Netzwerk Wissenschaftsfreiheit
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit ist ein 2020 gegründeter Zusammenschluss von überwiegend an deutschen Hochschulen forschenden und lehrenden Wissenschaftlern, die sich zum Ziel gesetzt haben, die im Grundgesetz verankerte Wissenschaftsfreiheit gegen ihrer Ansicht nach ideologisch motivierte Einschränkungen zu verteidigen. Dem Netzwerk gehören promovierte Forscher aller Fachrichtungen an, die wissenschaftlich tätig sind.
Geschichte
Am 28. September 2020 traf sich erstmals eine Gruppe von damals 24 Wissenschaftlern auf Initiative der Migrationsforscherin Sandra Kostner, um eine übergreifende Zusammenarbeit zur Verbesserung der akademischen Streitkultur und gegen die Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit zu verabreden. Bei dieser Gelegenheit wurde eine Steuerungsgruppe gewählt, die aus Sandra Kostner als Sprecherin, der Politikwissenschaftlerin Ulrike Ackermann, der Philosophin Maria-Sibylla Lotter, dem Juristen Martin Nettesheim und dem Historiker Andreas Rödder besteht.[1] Am 3. Februar 2021 stellte eine Gruppe von inzwischen 70 Gründungsmitgliedern das Netzwerk und sein Manifest der Presse vor. Die Anzahl der Mitglieder wuchs rasch an.[2]
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit hat im Juli 2021 eine Gründungsversammlung abgehalten, um einen eingetragenen Verein zu etablieren. Das Netzwerk hatte zu dem Zeitpunkt bereits etwa 550 Mitglieder.[3]
Positionen
Kritik an Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit und Schwinden der Streitkultur
Das Netzwerk setzt sich nach eigenen Angaben dafür ein, das Bewusstsein für die Bedeutung der freien und kontroversen Debatte und einer von Argumenten getragene Streitkultur in allen Wissenschaftsbereichen zu stärken, und wendet sich gegen zunehmende moralisch-politische Einengungen. Diese gehen aus Sicht des Netzwerks sowohl von externen Aktivisten und Studierenden aus, die Veranstaltungen und Meinungsäußerungen unterbinden wollten, als auch von Wissenschaftlern, die Kollegen von Tagungen, Drittmitteln und Publikationsorganen ausschließen, weil sie Forschungsfragen verfolgen, die nicht im Einklang mit ihrer Weltanschauung stehen. Die Sorge, aus politischen Gründen als „umstritten“ etikettiert und aufgrund dieser Etikettierung von der Teilhabe am wissenschaftlichen Diskurs und vor allem von Drittmitteln und Publikationsmöglichkeiten ausgeschlossen zu werden, führt in der Beobachtung des Netzwerks dazu, dass zunehmend in der Wissenschaft auf die Erforschung weltanschaulich missliebiger Themen verzichtet werde.[4]
Wissenschaftlicher Pluralismus
Nach Angaben auf der Webseite geht es dem Netzwerk um die Sicherung des individuellen, grundgesetzlich festgeschriebenen Rechts auf freie Forschung und Lehre. Aus diesem Grund setze sich das Netzwerk für einen maximalen Pluralismus von Forschungsfragen, Forschungsansätzen und Forschungsmethoden ein und wende sich gegen die Begrenzung von Debattenräumen. Das Netzwerk betrachte es als elementares Qualitätsproblem für die Wissenschaft, wenn in der Forschung Fragestellungen und Debatten gemieden werden.[5]
„Gegenderte“ Sprachformen
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fordert, dass es für die Sprachverwendung in Forschung, Lehre und Wissenschaftsbetrieb keine verpflichtenden Vorgaben von Hochschulleitungen oder der Wissenschaftsbürokratie geben dürfe, wie zu „gendern“ sei. Die Vorsitzende Kostner betont, dass die im Netzwerk vertretenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler persönlich unterschiedlich mit dem Gendern umgingen. Während auch das generische Maskulinum nicht ideal sei, gebe es keine Alternativen, die unter stilistischen und grammatischen Gesichtspunkten vollständig überzeugten. Niemand dürfe daher zu einer „geschlechterinklusiv deklarierte[n] Sprachform“ genötigt werden.[6][3]
Aktivitäten
Das Netzwerk stellt nach eigenen Angabe die Bedeutung der Forschungs- und Lehrfreiheit durch öffentliche Veranstaltungen heraus, analysiert Gefährdungen der gelebten Wissenschaftsfreiheit, legt Fälle ihrer Einschränkung offen und entwickelt Gegenstrategien.[5] Im Juli 2021 veranstaltete das Netzwerk eine Online-Podiumsdiskussion mit Wissenschaftspolitikern aller Bundestagsfraktionen zum Thema „Forschung und Lehre sind frei!?“[7] Die Veranstaltung wurde von Heike Schmoll moderiert.[8]
Rezeption
Das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit stieß in Presse und Rundfunk auf große Resonanz. Thomas Thiel berichtete in der FAZ, das Netzwerk biete "Opfern der Cancel Culture seine Unterstützung an". Es wolle unzulässig ausgegrenzten Sichtweisen ein Forum verschaffen, solange die Sichtweisen sich im Rahmen von Gesetz und Verfassung bewegten. Gemeinsame Basis der Netzwerkmitglieder sei die Beobachtung, dass der Konformitätsdruck in der Wissenschaft insbesondere bei gesellschaftlich strittigen Themen größer geworden sei.[9] In der FR erklärte Harry Nutt das Netzwerk Wissenschaftsfreiheit angesichts in die gesellschaftliche Mitte eingedrungener "juveniler Unerbittlichkeit und ideologische[r] Zuspitzungen" zu einer Art „Notgemeinschaft“. Die Netzwerkmitglieder wendeten sich gegen Tendenzen, die freie Lehre einzuschränken, sowie gegen "eine aus ihrer Sicht falsch verstandene politische Korrektheit".[10] Die Debatte, die die Gründung des Netzwerks auslöste, so mahnte Jakob Hayner im Neuen Deutschland, solle man „nicht einfach abtun“.[11]
Neben Zustimmung wurde auch Kritik an Programmatik und Zusammensetzung des Netzwerkes geäußert. Paul Munzinger kritisierte in der SZ, auf der Mitgliederliste fänden sich „viele bekannte Namen aus dem konservativen Spektrum […], die in den letzten Jahren wegen ihrer Positionen teils heftig kritisiert wurden“.[12] Hayer meint hingegen, man käme nicht weit, wolle man das Anliegen des Netzwerks mit einem bloßen Verweis auf die politische Tendenz seiner Gründungsmitglieder diskreditieren. Er kritisiert gleichwohl die mangelnde Kritik an "neoliberalen" Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit.[11]
Der Wissenschaftsjournalist Jan-Martin Wiarda wies in der SZ darauf hin, dass der wissenschaftliche Diskurs bisher durch „Männer“ verengt worden sei, die auch unter Netzwerk-Mitgliedern die „übergroße Mehrheit“ stellten. Er schließt daraus: „Womöglich reflektiert der Gründungsaufruf des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit ja genau das: Die Perspektivenvielfalt in der deutschen Wissenschaftslandschaft nimmt (sehr langsam!) zu. Und denen, die bislang in der Hierarchie unangefochten an der Spitze standen, wird mulmig zumute.“[13] Auch Stephan Lessenich bestreitet die Diagnose des Netzwerks, die hauptsächlich auf teilweise weit zurückliegenden Einzelfällen beruhe. Die beteiligten Professoren hätten „keinerlei Probleme, sich zu artikulieren und gehört zu werden“ und könnten „es offenbar nicht ertragen, wenn die weniger Machtvollen auch einmal ihre Stimme erheben“.[14]
In der Fachzeitschrift Public History Weekly kritisieren die Historiker Antje Flüchter und Christoph Dartmann, dass sich das Netzwerk „überraschenderweise“ nicht über die „geschichtspolitische Gesetzgebung in Polen oder die Wissenschaftspolitik des Orbán-Regimes“ auslasse, die doch „zeigen, wie aggressiv Drohung und Zensur die Wissenschaftsfreiheit in der EU fundamental gefährden.“[15] Auch Andreas Rödders Mainzer Historikerkollege Andreas Frings kritisierte im Deutschlandfunk eine „unangemessene Dramatisierung“ und eine falsche Schwerpunktsetzung und verwies auf die realen Gefährdungen der Wissenschaftsfreiheit in Ländern wie Ungarn, Polen und Belarus sowie wiederholte Morddrohungen gegen Virologen oder Klimaforscher in Deutschland.[16]
Weblinks
Einzelnachweise
- Gegen Cancel Culture – Wissenschaftler gründen „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, Die Welt, 3. Feb. 2021
- Dieter Schönecker: Im Namen von Wissenschaftsfreiheit. Eine Replik, Philosophieblog praefaktisch.de, 24. März 2021
- Jan Barkmann: Gastbeitrag - Gendern in der Wissenschaft: Jede/r nach der eigenen Façon, Cicero Online, 22. Juli 2021, abgerufen am 5. August 2021
- Vgl. Thomas Thiel: Ausbruch aus der Tabuzone, FAZ 3. März 2021; Freiheit der Wissenschaft: Was nicht genehm ist, wird abgelehnt; Interview von Manuel J. Hartung und Anna-Lena Scholz mit Sandra Kostner und Andreas Rödder, DIE ZEIT, 3. Februar 2021; Ralf Hanselle im Gespräch mit Maria-Sibylla Lotter, Cicero, 3. Februar 2021
- Vgl. Website des Netzwerks Wissenschaftsfreiheit
- Netzwerk Wissenschaftsfreiheit, Pressemitteilung vom 1. Juli 2021 Netzwerk Wissenschaftsfreiheit fordert: Kein Zwang zum Gendern; abgerufen am 6. August 2021
- Diskussion "Forschung und Lehre sind frei!?" des "Netzwerk Wissenschaftsfreiheit" am 12. Juli 2021; abgerufen am 5. August 2021
- Hannah Bethke: Wenn Wissenschaft nur noch das aussprechen darf, was gerade als politisch korrekt gilt, ist ihre Freiheit bedroht, Neue Zürcher Zeitung, 20. Juli 2021; abgerufen am 5. August 2021
- Thomas Thiel: Ausbruch aus der Tabuzone. In: FAZ. 3. Februar 2021 (Online).
- Harry Nutt: Wiedersehen mit Hexenforscher, FR, 9. Feb. 2021
- Jakob Hayner: Ernst zu nehmender Popanz, Neues Deutschland, 13. Feb. 2021
- Paul Munzinger: Rettung naht. Ein Zusammenschluss von Professoren prangert ein angebliches Einknicken der Hochschulen vor dem linken Mainstream an, Süddeutsche Zeitung, 3. Feb. 2021
- Jan-Martin Wiarda: Netzwerk Wissenschaftsfreiheit: Austeilen und Einstecken. Süddeutsche Zeitung, 7. Februar 2021, abgerufen am 21. April 2021.
- Eva-Maria Magel, Sascha Zoske: Honneth-Nachfolger Lessenich: „Ich bestreite, dass es eine Cancel Culture gibt“. In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 13. Mai 2021]).
- Christoph Dartmann, Antje Flüchter, Silke Schwandt: „Wissenschaftsfreiheit“ und Pluralisierung. Public History Weekly, 8. April 2021, abgerufen am 21. April 2021.
- Netzwerk Wissenschaftsfreiheit - Gibt es eine "Cancel Culture" an den Universitäten? Abgerufen am 21. Oktober 2021 (deutsch).