Mittelwertsatz der Differentialrechnung
Der Mittelwertsatz (kurz MWS) ist ein zentraler Satz der Differentialrechnung, eines Teilgebiets der Analysis (Mathematik). Veranschaulicht lässt sich der Mittelwertsatz geometrisch so deuten, dass es unter den unten genannten Voraussetzungen zwischen zwei Punkten eines Funktionsgraphen mindestens einen Kurvenpunkt gibt, für den die Tangente parallel zur Sekante durch die beiden gegebenen Punkte ist. Die Sekantensteigung zwischen zwei Punkten wird damit als Tangentensteigung durch die Funktion mindestens einmal angenommen.
Globale Eigenschaften, die mit Hilfe der Sekantensteigung ausgedrückt werden können, sind so mit Hilfe des Mittelwertsatzes auf Eigenschaften der Ableitung zurückführbar. Beispiele hierfür sind die Regel von de L’Hospital oder diverse Sätze zur Kurvendiskussion (wie zum Beispiel der Satz, dass Funktionen mit positiver Ableitung streng monoton wachsen). Die Aussage des Satzes lässt sich sowohl auf den Quotienten zweier Funktionen übertragen als auch auf Funktionen mehrerer Variablen anwenden. Der Mittelwertsatz verallgemeinert den Satz von Rolle.
Der Satz wurde zuerst von Joseph-Louis Lagrange bewiesen (Théorie des fonctions analytiques 1797) und später von Augustin Louis Cauchy (Vorlesungen über Infinitesimalrechnung, Calcul infinitésimal, 1823). Pierre Ossian Bonnet bewies den Mittelwertsatz aus dem Satz von Rolle (dargestellt in den Vorlesungen über Infinitesimalrechnung von Serret, 1868).[1]
Aussage des Mittelwertsatzes
Es sei eine Funktion, die auf dem abgeschlossenen Intervall (mit ) definiert und stetig ist. Außerdem sei die Funktion im offenen Intervall differenzierbar. Unter diesen Voraussetzungen gibt es mindestens ein , so dass
gilt. Geometrisch gedeutet bedeutet dies, dass die Sekantensteigung an mindestens einer Stelle zwischen und als Steigung der Tangente am Funktionsgraph auftritt.
Beweis im eindimensionalen Fall
Es sei eine Hilfsfunktion definiert, mit
ist stetig in und in differenzierbar. Es gilt .
Nach dem Satz von Rolle existiert daher ein mit . Da
folgt die Behauptung.
Beispiel einer Anwendung des Mittelwertsatzes
Als typische Anwendung des Mittelwertsatzes kann gezeigt werden, dass
für alle gilt: Ohne Einschränkung können wir annehmen. Da die Sinusfunktion im Intervall differenzierbar ist, existiert nach dem Mittelwertsatz ein , so dass
gilt. Wegen für alle , erhält man
Allgemein kann so nachgewiesen werden, dass stetig differenzierbare Funktionen lokal Lipschitz-stetig sind.
Erweiterter Mittelwertsatz der Differentialrechnung
Der Mittelwertsatz lässt sich in folgender Weise verallgemeinern:
Es seien und zwei Funktionen, die auf dem abgeschlossenen Intervall (mit ) definiert und stetig und auf dem offenen Intervall differenzierbar sind. Unter diesen Voraussetzungen existiert mindestens ein , so dass
gilt.
Wird zusätzlich auf dem Intervall vorausgesetzt, so ist insbesondere sowie und man kann den erweiterten Mittelwertsatz in der üblichen Bruchform schreiben,
- .
Beweis
Ist , so muss für den verallgemeinerten Mittelwertsatz der Differentialrechnung gezeigt werden, dass für ein Folgendes gilt
- .
Nach dem Satz von Rolle gibt es ein , für das gilt.
Ist , so kann man die Funktion
auf dem Intervall definieren. Da gilt, gibt es nach dem Satz von Rolle ein mit , also
- .
Durch Umstellen dieser Gleichung folgt die Behauptung.
Mittelwertsatz für reellwertige Funktionen mehrerer Variablen
In der mehrdimensionalen Analysis lautet der Mittelwertsatz wie folgt:
Es sei eine Abbildung mit , weiter sei differenzierbar auf einer offenen, konvexen Menge . Außerdem seien mit . Dann existiert mindestens ein mit und und es gilt:
Für entspricht der Satz dem oben erwähnten Mittelwertsatz der eindimensionalen Differentialrechnung. bezeichnet hierbei den Gradienten an der Stelle , der in einem Skalarprodukt auftritt.
Geometrisch gedeutet, tritt die Sekantensteigung zwischen und an mindestens einer Stelle aus als Steigung in Richtung des Vektors auf.
Beweis im mehrdimensionalen Fall
Betrachtet man die Funktion mit
- ,
so ist stetig auf und differenzierbar auf . Somit folgt aus dem Mittelwertsatz der eindimensionalen Analysis, dass ein derart existiert, dass
- .
Aus der Kettenregel folgt nun:
- .
Dies lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
Substituiert man nun durch , so ergibt sich
- ,
womit die Aussage des Satzes bewiesen wäre.
Mittelwertsatz für vektorwertige Funktionen mehrerer Variablen
Eine Ausdehnung des Satzes auf Funktionen ist nur unter veränderten geometrischen Voraussetzungen bzw. Verschärfungen möglich. Insbesondere wird die Menge der in Frage kommenden linearen Abbildungen erheblich über die Ableitungen auf der Strecke hinaus erweitert:
Falls die Ableitungen von auf der gesamten Strecke beschränkt sind (es handelt sich um Jacobimatrizen, also beschränkt bezüglich einer Norm auf , zum Beispiel der Operatornorm), so gibt es eine lineare Abbildung aus der abgeschlossenen konvexen Hülle der Ableitungen auf der Verbindungsstrecke, sodass
gilt.
Der Beweis hierfür erfolgt über den Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung auf die Hilfsfunktionen .[2] Warum die Ableitungen auf der Strecke nicht ausreichen, kann man folgendermaßen verstehen: Auf die einzelnen Komponenten der vektorwertigen Funktion kann einerseits der Mittelwertsatz für reellwertige Funktionen mehrerer Veränderlicher angewandt werden. Andererseits ist keinesfalls gewährleistet, dass die zugehörige Stelle auf , an der die passende Ableitung gefunden wird, für alle Komponentenfunktionen dieselbe ist. Man muss sich daher in einer größeren Menge umschauen, eben der konvexen Hülle der Ableitungen auf der Strecke.
Anschauliche Bedeutung
Beschreibt die Funktion beispielsweise eine Strecke in Abhängigkeit von einer Zeit, dann ist die Ableitung die Geschwindigkeit. Der Mittelwertsatz besagt dann: Auf dem Weg von A nach B muss man mindestens zu einem Zeitpunkt so schnell gewesen sein wie seine Durchschnittsgeschwindigkeit.
Folgerungen aus dem Mittelwertsatz
Aus dem Mittelwertsatz können folgende Resultate der Analysis bewiesen werden:
- Aus dem Mittelwertsatz kann der Schrankensatz bewiesen werden. Dieser besagt, dass bei stetigen Funktionen , die auf mit einer beschränkten Ableitung differenzierbar sind, die Ungleichung für ein gilt. Dabei kann gewählt werden. Mit diesem lässt sich die Lipschitz-Stetigkeit zahlreicher Funktionen beweisen.
- Eine weitere Folgerung ist das Kriterium für Konstanz. Dieses besagt, dass eine Funktion konstant ist, falls ist (Die Ableitung ist konstant Null). Damit können wir den Identitätssatz der Differentialrechnung herleiten. Dieser sagt aus, dass sich zwei Funktionen mit identischer Ableitung lediglich um eine Konstante unterscheiden. Er ist ein wesentlicher Bestandteil des Hauptsatzes der Differential- und Integralrechnung. Eine weitere Konsequenz aus dem Kriterium für Konstanz ist die Charakterisierung der Exponentialfunktion über die Differentialgleichung .
- Ebenso lässt sich mit dem Mittelwertsatz das Monotoniekriterium für differenzierbare Funktionen beweisen. Dieses stellt einen Zusammenhang zwischen dem Monotonieverhalten der Funktion und dem Vorzeichen der Ableitungsfunktion her. Genauer ist genau dann monoton steigend (bzw. fallend), falls (bzw. ) ist. Daraus kann man ein hinreichendes Kriterium für die Existenz eines Extremums einer Funktion in einem Punkt herleiten.
- Aus dem zweiten Mittelwertsatz (besser bekannt als erweiterter Mittelwertsatz) können die Regeln von L’Hospital gefolgert werden. Mit deren Hilfe lassen sich zahlreiche Grenzwerte von Quotienten zweier Funktionen mit Hilfe der Ableitung berechnen.
Die aufgeführten Punkte sind im folgenden Übersichtsdiagramm zusammengefasst:
Siehe auch
Literatur
- Otto Forster: Analysis 1. Differential- und Integralrechnung einer Veränderlichen. 8. Auflage. Vieweg-Verlag, 2006, ISBN 3-528-67224-2
- Otto Forster: Analysis 2. Differentialrechnung im Rn. Gewöhnliche Differentialgleichungen. 7. Auflage. Vieweg-Verlag, 2006, ISBN 3-528-47231-6
- Konrad Königsberger: Analysis 1. Springer, Berlin 2004, ISBN 3-540-41282-4
- Konrad Königsberger: Analysis 2. Springer-Verlag, Berlin/Heidelberg, 2000, ISBN 3-540-43580-8
Einzelnachweise
- Florian Cajori: On Michel Rolle’s book « Méthode pour resoudre les égalitez » and the history of Rolle’s theorem. In: Bibliotheca Mathematica, 1911, S. 310
- mathepedia.de