Nachlass
Nachlass bezeichnet im archivarischen Sinne archivwürdiges Schriftgut und andere Materialien, die von einer natürlichen Person nach deren Tod von einer Bibliothek, einem Archiv oder einer anderen (wissenschaftlichen) Institution übernommen werden.[1] Sofern der Erblasser in seinem Testament bestimmte Sachen zur Archivierung vererbt, ist dies im juristischen Sinne ein Vermächtnis.
Arten von Nachlässen
Unter Umständen wird nicht der gesamte Nachlass einer Person in einer Institution aufbewahrt, sondern es finden sich mehrere Teilnachlässe oder Splitternachlässe[2] in unterschiedlichen Institutionen. Dies bedeutet oft eine Erschwerung zukünftiger Nutzungen.
Als einen angereicherten Nachlass bezeichnet man einen Nachlass, der nachträglich um Materialien ergänzt wurde, z. B. um Briefe des Nachlassers, die sich zuvor bei dessen Korrespondenzpartnern befanden. Ebenfalls ist ein Nachlass als angereichert zu betrachten, wenn dienstliche Unterlagen mit privaten Dokumenten vermischt sind. In diesem Fall sind die Archivgesetze für die Übergabe zu beachten.
Im übertragenen Sinn wird manchmal auch von einem Firmennachlass oder einem Vereinsnachlass gesprochen. Der Bestandsbildner ist in diesem Fall keine natürliche Person, sondern eine juristische, beispielsweise ein Unternehmen oder ein Verein.
Als Kryptonachlass bezeichnet man den Nachlass einer Person, der sich im Nachlass einer anderen Person befindet.[3]
Zu Lebzeiten kann eine Person ihr persönliches Archivgut auch verschenken oder verkaufen. Man spricht dann von einem Vorlass. Den Begriff prägte der Leiter der Handschriftenabteilung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, Jochen Meyer.
Erschließung
In Archiven gelten für die inhaltliche Erschließung von Nachlässen die gleichen Grundregeln wie für die Erschließung von Archiv- und Sammlungsgut (v. a. OVG). Die Einheitlichkeit der Verzeichnung von Nachlässen wird durch den Einsatz spezifischer Archivsoftware unterstützt.
Das in deutschsprachigen Ländern vor allem im Bibliotheksbereich verwendete Regelwerk für die Erschließung von Nachlässen und Autographen sind die so genannten RNAB (Regeln und Normen zur Erschließung von Nachlässen in Archiven und Bibliotheken[4]). Diese neuen, überwiegend von Bibliotheken erstellten Regeln versuchen ebenso eine einheitliche Erschließung von Nachlässen im deutschsprachigen Raum zu fördern und lassen eine gewisse Parallelität zur mehrstufigen Bestandserschließung in Archiven erkennen.
Nachweis und Übernahme
Es gibt verschiedene Ansätze, Nachlässe übergreifend nachzuweisen. Dies ist besonders wichtig, da keine grundlegenden Regeln vorliegen, wo Nachlässe endgültig aufbewahrt werden müssen und in der Regel die Person selbst oder Erben über die Abgabe entscheiden. Nachlässe von Schriftstellerinnen und Schriftstellern finden sich z. B. in großem Umfang im Deutschen Literaturarchiv Marbach, können aber ebenfalls in weiteren Archiven, Bibliotheken oder Museen überliefert sein. Nachlässe von Politikern können sich in den einschlägigen Parteiarchiven, zuständigen Staats- oder Kommunalarchiven des Wirkungskreises befinden, in dem der Erblasser tätig war.
Grundlegend gilt daher die Empfehlung, vor allem auch im Nutzerinteresse, dass Nachlässe den Archiven, Museen oder Bibliotheken angeboten werden, in dessen Zuständigkeitsbereich der Nachlass fällt. Hier kann der institutionelle Wirkungskreis (z. B. eines Wissenschaftlers) ein ganz wesentliches Kriterium sein, da nicht selten private und dienstliche Unterlagen vermischt sind. Dienstliche Unterlagen sind nach Deutschem Archivrecht dem zuständigen Archiv zu übergeben, da es sich dabei i. d. R. um das Eigentum des Dienstherren bzw. des Registraturbildners handelt. Nicht selten wird diese Regel von Nachlassgebern übersehen oder von übernehmenden Institutionen z. T. aus Prestigegründen ignoriert.
Nachlässe und Teilnachlässe oder Splitter können in unterschiedlichen Institutionen nachgewiesen sein. Eine besondere Hilfe für Nutzerinteressen spielen dabei Fachportale, wie das Archivportal-D oder der Nachweis der Nachlässe im Bundesarchiv.
- Ein wichtiges Online-Findmittel (Repertorium) für Nachlässe ist die Zentrale Datenbank Nachlässe (ZDN) des Bundesarchivs, die in Fortführung des gedruckten Verzeichnisses von Wolfgang A. Mommsen ca. 30.000 Nachlässe vor allem in deutschen Archiven nachweist.
- Das Deutsche Kunstarchiv im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg angesiedelt, ist mit ca. 1.400 Beständen das größte Archiv schriftlicher Nachlässe zu Kunst und Kultur in Deutschland.
- Die zentrale Datenbank Kalliope bei der Staatsbibliothek zu Berlin enthält etwa 1,2 Mio. Datensätze zu Autographen und Nachlässen in ca. 500 deutschen Archiven, Bibliotheken und Museen sowie zu anderen Sammlungen. Sie versteht sich in Bezug auf die Listung von Nachlässen als Fortführung des gedruckten Verzeichnisses von Ludwig Denecke und Tilo Brandis.
- Die Nachlässe von rund 6 100 Künstlern, Wissenschaftlern und Kulturpolitikern sind in Österreich auf der Website der Österreichischen Nationalbibliothek aus einem besonderen Verzeichnis abrufbar.[5]
- Das Pendant für die Schweiz ist das Repertorium der handschriftlichen Nachlässe in den Bibliotheken und Archiven der Schweiz.
Benutzung
Nachlässe dienen als Quellen für Biografien, für historische, literaturwissenschaftliche und wissenschaftshistorische Forschungen. Aber auch Genealogen nutzen Nachlässe. Das Recht auf Einsicht in die Unterlagen eines Nachlasses kann verschiedenen Kriterien und Beschränkungen unterliegen. Handelt es sich bei einem Nachlass um eine Schenkung, dann gelten die allgemeinen Benutzungsregeln des betreffenden Archivs. Zusätzliche Einschränkungen können entstehen, wenn Erben oder der Erblasser selbst den Vor- oder Nachlass als Depositum übergeben haben.
Heute sind öffentliche Archive bestrebt, ihre ihnen anvertrauten Nachlässe der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Einschränkungen können aber weiterhin durch die zu beachtenden Persönlichkeitsrechte, das Datenschutzrecht, Urheberrechten oder Rechten Dritter entstehen. Ebenfalls können Nachlasser oder seine Erben unter Umständen bestimmte Nutzungsbeschränkungen erteilen. So bestimmte beispielsweise der Kirchenhistoriker Franz Xaver Kraus, dass sein Nachlass der Stadtbibliothek Trier übergeben werden sollte und erst 50 Jahre nach seinem Tod geöffnet werden dürfe. Generell soll aber vermieden werden, dass die Kosten für die sehr zeitintensiven Erschließungsarbeiten und die Aufbewahrung des Nachlasses von der Allgemeinheit getragen werden, dieser aber wiederum der Zugang zu den darin enthaltenen Informationen verweigert wird. Ähnliches gilt auch, wenn der Nachlass lediglich als Depositum, also als Dauerleihgabe, einer Institution übergeben wird. Hier werden heute meist Vereinbarungen getroffen, die bereits im Vorhinein regeln, dass der Leihgeber bei einer eventuellen Rückforderung die entstandenen Kosten für Erschließung, Restaurierung und Aufbewahrung zu erstatten hat.
Siehe auch
Literatur
- Ludwig Denecke, Tilo Brandis: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bundesrepublik Deutschland. 2. Aufl. Boppard: Boldt, 1981. ISBN 3-7646-1802-7 (Die 1. Aufl. erschien 1969.)
- Pia Gamon u. a.: Basis Künstlerarchiv: Kunst zwischen Atelier und Museum. Das Archiv für Künstlernachlässe der Stiftung Kunstfonds, Verlag für Moderne Kunst, Wien 2015, ISBN 978-3-903004-16-0.
- Ewald Grothe: Kooperative Erschließung von Handschriften und Nachlässen, Teil 1: „Ein unverkennbares Bedürfniß der Wissenschaft“. Projekte in deutschen Bibliotheken zwischen 1885 und 1945. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53 (2006), S. 234–243. als Volltext abrufbar (PDF; 224 kB)
- Ewald Grothe: Kooperative Erschließung von Handschriften und Nachlässen, Teil 2: Auf dem Weg zu Kalliope. Zur Erschließungssituation in deutschen Bibliotheken und Archiven seit 1945. In: Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie 53 (2006), S. 291–299. als Volltext abrufbar (PDF; 222 kB)
- Ewald Grothe: Die kooperative Erschließung von Autographen und Nachlässen im digitalen Zeitalter. Probleme und Perspektiven. In: Bibliothek. Forschung und Praxis. Band 30, 2006, S. 283–289.
- Wolfgang A. Mommsen: Die Nachlässe in den deutschen Archiven. Boppard: Boldt. Schriften des Bundesarchivs 17/I und 17/I. Teil I, 1971. ISBN 3-7646-1544-3. Teil II, 1983. ISBN 3-7646-1816-7 (Teil II als Volltext in der Google-Buchsuche)
- Regeln zur Erschließung von Nachlässen und Autographen (RNA) / Deutsche Forschungsgemeinschaft, Unterausschuss für Nachlasserschliessung; Deutsches Bibliotheksinstitut. Berlin 1997. ISBN 3-87068-540-9 (2. Fassung 2010 als PDF: 778 kB auf kalliope-verbund.info).
Weblinks
- Kalliope: Nachweisdatenbank für Nachlässe und Autographen in Deutschland
- Zentrale Datenbank Nachlässe (ZDN) des deutschen Bundesarchivs
- Verzeichnis der künstlerischen, wissenschaftlichen und kulturpolitischen Nachlässe in Österreich
- Repertorium der handschriftlichen Nachlässe in den Bibliotheken und Archiven der Schweiz
- Auflistung von Nachlassdatenbanken durch KOOP-LITERA international
Einzelnachweise
- Simon M. Karzel: Vom Nachlasser zum Benutzer: Der Weg des Nachlasses im Archiv unter Beachtung rechtlicher Aspekte am Beispiel des Nachlasses Karl Otto Hondrich. Landesarchiv Nordrhein-Westfalen 9. März 2012, S. 1 (Transferarbeit im Rahmen der Ausbildung für den höheren Archivdienst; PDF: 435 kB, 42 Seiten auf nrw.de).
- Janet Dilger: Bibliothekarische und archivische Nachlasserschließung – Methoden und Findmittel, Potsdam 2009, S. 29.
- Christina Hofmann-Randall: Die Nachlässe in der Universitätsbibliothek Eichstätt. In: Universitätsbibliothek Eichstätt (Hrsg.): Die Nachlässe (= Kataloge der Universitätsbibliothek Eichstätt. Nr. 4). Band 1. Harrassowitz, Wiesbaden 1993, ISBN 3-447-03450-5, S. 2 (Seitenvorschau in der Google-Buchsuche).
- https://d-nb.info/1186104252/34
- Verzeichnis der künstlerischen, wissenschaftlichen und kulturpolitischen Nachlässe in Österreich