Merit-Order
Als Merit-Order (englisch für Reihenfolge der Vorteilhaftigkeit) bezeichnet man Einsatzreihenfolgen von Kraftwerken. Diese werden durch die Grenzkosten der Stromerzeugung bestimmt.
Beginnend mit den niedrigsten Grenzkosten werden solange Kraftwerke mit höheren Grenzkosten zugeschaltet, bis die Nachfrage gedeckt ist. An der Strombörse bestimmt das letzte Gebot, das einen Zuschlag erhält, den Strompreis. Der Preis für elektrische Energie wird also durch das jeweils teuerste Kraftwerk bestimmt, das noch benötigt wird, um die Stromnachfrage zu decken. Dieses Kraftwerk wird auch als Grenzkraftwerk – nicht zu verwechseln mit einem im Ländergrenzbereich positionierten Grenzkraftwerk – bezeichnet.
Merit-Order-Effekt
Der Merit-Order-Effekt ist die Verdrängung von Kraftwerken mit hohen Grenzkosten durch Kraftwerke mit geringeren Grenzkosten. Dies wurde insbesondere durch den Ausbau der erneuerbaren Energien sichtbar: bei hohem Ertrag von Wind- und Solarstrom geht die Restlast zurück und das dann aktive Grenzkraftwerk, üblicherweise ein thermisches Kraftwerk, das den Marktpreis bestimmt, hat bei so einem Systemzustand niedrigere variable Kosten.
In Zeiten hoher EEG-Strom-Einspeisung verdrängt der EEG-Strom den Strom aus den teuersten konventionellen Kraftwerken und senkt so über den Merit-Order-Effekt den Börsenpreis.
Die Grafik verdeutlicht die Wirkung des Effekts. Die aggregierte Angebotsfunktion (blau) bildet sich aus den Geboten einzelner Stromanbieter und entspricht im Allgemeinen deren Grenzkosten. Die Nachfrage (Verbraucherlast in grün) wird als unelastisch dargestellt (senkrechte Linie). Nichtdisponible Einspeisungen aus Wind- und Solarenergie mit sehr geringen Grenzkosten decken einen Teil der Verbraucherlast, so dass nur die restliche Leistung, Restlast oder auch residuale Last genannt, von den konventionellen disponiblen Erzeugern getragen werden muss. Die teuersten Kraftwerke kommen dabei nicht mehr zum Zuge und der Strompreis sinkt um Δp am Markt aufgrund des Nachfragerückgangs ΔN im konventionellen Kraftwerkspark.
Auf diese Weise senken erneuerbaren Energien den Strompreis an der Börse, weil teure Spitzenlastkraftwerke immer seltener das preisbestimmende Kraftwerk am Markt sind, sondern eher Kraftwerke mit geringeren Grenzkosten aus dem Grundlast- und Mittellastsegment. Damit reduziert sich der Deckungsbeitrag der günstigen Grundlastkraftwerke wie z. B. Laufwasser-, Atom- und Braunkohlekraftwerke, die nun bei p2 weniger Überschuss erwirtschaften als bei p1. Der Merit-Order-Effekt kann damit den Börsenpreis für Strom zu Lasten der Kraftwerksbetreiber senken.
Eine Nettoentlastung für den Verbraucher kann entstehen, selbst wenn die Vergütung durch das EEG über dem Preisniveau p1 liegt, sofern die durch den Merit-Order-Effekt verursachte Ausgabenreduktion für den konventionellen Strom
insgesamt größer ist als die Mehrausgaben für den Strom aus erneuerbaren Energien
- .
Die Steigung der Merit-Order-Kurve
ist in diesem Fall bei hoher Last recht steil und der Preis für EEG-Strom pEEG liegt nur relativ wenig über dem Börsenpreisniveau p1, wie z. B. an manchen Wintertagen mit mäßigen Winderträgen.
Neben der Strombörse tritt der Merit-Order-Effekt immer dort auf, wo Güter mit identischen Eigenschaften („vertretbare Sache“) gehandelt werden.
Auswirkungen
Insgesamt sind die Strompreise am Spotmarkt nach der Liberalisierung des Strommarktes 1998 bis zum Jahr 2001 von ca. 2 ct/kWh auf über 6 ct/kWh in 2008 gestiegen.[1] Ein Sinken des Baseload-Preises auf jetzt 3 ct/kWh (Stand Herbst 2015) ist durch mehrere Effekte[2] zu erklären. Zum einen nahm der CO2-Zertifikatepreis ab, so dass vor allem Braun- und Steinkohlekraftwerke zu günstigeren variablen Kosten produzieren konnten. Dann hat sich die Nachfrage reduziert, d. h. Spitzenkraftwerke wurden durchgängig weniger häufig als marginales Kraftwerk eingesetzt. Als drittes ist der Merit-Order-Effekt zu nennen, der durch den Zubau vor allem von Solar- und Windenergieanlagen zu Zeiten mit gutem Ertrag an dargebotsabhängigen erneuerbaren Energien die Preise senkt. Viertens sind nach der Hausse in 2008 die Brennstoffpreise (Kohle und Gas) zurückgegangen, unter anderem auch wegen der Ausweitung der Shale-Gas-Förderung in den USA, incl. der dortigen Substitution von Kohle durch Gas, die das Kohleangebot auf dem Weltmarkt erhöht hat.[3]
Die EEG-Umlage liegt 2015 für nicht privilegierte Letztverbraucher bei 6,17 ct/kWh[4]. Im Jahre 2014 war der deutsche Strompreis für Haushaltskunden der zweithöchste Europas und für Industriekunden der vierthöchste.[5]
Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (BMU) stellte in 2007 fest, die Kosteneinsparungen über den Merit-Order-Effekt der erneuerbaren Energien lägen 2006 nach dem EEG-Erfahrungsbericht[6] des Umweltbundesministeriums bei 5,0 Mrd. € und damit über den Mehrkosten von 3,3 Mrd. € gegenüber konventioneller Stromerzeugung. Die Modellrechnung zur Berechnung des Merit-Order-Effekts der EEG-Stromerzeugung für 2006 findet sich in einer Studie[7] des Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI, Karlsruhe). Dabei wurden auf dem Strommarkt unterschieden zwischen
- Marktwert-Effekt
- CO2-Effekt
- Merit-Order-Effekt
„Wenn man den Marktwert der erneuerbaren Energien und das in dieser Studie bestimmte Volumen des Merit-Order-Effektes gemeinsam betrachtet, kommt es zu einer erheblichen Reduktion der durch das Erneuerbaren-Energien-Gesetz verursachten Kosten. Für das Jahr 2006 ist die Summe aus Marktwert und Merit-Order-Effekt sogar höher als die gesamte EEG-Vergütungssumme.“[8]
Eine Studie[9] der Forschungsstelle für Energiewirtschaft weist einen Preissenkungseffekt von 2,4 (€/MWh)/GWREG aus. Mit einer mittleren Einspeisung von 4,6 GW an Windstrom ergibt sich 2008 eine durchschnittliche Senkung des Strompreises um 11,0 €/MWh (1,1 ct/kWh).
Für das Jahr 2010 geht eine Studie der TU Berlin[10] von Einsparungen in der Größenordnung von durchschnittlich 8 €/MWh (0,8 ct/kWh) aus. In der Summe ergäben sich für das Jahr 2010 ein Merit-Order-Effekt von 1,78 Mrd. € (Multiplikation mit dem Day-Ahead Handelsvolumen von 205 TWh). Mittel- bis langfristig könne sich je nach zukünftiger Entwicklung sowohl ein positiver, als auch ein negativer Merit-Order-Effekt einstellen.
Eine Studie des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln aus dem Jahr 2012 geht von zunehmender Senkung des Börsenpreises für Strom durch erneuerbare Energien aus. Die Stromverbraucher würden insgesamt dennoch stärker belastet, da die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien teurer sei als die aus konventionellen Kraftwerken. Zudem würden die Zusatzkosten der Förderung erneuerbaren Energien auf nationaler Ebene auf die Endverbraucher umgelegt, während die Preisentlastung auf Erzeugerebene teilweise auch den angrenzenden Märkten zugute komme.[11]
Nach Berechnungen des Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (FhG-ISI Karlsruhe) aus dem Jahre 2013[12], senkte das Erneuerbare-Energien-Gesetz in 2012 den Baseload-Preis um 8,9 €/MWh (0,89 ct/kWh). Damit haben die erneuerbaren Energien und der weitere Ausbau eine preisdämpfende Wirkung auf die Börsenpreise für Strom. Bezogen auf den gesamten deutschen Stromverbrauch ergibt sich daraus eine entlastende Wirkung von 4,88 Milliarden Euro. Die Studie kommt zu dem Schluss, dass bei stromintensiven Unternehmen mit verringertem EEG-Umlagensatz die Entlastungswirkung durch den Merit-Order-Effekt die Zusatzkosten durch das EEG übersteigt und somit eine Nettoentlastung erreicht wird.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam eine 2016 im Fachjournal Renewable and Sustainable Energy Reviews erschienene Untersuchung, bei der der Ist-Zustand mit einem hypothetischen Szenario ohne erneuerbare Energien verglichen wurde. Demnach stehen der 2013 fälligen EEG-Umlage von 20,4 Mrd. Euro Preissenkungen an der Strombörse in Höhe von 31,6 Mrd. Euro gegenüber, womit Endverbraucher insgesamt ca. 11,2 Mrd. Euro eingespart haben. Allerdings sind die Einsparungen sehr unterschiedlich verteilt: Durch die Ausnahmeregelungen für industrielle Verbraucher, durch die 2013 rund 212 TWh bzw. ein Drittel des Gesamtverbrauches teilweise bis nahezu vollständig von der Zahlung der EEG-Umlage befreit war, kamen diese Kostensenkungen an der Strombörse praktisch ausschließlich energieintensiven Unternehmen zu, während sich für Privathaushalte und Kleinverbraucher kein Unterschied ergab. In den Szenario ohne erneuerbare Energien hätten die Stromkosten für energieintensive Unternehmen 2013 hingegen doppelt so hoch gelegen wie tatsächlich der Fall.[13]
Neben der Preisreduktion durch den Merit-Order-Effekt verteuert sich elektrische Energie durch die EEG-Umlage, aktuell (Stand: 2015) werden ca. 21,8 Milliarden Euro gewälzt.[4] Stromintensive Unternehmen können diese Belastung gemäß der besonderen Ausgleichsregelung reduzieren lassen; sie profitieren somit stärker vom Merit-Order-Effekt als sie zur Finanzierung der erneuerbaren Energien über die reduzierte EEG-Umlage beitragen.[14]
Kritik
In einem Arbeitspapier des Energiewirtschaftlichen Instituts an der Universität zu Köln (EWI)[15] wird kritisiert, dass das Merit-Order-Modell nur zur Berechnung kurzfristiger Effekte geeignet sei, nicht aber zur Berechnung langfristiger Auswirkungen, weil sich durch erneuerbare Energien längerfristig die Zusammensetzung des Angebots an konventionellen Kraftwerken ändere. Außerdem wird bemängelt, dass das Modell davon ausgehe, dass sämtlicher produzierter Strom an einer Börse gehandelt werde, was aber tatsächlich nur für einen kleinen Teil der Fall ist.
Auch die Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE)[9] betont, dass es sich beim Merit-Order-Effekt um kurzfristige Preisveränderungen handele. Bei verstärkter Nutzung der erneuerbaren Energien passe sich der Kraftwerkspark an. Dadurch ergebe sich dann eine neue Merit-Order. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass der Merit-Order-Effekt nicht unmittelbar die Stromgestehungskosten reduziere, da die hohen Investitionskosten für Stromerzeugungsanlagen aus erneuerbaren Energien hierbei unberücksichtigt blieben. Vergleichbar äußerte sich auch die Monopolkommission in ihrem Energiesondergutachten.[16]
Die niedrigeren Börsenpreise bedingen ihrerseits höhere EEG-Differenzkosten. Dadurch ergibt sich eine höhere EEG-Umlage für den Letztverbraucher.[17]
Mittel- bis langfristig ist damit zu rechnen, dass die derzeitige Preisfindung nach Merit-Order ergänzt werden muss. Bei einem Einkommen, welches allein auf der gelieferten Arbeit beruht, fehlt der Anreiz zum Aufbau und Halten von Reservekapazitäten mit geringer Auslastung. Daher wird über die Gestaltung von Kapazitätsmärkten[18] nachgedacht, welche eine leistungsbezogene Vergütung ähnlich dem Regelleistungsmarkt bietet.
Literatur
- Jürgen Neubarth, Oliver Woll, Christoph Weber, Michael Gerecht: Beeinflussung der Spotmarktpreise durch Windstromerzeugung. Energiewirtschaftliche Tagesfragen, Jg. 56 Heft 7, 2006, S. 42–45.
- Sven Bode, Helmuth Groscurth: Zur Wirkung des EEG auf den "Strompreis". (PDF; 196 kB) HWWA Discussion Paper 348: Hamburg, August 2006.
- Serafin von Roon, Malte Huck: Merit Order des Kraftwerkparks. (PDF; 663 kB) Forschungsstelle für Energiewirtschaft e. V.: München, Juni 2010.
- Bundesumweltministerium: Erneuerbare Energien in Zahlen - nationale und internationale Entwicklung. BMU: Berlin, November 2007, S. 27. (PDF-Datei; 6,26 MB)
Quellen
- Vierteljahresdurchschnitt (üblicher Preis gemäß KWKG)
- Weber: Risks and perspectives in European Energy Markets, INREC - International Ruhr Energy Conference, Essen, 2015, S. 10.
- Andreas Mihm: Energiewende – Strom an der Börse billig wie seit Jahren nicht, FAZ.net, 5. Februar 2013
- Informationsplattform der deutschen ÜNB: EEG-Umlage 2015
- eurostat: "Electricity and natural gas price statistics - household (1.1) & industrial (1.2) consumers". (Nicht mehr online verfügbar.) In: Eurostat. 27. Mai 2015, archiviert vom Original am 5. Januar 2015; abgerufen am 15. September 2015. Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Erfahrungsbericht 2007 zum Erneuerbare-Energien-Gesetz. (Memento des Originals vom 24. Januar 2009 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 2,0 MB) auf der Webseite des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit.
- Frank Sensfuß, Mario Ragwitz: Analyse des Preiseffektes der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien auf die Börsenpreise im deutschen Stromhandel., Karlsruhe: Fraunhofer ISI, 2007, 28 Seiten.
- Frank Sensfuß, Mario Ragwitz: Analyse des Preiseffektes der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien auf die Börsenpreise im deutschen Stromhandel., Karlsruhe: Fraunhofer ISI, 2007, S. 16
- Serafin von Roon, Malte Huck: Merit Order des Kraftwerkparks. (PDF; 663 kB) auf der Webseite der Forschungsstelle für Energiewirtschaft. Juni 2010.
- Georg Erdmann: Kosten des Ausbaus der erneuerbaren Energien (PDF; 928 kB), Studie im Auftrag der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft e. V., München, 2011, S. 52.
- Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln: Der Merit-Order-Effekt der erneuerbaren Energien - Analyse der kurzen und langen Frist (PDF; 519 KB)
- Frank Sensfuß: "Analysen zum Merit-Order Effekt erneuerbarer Energien". In: Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung. 13. September 2013, abgerufen am 15. September 2015.
- Dillig et al., The impact of renewables on electricity prices in Germany – An estimation based on historic spot prices in the years 2011–2013. In: Renewable and Sustainable Energy Reviews 57, (2016), 7–15, doi:10.1016/j.rser.2015.12.003.
- Cludius et al., The merit order effect of wind and photovoltaic electricity generation in Germany 2008–2016: Estimation and distributional implications. In: Energy Economics 44, (2014), 302–313, doi:10.1016/j.eneco.2014.04.020.
- Ralf Wissen, Marco Nicolosi: Anmerkungen zur aktuellen Diskussion zum Merit-Order Effekt der erneuerbaren Energien. EWI Working Paper, Nr. 07/3. In: EconStor. Energiewirtschaftliches Institut an der Universität zu Köln, September 2007, abgerufen am 25. Oktober 2021.
- Monopolkommission: Energie 2013: Wettbewerb in Zeiten der Energiewende (PDF; 6,5 MB), September 2013.
- Bernd Wenzel, Joachim Nitsch: Langfristszenarien und Strategien für den Ausbau der Erneuerbaren Energien in Deutschland bei Berücksichtigung der Entwicklung in Europa und global. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 1,2 MB) Juni 2010, S. 22. (Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit)
- Oliver Kopp: Kapazitätsmärkte: Stromhandel im neuen Design (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. (PDF; 444 kB), Impulsvortrag bei dem Fachgespräch "Neue Energien, neuer Markt" Bündnis 90/Die Grünen, Berlin, 27. Oktober 2010.