Mitternachtskinder
Mitternachtskinder ist der deutsche Titel des 1983 in deutscher Übersetzung erschienenen Romans von Salman Rushdie, der im Original 1981 unter dem Titel Midnight’s Children erschienen ist und der u. a. mit den Booker Prize 1981 und 2008 mit dem Best of Booker ausgezeichnet wurde.[1] Die Übersetzung ins Deutsche besorgte Karin Graf.
2012 wurde das Buch in einer kanadisch-britischen Koproduktion unter demselben Titel von Deepa Mehta verfilmt.
Handlung
Mitternachtskinder beschreibt die Geschichte des Saleem Sinai. Er wird exakt um Mitternacht am 15. August 1947 geboren, zeitgleich mit der Unabhängigkeitserklärung Indiens von Großbritannien. In einer historischen Rede vor der Verfassungsgebenden Versammlung proklamiert Jawarhalal Nehru: "Mit dem Schlag zu Mitternacht, während die Welt schläft, erwacht Indien zum Leben und zur Freiheit"[2]; So ist das Schicksal Saleems mit dem der Nation verwoben.
Im Rückblick beschreibt Saleem als all-wissender Erzähler die Geschichte seiner Vorfahren, die an den historischen Ereignissen auf dem indischen Subkontinents seit Beginn des 20. Jahrhunderts teil haben, wenn auch meist nur als Zuschauer. So wird das Blutbad in Amritsar 1919 beschrieben, die Kolonialzeit unter britischen Herrschaft, und die religiösen Spannungen, die die Teilung des Landes vorzeichnen. Die Handlung folgt dabei zunächst seinen Großeltern aus Kaschmir nach Agra und schließlich seinen Eltern nach Bombay unmittelbar vor der Unabhängigkeitserklärung.
Saleem wächst in einem wohlhabenden Teil Bombays auf und erlebt das erste Jahrzehnt der Unabhängigkeit und den ökonomischen Aufschwung. Im Kindesalter stellt er eine Beziehung seines Lebens mit den historischen Wendepunkten der jungen Nation fest. So entdeckt er eine telepathische Verbindung zu den namensgebenden Mitternachtskindern, die ebenfalls wie er in der ersten Stunde der indischen Unabhängigkeit geboren sind. Als Angehörige der muslimischen Minderheit zieht seine Familie nach Pakistan, als Saleem die Pubertät erreicht. Sie leben zunächst in Rawalpindi und später in Karatschi. Saleems Adoleszenz ist geprägt durch die Militärherrschaft und religiöse Tabus. Als Volljähriger wird er im Zweiten Indisch-Pakistanischen Krieg durch indisches Bombardement traumatisiert und findet sich als Waise schließlich in einem Regiment der pakistanischen Armee wieder. Als Reaktion auf die Abspaltung Bangladeschs in einen eigenständigen Staat ist Saleems Einheit an politischen Vergeltungen und Kriegsverbrechen beteiligt. Nach seiner Rückkehr nach Indien leidet er insbesondere unter dem Regime von Indira Gandhi. Seine Geschichte endet in der Gegenwart, also kurz vor dem Erscheinen des Romans 1981.
Entstehung des Romans
Salman Rushdie schildert in einem Vorwort zur Jubiläumsausgabe im Verlag Random House die Entstehung des Romans.[3] Mit dem Vorschuss seines ersten Romans, Grimus, 700 Britischen Pfund, reiste er so lange wie möglich durch Indien. Dieser monatelange Aufenthalt im Land seiner Jugend führte ihn in unterschiedliche Landesteile und soziale Schichten. Nachdem Indira Gandhi Premierministerin Indiens wurde, drängte sie sich Rushdie zentral für sein nächstes Projekt auf; gleichzeitig hegte er den Plan, über seine eigene Jugend in Bombay zu schreiben. Dies verband er mit einem Charakter aus seinem unveröffentlichten Roman, The Antagonist, Saleem Sinai, der im exakten Moment der indischen Unabhängigkeit geboren wird.
Magischer Realismus
Der Feuilletonist Jochen Hieber sieht in Salman Rushdies Roman eine "originäre" Weiterentwicklung des Magischen Realismus' von Gabriel García Márquez und Günter Grass. Diese "epochenmachende Erzählweise" habe dazu beigetragen, den Roman zum Erscheinungszeitpunkt zu etwas "ungeheuer Neue[m]" zu machen.[4]
Das Indien Saleems ist durchsetzt von Mythen und Mysterien, Magie ist mehr als nur Aberglaube. Die tatsächlichen historischen Ereignisse werden eingebettet in einen Rahmen aus Zauber und ungewöhnlichen Kräften.
„Wahrheit und Wirklichkeit sind nicht unbedingt dasselbe. Wahrheit war für mich seit meiner frühesten Kindheit etwas, was in den Geschichten verborgen war, die Pereira mir erzählte: Mary; meine Ayah. die gleichzeitig mehr und weniger war als eine Mutter; Mary; die alles über uns wußte. Wahrheit war etwas, was direkt hinter dem Horizont verborgen war, auf den in dem Bild an meiner Wand der Finger des Fischers deutete, während der Knabe Raleigh seinen Erzählungen lauschte. Während ich dies nun im Lichtkegel meiner Schwenklampe schreibe, messe ich die Wahrheit an diesen frühen Dingen: Hätte Marie sie so erzählt, frage ich? Hätte der Fischer das gesagt? […] Und nach diesen Maßstäben ist es unanfechtbar wahr, daß meine Mutter an einem Tag im Januar 1947, sechs Monate, bevor ich auftauchte, alles über mich erfuhr, während mein Vater mit einem Dämonenkönig aneinandergeriet.“
Die „Mitternachtskinder“ sind ein Phänomen zwischen Realität und Magie. Saleem findet mit dem Eintritt in die Pubertät heraus, dass alle Kinder, die in der Nacht der indischen Unabhängigkeit geboren worden sind, besondere Kräfte besitzen. Als genau um Mitternacht Geborener hat er die herausragendsten: Er kann die Gedanken anderer lesen und auch vermitteln. So ist es ihm möglich, die über ganz Indien und Pakistan verstreuten Mitternachtskinder mit ihren besonderen Aufgaben aufzuspüren und ihnen – in seinem Kopf, der als Medium fungiert – ein Forum zu bieten.
Doch wie sich herausstellt, sind auch diese besonderen Menschen nicht in der Lage, alte Vorurteile zu überbrücken, wie sie zum Beispiel zwischen Moslems und Hindus herrschen.
Themen
Koppelung Biographie / Geschichte
Das Schicksal der Romanfiguren ist untrennbar mit den historischen Ereignissen gekoppelt. Die Geburtsstunde des Erzählers Saleem Sinai, die Mitternachtsstunde des 15. August 1947, ist gleichzeitig der Gründungszeitpunkt Indiens, dessen Entwicklung das Leben des Erzählers nachvollziehbar macht.
„[…] war mein Geschick unlösbar mit dem meines Landes verkoppelt worden.“
Aber auch andere Ereignisse in der Familie Saleems verweisen auf historische Parallelen. 1918, mit dem Ende des Ersten Weltkriegs, sieht der Großvater zum ersten Mal das Gesicht der Großmutter (vgl. 34), Urgroßvater und Urgroßmutter sterben (35).
Die Mutter verkündigt ihre Schwangerschaft öffentlich, um einen Hindu vor einem Moslempogrom zu retten. „Vom Augenblick meiner Empfängnis an, scheint es, bin ich öffentliches Eigentum gewesen.“ (102) Das Warten auf Saleems Geburt wird zu einem Countdown. Die Zeit vom 4. Juni 1947 bis zur Unabhängigkeit Indiens ist erzählerisch mit dem Warten auf die Mitternachtskinder durch den Preis der Regierung für die erste Geburt gekoppelt. (121 ff., 132) Noch während der Wehen gründet M. A. Jinnah Pakistan. (149)
Die Hausübergabe Methwolds an die Familie stellt die englischen Bedingungen für die Machtübergabe an Indien dar. (128)
Exil
Der Großvater Saalem Sinais hatte in Deutschland Medizin studiert und dort starrköpfig jede Anpassung verweigert. Erst nachdem er in die Heimat zurückgekehrt ist, bekommt er die Wirkung des Exils zu spüren: Seine „weitgereisten Augen“ (11) lassen aus der „Schönheit“ der Heimat „Beschränktheit“ (11) werden. Er fühlt sich abgewiesen in „feindliche Umgebung“ (14). Durch seine Liebeserfahrung mit der deutschen Kommilitonin Ingrid hat sich sein Frauenbild verändert. Er ist mit Ingrids Verachtung für seinen Glauben konfrontiert (12). Er sieht sich selbst und seine Heimat mit dem kolonialen Blick seiner Freunde. Indien – und damit auch er selbst – erscheint seinen Freunden als Erfindung ihrer Vorfahren (Vasco da Gama [12]). So sehr er im Ausland als exotischer Repräsentant der fernen Heimat wahrgenommen wurde, so schwer fällt ihm doch eine wirkliche Rückkehr. Er lebt in einem „Zwischenreich“ (13).
Zeit
Ein Thema des Romans ist die Ungleichzeitigkeit, die mangelnde Objektivität selbst der Zeit:
„‚Es war nur eine Frage der Zeit‘, sagte mein Vater mit allen Zeichen von Freude; doch die Zeit war meiner Erfahrung nach schon immer eine unsichere Sache und nichts, auf was man sich verlassen konnte. Sie konnte sogar geteilt werden: Die Uhren in Pakistan eilten ihren indischen Gegenstücken eine halbe Stunde voraus […] Herr Kemal, der mit der Teilung nichts zu tun haben wollte, sagte gern: ‚Hier liegt der Beweis für die Idiotie ihres Plans. Diese Liga-Leute planen, sich mit ganzen dreißig Minuten zu absentieren! Zeit-ohne-Teilung‘, rief Herr Kemal aus, ‚das ist die Lösung!‘ Und S. P. Butt sagte: ‚Wenn sie die Zeit einfach so verändern können, was ist dann noch wirklich, frage ich Sie? Was ist wahr?‘“
Die Hindus benutzen das gleiche Wort für gestern und morgen, so der Erzähler (142). Er verweist auf die elektrizitätsabhängige Zeitansage und kommt zu dem Schluss:
„Zeit ist meiner Erfahrung nach so veränderlich und unbeständig wie Bombays Stromversorgung.“
Ausgerechnet in einem alten Uhrturm findet Saleem Sinai schließlich seinen Rückzugsort vor der rasenden Zeit, einen Ort, an dem die Zeit stillsteht (198).
Indien / Kolonialismus
Ein zentrales Thema ist der indische Unabhängigkeitskampf. Dargestellt werden etwa der Generalstreik Gandhis 1918 (1942) und das Amritsar-Massaker, aber auch der Zusammenschluss Freier Islam und seine Zerschlagung durch die Dogmatiker (1942). Die Zerrissenheit dokumentiert sich in einer Radikalisierung beider Seiten. Auch die Hindu-Brandanschläge und Erpressungen der Moslems im Jahre 1945 werden erzählt (93 ff.).
„Teilung bringt Zerstörung! Moslems sind die Juden Asiens!“
Das Haus der Familie in Bombay wird zum Gleichnis für die Übergabe Indiens durch England. Die Sinais und ihre Nachbarn (→ die reichen Inder) kaufen von William Methwold, einem Nachfahren des Begründers des englischen Bombay (→ den Engländern) ein Anwesen mit vier Häusern. Nach den Bedingungen des Kaufvertrages müssen die Häuser mitsamt der Einrichtung übernommen werden und der gesamte Hausrat muss von den neuen Eigentümern behalten werden, jedenfalls bis zum Eigentumsübergang. Die neuen Besitzer passen sich an die Umgebung an und übernehmen so, mit wenigen Ausnahmen (Amina), die englische Lebens- und Denkweise bis hin zur Nachahmung der gedehnten Oxforder Sprechweise (127).
„[…] der Wind kommt von Norden, und er riecht nach Tod. Diese Unabhängigkeit ist bloß für die Reichen; die Armen werden dazu gebracht, sich gegenseitig umzubringen, wie Ungeziefer. Im Pandschab, in Bengalen. Aufruhr, Aufruhr, Arme gegen Arme. Es liegt im Wind.“
Indien erscheint als „… ein mythisches Land, ein Land, das es nie geben würde außer durch die Anstrengung eines phänomenalen kollektiven Willens – außer in einem Traum, den zu träumen wir alle einwilligten; es war eine Massenphantasie, an der Bengalen und Pandschabis, Madrasis und Jats in verschiedenem Maße teilhatten und die in regelmäßigen Abständen der Sanktionierung und Erneuerung bedurfte, die nur blutige Rituale bereithalten können. Indien, der neue Mythos – eine Gemeinschaftserfindung, in der alles möglich war, eine Fabel, der nur die beiden anderen mächtigen Phantasien gleichkamen: Geld und Gott.“ (150)
Zufall oder Schicksal?
Das Leben der Romanfiguren steckt voller Absurditäten und Zufälle: Aadam Asiz (Saleems Großvater) deutsche Freunde, die Anarchisten Ilse und Oskar Lubin, kommen auf groteske Art zu Tode. Oskar stolpert über seine Schnürsenkel und wird von einem Stabswagen angefahren. Ilse ertrinkt auf dem See in Kaschmir (vgl. 38). Dagegen rettet dem Großvater ein Niesanfall das Leben, durch den er einer Salve des britischen Militärs entgeht (vgl. 46). Menschliche Versuche, das Schicksal zu wenden, produzieren eher zufällige Folgen oder bleiben wirkungslos. Die Interpretation der historischen und privaten Ereignisse als zielgerichtet erscheint immer ironisch.
„[…] dann sollten wir entweder – optimistisch – aufstehen und jubeln, denn wenn alles vorhergeplant ist, dann haben wir alle einen Sinn, und der Schrecken, uns als Zufallsprodukte ohne warum zu erkennen, bleibt uns erspart; oder wir könnten – pessimistisch -natürlich auf der Stelle aufgeben, da wir die Sinnlosigkeit von Gedanke Entscheidung Handlung einsehen, weil sowieso nichts, was wir denken, von Belang ist; alles wird sein, wie es sein wird. Wo liegt dann der Optimismus? Im Schicksal oder im Chaos? War mein Vater opti- oder pessimistisch, als meine Mutter ihm ihre Neuigkeit mitteilte (nachdem jeder in der Nachbarschaft sie schon gehört hatte) und er antwortete: ‚Ich habe es dir ja gesagt; es war nur eine Frage der Zeit‘? Die Schwangerschaft meiner Mutter, scheint es, war vom Schicksal bestimmt; meine Geburt jedoch verdankte viel dem Zufall.‘“
Saleem Sinai wurde bei der Geburt vertauscht, seine Familiengeschichte ist die einer fremden Familie, so sehr sie ihn auch prägt.
Erzähltechnik
Sprache
Mitternachtskinder ist im Original auf Englisch verfasst. Da Rushdie selbst aber aus Indien stammt, einer muslimischen Familie angehört und versucht, fast ein ganzes Jahrhundert indischer Geschichte, aber auch die indischen Lebensweisen, Mentalitäten und Eigenheiten darzustellen, ist seine Sprache durchwoben mit Worten orientalischer, insbesondere südasiatischer Herkunft. Dies bezieht sich nicht nur auf die Wortwahl, sondern auch auf die Art zu schreiben. Vor dem Hintergrund orientalischer Erzähltraditionen spielt der Protagonist Saleem die Rolle des Erzählers, Zuhörerin ist seine Frau Padma, deren Reaktionen gelegentlich registriert werden. In seiner Sprunghaftigkeit, Vielfalt, Verworrenheit aber auch Leichtigkeit erinnert der Ton an eine mündlich vorgetragene Erzählung.
Gleichzeitig erfordert die Verwinkelung der Sprache, die reiche Verwendung von Motiven, die besondere Situation des Erzählers, an dessen Zuverlässigkeit ständig gezweifelt werden muss, beim Leser ein erhöhtes Maß an Konzentration und Aufmerksamkeit.
Schreiben erscheint als kreativer Geburtsvorgang, der Erzähler ist Schöpfer seiner selbst (vgl. 133).
„[…] der Fötus […] voll ausgeformt […] Was [am Anfang] nicht größer als ein Punkt gewesen war, hatte sich zu einem Komma, einem Wort, einem Satz, einem Absatz, einem Kapitel ausgedehnt; nun entwickelte es sich spurenhaft zu komplexeren Formen, wurde sozusagen ein Buch – vielleicht eine Enzyklopädie –, sogar eine ganze Sprache […].“
„[…] mein Erbe schließt auch die Gabe ein, wenn nötig, neue Eltern für mich zu erfinden. Die Macht, Vätern und Müttern das Leben zu schenken […].“
Metaphorik
Metaphern werden in den Mitternachtskindern schnell zur Realität. So wird die Großmutter von den ungesprochenen Worten während ihres langen Schweigeprotestes aufgebläht (77). Ihre charakterliche Veränderung erzeugt ein hexenähnliches Aussehen (77).
Ein zentrales Bild ist die Picklesproduktion. Leben erscheint als gieriges Essen (10), die Vielfalt der Pickles verbildlicht die Überfülle des Lebens. Die „Doppelbegabung für Kochkunst und Sprachkunst“ (49), das „Werk des Konservierens“ (49) der Speisen und Geschichten durch das Aufschreiben spiegeln einander. Wie beim Kochen kommt es beim Erzählen auf die richtige Würze an.
„Familiengeschichte hat natürlich ihre eigenen rituellen Diätvorschriften. Es wird von einem erwartet, daß man nur die erlaubten Teile, die Halalportionen der Vergangenheit, denen ihre Röte, ihr Blut entzogen ist, herunterschluckt und verdaut. Leider macht das Geschichten weniger saftig, daher bin ich im Begriff, das erste und einzige Mitglied meiner Familie zu werden, das die Gesetze des Halal verhöhnt. Ohne Blut aus dem Körper der Erzählung rinnen zu lassen, komme ich zum unaussprechlichen Teil und dränge vorwärts.“
Ein anderes Bild ist der Zerfall des Erzählers, er bekommt Risse und spiegelt damit die Zerrissenheit des Subkontinents wider.
Farbsymbolik
Indien als Kosmos der Farben und Gerüche prägt auch die Bildlichkeit des Romans. Kashmir, die Heimat des Großvaters ist ein Gebiet jahrhundertealter Völkermischungen. So verweisen seine blauen Augen und sein roter Bart auf Kaschmirs Eroberungsgeschichte, aber auch auf die kolonialen Engländer („Fremdartigkeit der blauen Augen“; 143)
Die weißen Hautflecken der Rani von Cooch Naheen, der Geliebten des Großvaters, dokumentieren ihre vielfältigen kulturellen Interessen: „Meine Haut ist der äußere Ausdruck für den Internationalismus meines Geistes“ (58).
Rot ist der Saft, der in den Spucknapf gespuckt wird, sind Jod und Blut, rot vor Wut.
Dunkle und helle Haut sind in Indien soziale Maßstäbe. Saleems Mutter, die dunkle Mumtaz, zieht sich durch ihre dunkle Hautfarbe den Hass der Mutter zu.
„Wie schrecklich, schwarz zu sein, Vetterchen, jeden Morgen zu erwachen und davon angestarrt zu werden, den Beweis deiner Minderwertigkeit im Spiegel gezeigt zu bekommen. Natürlich wissen sie es, selbst Schwarze wissen, daß Weiß schöner ist […].“
Nur die Götter können diese Kategorisierung umgehen:
„[…] unser Herr Jesus Christus von wunderschöner kristallener blasser himmelblauer Farbe […].“
Die Farbe erinnert gleichzeitig an den mit blauer Haut dargestellten Liebesgott Krischna und vermeidet den Gegensatz zwischen schwarz und weiß. (vgl. 138 f.) „Safrangelb und grün“ (153 ff.) sind die Farben Indiens.
Löcher und Lücken
Saleems Großvater wird als Arzt zu einem reichen, blinden Grundbesitzer gerufen, dessen Tochter er behandeln soll. Allerdings darf der Arzt nur durch ein Loch im Laken den zu behandelnden Körperteil sehen. So entwickelt denn seine zukünftige Frau allerlei Krankheiten, um sich dem Großvater nach und nach zeigen zu können. Sichtbar wird hier das Erzählprinzip: Saleem Sinai präsentiert keine systematische oder chronologische Entwicklung des Geschehens, sondern aneinandergereihte Einzelbilder, wobei das wichtigste oft weggelassen oder erst spät gezeigt wird. Dadurch entsteht Spannung, die Rolle der Vorstellungskraft des Lesers als synthetisierende Kraft wird herausgestellt (vgl. 32).
Obwohl die Großmutter Saleems das Spiel durch ihre eingebildeten und echten Krankheiten selbst steuert, empfindet sie dennoch Scham. So sieht denn der Großvater „wie in der Hinterbacke eine scheue, aber entgegenkommende Schamesröte aufsteigt.“ (33) . Leitmotivisch taucht das Laken immer wieder in der Geschichte auf, bei der Entjungferung der Großmutter (39), beim Gespensterspiel des neunjährigen Erzählers (40).
Auch Aminas stückweise Erarbeitung der Liebe zu Ahmed Sinai folgt der Logik der Lücke.
„[…] sie verfiel dem Bann des Lakens ihrer eigenen Eltern, weil sie beschloß, sich Stück für Stück in ihren Ehemann zu verlieben.“
Nasen
Die übergroße Nase des Großvaters verweist auf den Rüssel des Elefantengotts Ganesha. Sie ist „die Stelle, an der die Außenwelt die Welt in dir trifft“ (21), zugleich das Organ der Erinnerung (23). Sie verbürgt, so hofft der Großvater, die Echtheit der Nachkommen. Aber nicht nur Saleem und der Großvater verfügen über dieses Kennzeichen, auch William Methwold kommt also als Vater in Frage („französische Aristokratie aus Bergerac“) (126).
Im Gegensatz zur Nase ist das Stethoskop Symbol der objektivierten Wahrnehmung (11), es wird als künstliche Nase bezeichnet (26) und verweist auf den Verlust der natürlichen Orientierung.
Die Nase ist aber auch Wahrnehmungsorgan für die vielfältigen, zum Teil drastischen Gerüche und Düfte Indiens. Der beißender Gestank der Furunkel der Urgroßmutter erzeugt Scham (23), der Fährmann Tai hört auf, sich zu waschen (34), um den Großvater zu verjagen, Padma, die Dunggöttin (40) verströmt nicht nur Heiligkeit, das heilige Amritsar riecht 1918 nach Exkrementen (41) beim blutig niedergeschlagenen friedlichen Protest. Der nach Urin stinkende Tadch Mahal (76) desillusioniert romantische Indienvorstellungen. Drastisch auch die „Rotzkaskaden“, die reichlichen Ausscheidungssubstanzen von Baby Saleem (168).
Groteske
Auf der Flucht von seinem brennenden Lagerhaus wird Ahmed Sinai von einer kaum „angeknabberten Parsenhand“ für sein Versagen geohrfeigt, die einem Geier aus dem Schnabel fällt, der aus den Türmen des Schweigens über ihn herfliegt (121). Das Element der Groteske, die bewusste Überzeichnung einiger Ereignisse, stellt die Absurdität vieler Entwicklungen heraus. Der Einzelne wehrt sich mit grotesken Verhaltensweisen und absurden Marotten gegen die Zwänge von Familie und Geschichte.
„Wenn ich ein wenig wunderlich erscheine, denken Sie an die unbändige Fülle meines Erbes […] vielleicht muß man sich, wenn man ein Individuum bleiben will, grotesk darstellen.“
Typisch ist in diesem Zusammenhang auch der Zerfall des Erzählers, er wird „rissig“, trocknet aus, löst sich schließlich sogar langsam auf. Das Erzählen ist sein einziges Gegenmittel, gegen das Vergessen (47), gegen die Zerstörung der Träume, die die Mitternachtskinder verkörpern.
Vorausdeutungen
Zahlreiche Vorausdeutungen irritieren den Leser, stellen eigenartige Verbindungen her, etwa zwischen der blutenden Nase des Großvaters, als er seinen Glauben verliert, und dem Blut auf dem Laken von der Entjungferung seiner Frau. Sie erzeugen Spannung, wecken verfehlte und berechtigte Erwartungen. Sie sind Ausdruck der Überfülle an Leben, Zeichen kommender Geschichten, die herauswollen.
„[…] diese Ereignisse, die ich weiß nicht wie, über meine Lippen gepurzelt sind, durch Eile und Emotion verstümmelt, sollen andere beurteilen.“
Erzählen wird unter Berufung auf Scheherazade zur lebensrettenden Produktion von Sinn, die Ereignisse drängen sich vor, ufern aus, vermischen sich.
Analogien zur Filmtechnik
Bewusst setzt der Roman Darstellungsformen des Films ein, zeigt Nahaufnahmen und Totale, benennt Schnitte (vgl. etwa 42). Die Mischung verschiedener Zeitebenen, Gedankenströme und Handlungsstränge wird explizit gekoppelt an analoge Filmtechniken, obwohl der Roman angesichts seiner Komplexität schwer zu verfilmen sein dürfte. Mit den Vergleichen mit dem Medium Film werden literarische Techniken sichtbar gemacht, etwa die Montagen von realitätsbezogenen Berichten mit den individuellen Schicksalen der Figuren, die Verbindung von historischer Makroebene mit dem Mikrokosmos des Romans.
Diskurs mit dem Leser
Padma, die Geliebte Saleems, verkörpert die Bedürfnisse eines naiven Zuhörers. Sie kann nicht lesen und Saleem muss sich sein Essen durch Vorlesen bei ihr verdienen (40)
„Ich habe für mein Brot gesungen.“
Saleem schlüpft hier in die Rolle Wee Willie Winkies, des Clowns mit dem Akkordeon.
„Wee Willie Winkie ist mein Name, für mein Brot zu singen meine Gabe!“
Der Erzähler sieht sich in der „Tradition des Narren“ (136), der die Leute mit seinen Clownerien und Geschichten unterhält. Das Publikum erweist sich aber als kritisch gegen Experimente, fordert traditionelles Erzählen („in das Universum des Was-geschah-danach zurückscheucht.“ [49]), höheres Tempo (49). Aber der Erzähler weiß sich zu wehren:
„Meine Geschichte hat sie bei der Gurgel gepackt.“
Padma hat „angebissen“ (49), metaphorisch erscheint der Autor als Angler, der den Leser fängt. Fasziniert durch seine Erzählkunst, liebt Padma Saleem, obwohl er „entmannt“ ist (50). Die Fähigkeit zum Schreiben erscheint als phallische Potenz („dein anderer Stift“; 50). Stellvertretend für den Leser wird Padma direkt als Zuhörerin angesprochen (118). Es ist ein ungeduldiges Publikum, das sie repräsentiert. (135)
„Ich wünsche mir zuweilen ein einsichtigeres Publikum; eins, das die Notwendigkeit für Rhythmus, Tempo, die feinsinnige Einführung von Moll-Akkorden verstünde, die später ansteigen, anschwellen, die Melodie an sich reißen werden […].“
Das Schreiben greift ein in die „Realität“ Saleems, Padma verlässt ihn zeitweilig, weil er schreibt, dass sie ihn liebt (163).
Literatur
Ausgaben des Romans
- Salman Rushdie: Midnight’s Children, Jonathan Cape Ltd., London 1981
- Salman Rushdie: Mitternachtskinder, Kindler Verlag, München 1997; Taschenbuchausgabe: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg 2005, ISBN 3-499-23832-2
Weiterführende Lektüre
- Batty, Nancy E.: The Art of Suspense. Rushdie’s 1001 (Mid-)Nights. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 69–81.
- Harrison, James. Salman Rushdie. New York: Macmillan 1992.
- Hirsch, Bernd: Geschichte und Geschichten. Zum Verhältnis von Historizität, Historiographie und Narrativität in den Romanen Salman Rushdies. Winter, Heidelberg 2001, ISBN 3-8253-1248-8 (Zugleich Dissertation an der Universität Heidelberg 1999).
- Juan-Navarro, Santiago: “The Dialogic Imagination of Salman Rushdie and Carlos Fuentes: National Allegories and the Scene of Writing in Midnight's Children and Cristóbal Nonato.” Neohelicon 20.2 (1993): 257-312. (PDF)
- Petersson, Margareta: Unending Metamorphoses. Myth, Satire and Religion in Salman Rushdie’s Novels. Lund: Lund University Press 1996.
- Wilson, Keith: Mitternachtskinder and Reader Responsibility. In: Fletcher, M.D. (ed.) Reading Rushdie. Perspectives on the fiction of Salman Rushdie. Amsterdam, Atlanta: Rodopi 1994. 55–67.
Verfilmungen
Mitternachtskinder von Deepa Mehta
Einzelnachweise
- Rushdie wins Best of Booker prize. In: bbc.co.uk. 10. Juli 2008, abgerufen am 12. Januar 2022 (englisch).
- Jawaharlal Nehru: Speech On the Granting of Indian Independence, August 14, 1947. In: Internet Source Books. Abgerufen am 12. Januar 2022.
- Salman Rushdie: Midnight's Children. With a new introduction by the author. Random House, New York 2006, ISBN 0-8129-7653-3, S. ix-xvi.
- Jochen Hieber: Neuer Roman: Gebt Salman Rushdie den Nobelpreis! In: FAZ.NET. ISSN 0174-4909 (faz.net [abgerufen am 13. Januar 2022]).