Nasciturus (Deutschland)
Als Nasciturus (lateinisch ‚der geboren werden wird‘) wird im Recht Deutschlands das bereits gezeugte, aber noch ungeborene Kind bezeichnet. Daher wird bereits ein menschlicher Embryo nach der Einnistung in die Gebärmutterschleimhaut als Nasciturus bezeichnet. Vor der Nidation wird es als Nondum conceptus bezeichnet.
Grundrechtliche Stellung des Nasciturus
Im deutschen Recht ist der Nasciturus (nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts[1] sowie herrschender Auffassung) Träger der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG. Das Bundesverfassungsgericht begründet dies damit, dass auch der Nasciturus ab der Nidation ein eigenständiges Wesen ist, da sich das ungeborene Kind nicht zum Menschen, sondern als Mensch entwickelt.[2] Aus dem Schutz der Menschenwürde folgt, dass eine Aufrechnung von Leben gegen Leben grundsätzlich unzulässig ist.[3]
Ob die Leibesfrucht ebenso Träger des Rechts auf Leben ist, ist umstritten: Das Bundesverfassungsgericht hat es offen gelassen, ob der Nasciturus selbst Grundrechtsträger nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ist, oder ob er nur aufgrund einfachgesetzlicher Vorschriften, wie §§ 218 ff. StGB (Strafbarkeit des Schwangerschaftsabbruchs), geschützt wird.[4] Nach der herrschenden Ansicht in der Rechtslehre ist auch das ungeborene Leben in den Schutzbereich des Grundrechts auf Leben und körperliche Unversehrtheit einbezogen.[5] Nach einer anderen Ansicht, die zumeist in physiologischen Konzepten begründet ist, nimmt der grundrechtliche Schutz zu, je weiter der Fötus entwickelt ist und je näher er der Geburt kommt.[6] In jedem Fall entwickelt der Nasciturus eine eigenständige, von der Rechtsordnung zu schützende Position, die eine Schutzpflicht des Staates gegenüber Verletzungen Dritter begründet. Ein Instrument, um dieser Schutzpflicht nachzukommen, stellen genannte strafrechtliche Vorschriften dar.
Strafrechtliche Stellung des Nasciturus
Da das ungeborene Leben nach den zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts zum Schwangerschaftsabbruch[7] auch Grundrechtsträger ist, müssen Verletzungen des Lebensrechts auch gesetzlich geahndet und verfolgt werden. Strafrechtlich wird der Nasciturus durch § 218 ff. StGB (Schwangerschaftsabbruch) geschützt, nicht jedoch durch § 212 StGB (Totschlag). Bei § 218 StGB handelt es sich dennoch um ein Tötungsdelikt, da es wie andere Delikte im 16. Abschnitt als Straftat gegen das Leben geregelt wird. Die strafrechtliche Privilegierung des Schwangerschaftsabbruchs im Vergleich zum Totschlag ergibt sich aus dem ethischen Spannungsfeld, das der Gesetzgeber auszugleichen versucht: Wenn dem ungeborenem Menschen in gleicher Weise wie dem geborenen Menschen das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zugesprochen wird, folgt hieraus auch der strafrechtliche Schutzanspruch des Nasciturus.
Auf der einen Seite steht daher das binnenlogische Argument, den grundrechtlich geschützten Nasciturus durch die Strafandrohung aus § 218 StGB zu schützen. Auf der anderen Seite betont das Bundesverfassungsgericht, dass der Gesetzgeber Frauen in moralischen Ausnahmesituationen keine Pflicht zum Austragen des Kindes auferlegen dürfe. Daher müsse der Gesetzgeber Möglichkeiten schaffen, nach dem Kriterium der Unzumutbarkeit auch gesetzliche Regelungen zur Straffreistellung und strafrechtlichen Rechtfertigung des Schwangerschaftsabbruchs zu schaffen[8], wie sie derzeit in § 218a StGB abgebildet sind. Diese Regelung ist freilich höchst umstritten. So wird auf der einen Seite betont, dass der strafrechtliche Schutz des Nasciturus nicht ausreichend sei, um den staatlichen Schutzpflichten gerecht zu werden.[9] Auf der anderen Seite wird angeführt, dass es nicht Aufgabe des Gesetzgebers sei, Frauen in Notsituationen zusätzlich noch durch § 218 StGB zu kriminalisieren. Zudem zeigt ein Vergleich mit Ländern mit strengeren strafrechtlichen Vorschriften, dass die Abtreibungszahlen dort höher sind und sich Frauen zudem in kriminelle Milieus begeben müssen, wenn staatlich flankierte Angebote hierfür fehlen.[10]
Im Ergebnis wird sich dieser Konflikt kaum lösen lassen. So wiesen bereits die Richter Mahrenholz und Sommer in ihrem Sondervotum zum Urteil des Bundesverfassungsgericht vom 28. Mai 1993 darauf hin, dass sich der Gesetzgeber in diesem Bereich "an der Grenze der Regelungsfähigkeit" befände.[11]
Weitere rechtlichen Vorschriften zum Nasciturus
Im Zivilrecht ist der Nasciturus nach der Definition des § 1 BGB nicht rechtsfähig, wird jedoch durch zivilrechtliche Sondervorschriften geschützt. Beispielsweise kann der Nasciturus Erbe sein, wenn er zum Zeitpunkt des Erbfalls bereits gezeugt war (§ 1923 Abs. 2 BGB). Nach dieser Vorschrift kann ein Kind, das beim Erbfall noch nicht geboren, aber schon gezeugt ist, Erbe sein, wenn es nach dem Erbfall lebend geboren und damit rechtsfähig wird. Das Kind wird rechtlich so behandelt, als wäre es vor dem Erbfall geboren (gesetzliche Fiktion). Zudem genießt der Nasciturus über § 823 ff. BGB deliktsrechtlichen Schutz vor vorgeburtlichen Schädigungen. Dem Nasciturus kann ein gesetzlicher Vertreter, der Leibesfruchtpfleger (§ 1912 BGB), seitens des Familiengerichtes bestellt werden. Aufgabe des Leibesfruchtpflegers ist z. B. die Geltendmachung obengenannter Erbansprüche, aber auch die Zustimmung zur vorgeburtlichen Vaterschaftsanerkennung, Namenserteilung sowie Sorgeerklärung. Die Leibesfruchtpflegschaft endet mit der Geburt des Kindes.
Ein besonderer Fall liegt vor, wenn ein Ungeborenes durch einen Versicherungsfall der Mutter geschädigt wird: Es erhält dann nach der Geburt alle medizinischen Leistungen und Entschädigungen von dem für die Mutter zuständigen Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, als wäre es selbst zum Zeitpunkt des Unfalls versichert gewesen (§ 12 SGB VII).
Zusammengefasst lässt sich sagen, dass der Nasciturus dem bereits Geborenen teilweise insoweit gleichgestellt wird, als es ihm zu seinem Vorteil gereicht (“Nasciturus pro iam nato habetur, quotiens de commodis eius agitur”).
Gegen Schädigungen durch die Schwangere ist der Nasciturus nur stark eingeschränkt geschützt. Insbesondere sind die Körperverletzungsdelikte (§§ 223 ff. StGB) auf Ungeborene nicht anwendbar.[12] Gerichtliche Schutzmaßnahmen nach § 1666 BGB sind nach der herrschenden Meinung zwar zulässig, praktisch aber kaum zum Schutz des Nasciturus geeignet.[12]
Einordnung in Systematik der Rechtssubjekte
Einzelnachweise
- BVerfGE 88,203 (Schwangerschaftsabbruch II). Urt. d. BVerfG vom 28. Mai 1993. In: NJW 1993. S. 1751–1754 (unibe.ch).
- BVerfGE 39, 1, 37 sowie BVerfGE 88, 203, 252.
- BVerfGE 115, 118, 151–154.
- BVerfGE 88, 203, 251 ff.
- Lang in: Epping/Hillgruber - BeckOK Grundgesetz-Kommentar, Art. 2, Rn. 64. Stand: 15. November 2021.
- Zusammenfassend Müller-Terpitz, Ralf: Der Schutz des pränatalen Lebens - Eine verfassungs-, völker- und gemeinschaftsrechtliche Statusbetrachtung an der Schwelle zum biomedizinischen Zeitalter, S. 172–186, Dissertation, Tübingen 2007.
- BVerfGE 39, 1 ff. und BVerfGE 88, 203 ff.
- BVerfGE 88, 203, 203.
- Statt vieler Weiß, Axel: Das Lebensrecht ungeborener Kinder und ihr strafrechtlicher Schutz in der Schwangerschaft, JR 1993, S. 449 ff.
- Im Überblick zum Spannungsfeld: Eschelbach in: von Heintschel-Heinegg, BeckOK StGB, § 218 Rn. 1. Stand: 1. November 2021.
- Sondervotum Sommer/Mahrenholz, BVerfGE 88, 203, 338.
- Wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags: Sachstand Zum Schutz des Ungeborenen bei einer Drogen- oder Alkoholsucht der Schwangeren. 28. Januar 2020, abgerufen am 27. Januar 2021.