Malina (Roman)
Malina ist ein 1971 veröffentlichter Roman der österreichischen Schriftstellerin Ingeborg Bachmann.
Inhalt
Im Zentrum des Romans steht die (namenlose) Ich-Erzählerin, welche ihre existentielle Situation als Frau und Schriftstellerin bis in die Extremzonen erforscht, und zwar sowohl durch persönliche Reflexion als auch in Dialogform. Sie ist eine Intellektuelle und wohnt in der Ungargasse in Wien; Zeitpunkt der Erzählung ist die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die Struktur des Romans ist dreigliedrig:
Im ersten Kapitel „Glücklich mit Ivan“ erzählt sie von ihrer Beziehung zu Ivan, einem ebenfalls in der Ungargasse wohnhaften gebürtigen Ungarn, der in der Finanzbranche tätig ist. In seiner Nähe will sich die Erzählerin glücklich und geborgen fühlen. Ivan erwidert zwar ihre Liebe, hat aber oftmals nur wenig Zeit (Auslandsreisen) und geht nicht allzu sehr auf ihre ausgeprägte Emotionalität und auf die immer häufiger auftretenden psychischen Probleme ein. Wenn Ivan nicht da ist, unterhält sie sich mit ihrem Mitbewohner Malina, einem ordentlichen, stets die Ruhe bewahrenden Militärhistoriker. Wenn die Protagonistin Malina sucht, ist er immer da.
Im zweiten Kapitel „Der dritte Mann“ erfährt man vom Ursprung ihrer Probleme und ihrer übersteigerten Sensibilität; es ist dies der Höhepunkt der Erzählung. In Träumen und tranceartigen Zuständen erinnert sie sich an die Schrecken des Zweiten Weltkrieges, an Gaskammern und Vergewaltigungen. Als personifizierter Schrecken tritt dabei der „Vater“ auf, wobei, wie sie selber erkennt, damit nicht nur ihr leiblicher Vater gemeint ist, der als Lehrer bereits seit 1932 Mitglied der NSDAP und Wehrmachtsoffizier gewesen war, sondern auch die von Männern dominierte Schreckenswelt des Nationalsozialismus an sich. Eine andere mögliche Deutung des Vatermotivs wird von Malina selbst vorgeschlagen; es handele sich hierbei um den inneren Krieg der Ich-Erzählerin.[1]
Im dritten Kapitel „Von letzten Dingen“ versucht sie, im Dialog mit dem immer anständigen, aber wenig nahen Malina ihre Probleme zu überwinden – wobei schnell deutlich wird, dass ein Leben „nach dem Geheimnis“, also nachdem sie den Grund für ihre Verzweiflung im zweiten Kapitel freilegen konnte, eigentlich unmöglich ist; dies wird zum Beispiel durch ihre Reflexionen über das Briefgeheimnis am Anfang des Kapitels angedeutet.[2] So handelt das dritte Kapitel von der unausweichlichen Eskalation ihrer Existenz. Die Ich-Erzählerin sieht ein, dass eine Beziehung mit Ivan nicht möglich ist, ja dass wohl überhaupt keine Beziehung für sie mehr möglich ist. Der Sprache und den Normen einer von Männern dominierten Welt hat sie nichts entgegenzuhalten. „Ich habe in Ivan gelebt und ich sterbe in Malina“, stellt sie ernüchtert fest. Der Tod der Ich-Erzählerin wird durch ihr symbolisches Verschwinden in einer Ritze in der Hauswand angedeutet. „Es war Mord.“ Dieser letzte Satz des Romans betrifft auch den Prozess des Schreibens, das sie – ernüchtert – für einen unzureichenden Ersatz für ihre unerfüllte Liebe und als untauglich zur Heilung der durch die Gesellschaft verursachten Wunden hält (Schreiben als schmerzlichste aller Todesarten).
Interpretation
Bachmann selbst bezeichnete ihren Roman „ausdrücklich [als] eine Autobiographie, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Eine geistige, imaginäre Autobiographie. Diese monologische oder Nachtexistenz hat nichts mit der gewöhnlichen Autobiographie zu tun, mit der ein Lebenslauf und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden.“[3] Ganz ähnlich versteht auch Marcel Reich-Ranicki den Roman; er liest ihn als „poetischen Krankheitsbericht, als das Psychogramm eines schweren Leidens“[4].
Der Roman wurde vielfach als Aufarbeitung der Beziehung Ingeborg Bachmanns mit Max Frisch verstanden und als Antwort auf dessen Roman Mein Name sei Gantenbein gewertet. Er wurde in dieser Hinsicht auch als Schlüsselroman gelesen. Konstanze Fliedl widersprach dieser Lesart in der Hinsicht, dass Bachmann wie Frisch als postmoderne Schriftsteller literarische Identitäten und Lebensgeschichten stets dekonstruiert hätten, dass jedes Ich in ihren Werken stets ein Ergebnis erzählter Geschichten sei.[5]
Rezeption
Ingeborg Bachmann beschwor in einer Albtraum-Sequenz in der Figur des Fremden mit dem schwarzen Mantel Paul Celan herauf. Damit verband sie ihr eigenes Liebesschicksal mit dem jüdischen Schicksal Celans.[6] In dem Band Herzzeit, der die Briefe beider zwischen 1948 und 1967 enthält, enthüllte sie endgültig „die vielfältigen Spuren, die diese Liebe im Werk beider Dichter hinterlassen hat“.[7] Der ebenso mit ihr in einer frühen Lebensphase verbundene Komponist Hans Werner Henze rühmte in einem Telegramm an sie Malina als „DIE ELFTE (Sinfonie) VON MAHLER“.[8]
Der Roman wurde 1991 von Werner Schroeter (Regie) und Elfriede Jelinek (Drehbuch) mit Isabelle Huppert, Mathieu Carrière und Can Togay in den Hauptrollen unter dem Titel Malina verfilmt.
2019 erschien bei New Directions eine von Philip Boehm übersetzte englische Ausgabe mit einer Einleitung von Rachel Kushner.
Ausgabe
- Ingeborg Bachmann: Malina. Roman. (= Bibliothek Suhrkamp. Band 534). Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1971, ISBN 3-518-01534-6.
Sonstiges
Das Typoskript von Malina, das Bachmann an den Suhrkamp Verlag schickte, ist im Literaturmuseum der Moderne in Marbach in der Dauerausstellung zu sehen.
Literatur
- Ellen Summerfield: Ingeborg Bachmann, Die Auflösung der Figuren in ihrem Roman »Malina«. (= Studien zur Germanistik, Anglistik und Komaparatistik; Band 40). Bouvier, Bonn 1976, ISBN 3-416-01206-2.
- Annette Klaubert: Symbolische Strukturen bei Ingeborg Bachmann, Malina im Kontext der Kurzgeschichten. Lang, Bern / Frankfurt am Main / New York, NY 1983, ISBN 3-261-03265-0.
- Monika Albrecht: Ingeborg Bachmann als Kritikerin Max Frischs in ihrem Todesarten-Projekt. In: Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.): Ingeborg Bachmann. 5. Auflage. Neufassung. edition text + kritik, München 1995, S. 136–153, ISBN 3-88377-505-3.
- Sabine Grimkowski: Das zerstörte Ich, Erzählstruktur und Identität in Ingeborg Bachmanns ,,Der Fall Franza" und ,,Malina". (= Reihe Literaturwissenschaft. Band 76). Königshausen & Neumann, Würzburg 1992, ISBN 3-88479-657-7.
- Bärbel Lücke: Ingeborg Bachmann, Malina. Interpretation. Oldenbourg, München 1993, ISBN 3-486-88659-2.
- Gudrun Kohn-Waechter: Das Verschwinden in der Wand, Destruktive Moderne im Widerspruch eines weiblichen Ich in Ingeborg Bachmanns ,,Malina". (= Ergebnisse der Frauenforschung. Band 28). J.B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung und Ernst Poeschel Verlag, Stuttgart 1992.
- Andrea Stoll (Hrsg.): Ingeborg Bachmanns "Malina". Suhrkamp, Frankfurt am Main 1992, ISBN 3-518-38615-8 (grundlegend, mit Quellen, umfangreicher Bibliografie, Forschungsperspektiven sowie den Rezensionen von Karl Krolow, Joachim Kaiser, Gabriele Wohmann, Helmut Heißenbüttel, Hans Mayer, Dieter Lattmann, Rudolf Hartung, Hilde Spiel)
- Dirk Göttsche, Hubert Ohl: Ingeborg Bachmann, Neue Beiträge zu ihrem Werk: internationales Symposion Münster 1991. Königshausen & Neumann, Würzburg 1993, ISBN 3-8847-9518-X.
- Heidi Borau: "Malina", Eine Provokation? (= Reihe Literaturwissenschaft. Band 109). Königshausen & Neumann, Würzburg 1994, ISBN 3-88479-791-3.
- Sigrid Weigel: Malina. In: M. Mayer (Hrsg.): Interpretationen. Werke von Ingeborg Bachmann. Reclam, Stuttgart 2002, ISBN 3-15-017517-8.
- Monika Albrecht (Hrsg.): Malina. (= Suhrkamp-BasisBibliothek 56). Suhrkamp, Frankfurt am Main 2004, ISBN 3-518-18856-9.
- Christine Lubkoll: Fragmente einer Sprache der Liebe. Sprachutopie und Diskurskritik in Ingeborg Bachmanns Roman "Malina". Universitätsreden (Emmy-Noether-Vorlesung). Erlangen 2007, ISBN 3-518-38086-9.
- Jean Firges: Ingeborg Bachmann, „Malina“. Die Zerstörung des weiblichen Ich. Sonnenberg, Annweiler 2008, ISBN 978-3-933264-53-4. (Rezension bei literaturkritik.de)
Weblinks
- Rezension von Gabriele Wohmann: Nachtwald voller Fragen. In: Der Spiegel, 14/1971.
- Eintrag im "Lexikon Traumkultur".
Einzelnachweise
- Ingeborg Bachmann: Malina. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 193, 247.
- Ingeborg Bachmann: Malina. Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1980, S. 249ff.
- Ria Endres: Erklär mir, Liebe. Ekstasen der Unmöglichkeit - Zur Dichtung Ingeborg Bachmanns. In: Die Zeit. 2. Oktober 1981.
- Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben., dtv Stuttgart 2009, S. 416.
- Konstanze Fliedl: Deutung und Diskretion. Zum Problem des Biographismus im Fall Bachmann – Frisch. In: Revista de Filología Alemana. Vol. 10 (2002), S. 55–70.
- Zur Affäre Bachmanns mit Celan: Helmut Böttiger: Die Liebe, zwangsjackenschön. In: Die Zeit. o. D.
- Peter Hamm: Wer bin ich für Dich? In: Die Zeit. 24. August 2008.
- Peter Hamm: »Meine liebe arme kleine Allergrößte« Dokument einer merkwürdigen Liebe: Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Werner Henze. In: Die Zeit. 24. August 2008.