Nativismus (Sozialwissenschaften)
Nativismus (von lateinisch nasci „geboren werden“; nativus „angeboren, natürlich“) bezeichnet in der Ethnologie (Völkerkunde) und Religionssoziologie die Orientierung von politischen Bewegungen, die für die Rechte der in einem Lande geborenen nationalen Mehrheit und gegen die Zuwanderung Fremder beziehungsweise gegen die Ansprüche einer fremden Minderheit kämpft. Der amerikanische Soziologe Ralph Linton definierte 1943 erstmals nativistisch als Eingeborenen-Bewegungen mit mehr oder weniger starkem Selbstständigkeitsinteresse: „Jeder bewusste, organisierte Versuch von Angehörigen einer Gesellschaft, ausgewählte Aspekte ihrer Kultur wiederzubeleben oder fortzuführen.“ Er unterschied zwischen einem wiederbelebenden und einem fortführenden Nativismus, der das Bestehende erhalten will; beide Formen schließen sich aber nicht gegenseitig aus.[1]
Antikolonialer Nativismus
Nativismus ist meist als reaktive Bewegung auf den Einfluss der Kolonisation zu verstehen, auf Unterdrückung, Benachteiligung, Frustration und Fremdeinfluss. Solche Strömungen können auch mit Bewegungen religiöser Heilserwartungen zusammenfallen, die heute als Heilsbewegung und Erneuerungsbewegung bezeichnet werden, beispielsweise der Keltische Neopaganismus oder die christliche Neue Geistliche Bewegung (siehe auch Chiliasmus).
Häufig sind nativistische Bewegungen Kern einer politischen nationalen Befreiungsfront. In ehemaligen Kolonien zielen sie auf die Wiederherstellung alter Sitten und Bräuche, die von Kolonialmächten und der christlichen Missionierung unterdrückt wurden. Daher kann Nativismus auch als ein Vorläufer des Nationalismus verstanden werden und kann auch mit Ethnozentrismus (Selbstbezogenheit) verglichen werden (siehe dazu auch Vigilantismus: systemstabilisierende Selbstjustiz).
Nativismus in den Vereinigten Staaten
Der Nativismus in den Vereinigten Staaten entstand als Reaktion auf das enorme Anwachsen der Einwanderung zwischen 1846 und 1854, als ungefähr 3 Millionen Europäer ins Land kamen. 1849 wurde als Reaktion auf diese als Bedrohung empfundenen Einwanderung ein nativistischer Geheimbund gegründet, der Order of the Star Spangled Banner. An die Öffentlichkeit traten die Nativisten 1854 mit der Gründung der anti-katholischen American Party und forderten eine gesetzliche Verlängerung der Fristen für Einwanderung und Einbürgerung.
Diese Form des Nativismus trat häufig zusammen mit Fremdenfeindlichkeit (Xenophobie), Antikatholizismus (Antipapismus) und Rassismus auf, getragen von der weißen angelsächsischen protestantischen Oberschicht (WASP). Sie wurde Mitauslöser von antikatholischen Ausschreitungen Ende des 19. Jahrhunderts, beispielsweise der nativistischen Unruhen in der Stadt Philadelphia.
Der Wahlsieg Donald Trumps bei der Präsidentschaftswahl 2016 ist von Publizisten und Meinungsforschern auf eine nativistische Einwanderungspolitik zurückgeführt worden, die Trump ihrer Ansicht nach ins Zentrum seines Wahlkampf gerückt hatte.[2]
Siehe auch
- Ethnonationalismus (Streben einer Ethnie nach Staatlichkeit)
- Unterwerfungstheorie (Modell der Staatsentstehung durch ethnische Überlagerung)
Literatur
- Antje Coburger: Nativismus und Fremdenangst in den USA: von den Gründungskolonien bis zur jungen Republik. VMD, Saarbrücken 2008, ISBN 978-3-639-00038-2.
- Fuad Kandil: Nativismus in der Dritten Welt. Wiederentdeckung der Tradition als Modell für die Gegenwart. Bläschke, Sankt Michael 1983, ISBN 3-7053-1893-4.
- Ralph Linton: Nativistic Movements. In: American Anthropologist. Band 45, Nr. 2, 1943, S. 230–240, hier S. 230–231 (englisch; PDF: 656 kB, 11 Seiten auf wiley.com).
- Wilhelm Emil Mühlmann: Chiliasmus, Nativismus, Nationalismus: Das soziologische Fazit. In: Alexander Busch, Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.): Soziologie und moderne Gesellschaft: Verhandlungen des 14. Deutschen Soziologentages vom 20. bis 24. Mai 1959 in Berlin. Enke, Stuttgart 1959, S. 228–242 (Downloadseite).
- Wilhelm Emil Mühlmann, Alfons M. Dauer: Chiliasmus und Nativismus:Studien zur Psychologie, Soziologie und historischen Kasuistik der Umsturzbewegungen (= Studien zur Soziologie der Revolution. Band 1). Reimer, Berlin 1961 (durchsuchbar in der Google-Buchsuche).
- Henry A. Rhodes: Nativist and Racist Movements in the U.S. and their Aftermath. In: Curricular Resources. Band 4, Einheit 5, 1994 (englisch; online auf teachersinstitute.yale.edu).
- Hans Jürgen Wendler: Universalität und Nativismus: Das nationale Selbstverständnis der USA im Spiegel der Einwanderungspolitik. Doktorarbeit Universität Hamburg 1978 (DNB 780790693).
Einzelnachweise
- Ralph Linton: Nativistic Movements. In: American Anthropologist. Band 45, Nr. 2, 1943, S. 230–240, hier S. 230–231 (englisch; PDF: 656 kB, 11 Seiten auf wiley.com); Zitat: „Any conscious, organized attempt on the part of a society’s members to revive or perpetuate selected aspects of its culture. […] For convenience we will refer to the first of these forms as revivalistic nativism, to the second as perpetualive nativism. These two forms are not completely exclusive.“
- Clifford Young: It’s Nativism: Explaining the Drivers of Trump’s Popular Support. (Memento vom 1. Dezember 2016 im Internet Archive) In: Ipsos Ideas Spotlight. 1. Juni 2016, abgerufen am 5. Juni 2020 (englisch).
Fred Hiatt: Opinions: Donald Trump’s nativist bandwagon. In: The Washington Post. 23. August 2015, abgerufen am 5. Juni 2020 (englisch).
Jennifer Jacobs, Sahil Kapur: Politics: Donald Trump Affirms Nativist Immigration Vision in Fiery Speech. In: Bloomberg.com. 1. September 2016, abgerufen am 5. Juni 2020 (englisch).