch. Spiegel Online, 24. April 2013.
- Bericht der Bundesregierung über den Fortgang der eingeleiteten Reformprozesse, mögliche Missstände und sonstige aktuelle Entwicklungen in der Transplantationsmedizin (PDF; 424 kB) BT-Drs. 18/3566 vom 12. Dezember 2014.
- Zweiter Bericht der Bundesregierung über den Fortgang der eingeleiteten Reformprozesse, mögliche Missstände und sonstige aktuelle Entwicklungen in der Transplantationsmedizin (PDF; 413 kB) BT-Drs. Drucksache 18/7269 vom 11. Januar 2016.
- Dritter Bericht der Bundesregierung über den Fortgang der eingeleiteten Reformprozesse, mögliche Missstände und sonstige aktuelle Entwicklungen in der Transplantationsmedizin (PDF; 362 kB) BT-Drs. Drucksache 18/10854 vom 13. Januar 2017.