Irrungen, Wirrungen
Irrungen, Wirrungen ist ein Roman[1] von Theodor Fontane, der zunächst im Jahr 1887 in der Vossischen Zeitung und anschließend 1888 in Buchform erschien. Er behandelt die nicht standesgemäße Liebe zwischen dem Baron und Offizier Botho von Rienäcker und der kleinbürgerlichen Schneidermamsell Magdalene (Lene). Beide können und wollen ihre Standesgrenzen nicht überwinden und heiraten schließlich einen anderen Partner, mit dem sie ein mäßig glückliches Leben bestreiten, denn: „Die Sitte gilt und muß gelten, aber daß sie’s muß, ist mitunter hart.“[2]
Handlung
Die Geschichte spielt im Berlin der 1870er Jahre. Die hübsche und pflichtbewusste Lene wohnt als Waisenkind bei ihrer alten Pflegemutter Nimptsch in einem kleinen Häuschen auf dem Gelände einer Gärtnerei in der Nähe des Zoologischen Gartens. Bei einer Bootspartie lernt sie den gesellschaftlich gewandten und unterhaltsamen Baron Botho von Rienäcker kennen. Im Laufe des Sommers kommen sich die beiden näher. Im Gegensatz zu Botho, der von einer heimlichen Mésalliance mit dem natürlichen und heiteren Mädchen träumt, ist Lene realistisch genug, ihrer Liebe auf die Dauer keine Zukunft zu geben. Nach mehreren gemeinsamen Treffen wird der Baron eines Tages brieflich zu einer Unterredung mit seinem Onkel Kurt Anton von Osten bestellt. Dieser erinnert ihn daran, dass Botho seiner reichen Cousine Käthe von Sellenthin so gut wie versprochen sei.
Eine Landpartie zu Hankels Ablage scheint zum Höhepunkt in Lenes und Bothos Beziehung zu werden. Als sich jedoch Bothos drei Freunde Balafré, Serge und Pitt mit ihren Mätressen „Königin“ Isabeau, Fräulein Margot und Fräulein Johanna zu ihnen gesellen, bemerkt das Paar, dass es ihm aufgrund des vorhandenen Standesunterschieds in der Öffentlichkeit unmöglich ist, weiterhin einen natürlichen Umgang miteinander zu pflegen.
Als Botho bald darauf einen Brief seiner Mutter erhält, in dem sie die prekäre Finanzlage der Familie bemängelt und Abhilfe durch Bothos Heirat mit seiner reichen Cousine Käthe empfiehlt, resigniert Botho und trennt sich von Lene. Er muss erkennen, „dass das Herkommen unser Tun bestimmt. Wer ihm gehorcht, kann zugrunde gehn, aber er geht besser zugrunde als der, der ihm widerspricht.“ Lene, die diese Entwicklung von Anfang an kommen sah, hat Verständnis für Bothos Entschluss, entsagt ihm und ergibt sich ihrem Schicksal. Botho heiratet die lebenslustige, recht oberflächliche Käthe und führt seitdem eine zwar wenig leidenschaftliche, doch erträgliche konventionelle Ehe. Als Lene ihren ehemaligen Geliebten und dessen Frau später zufällig einmal auf der Straße begegnet – er sieht sie nicht, beschließt sie, in ein anderes Stadtviertel umzuziehen.
In ihrer neuen Umgebung lernt Lene den schon etwas in die Jahre gekommenen Fabrikmeister Gideon Franke kennen. Als dieser ihr einen Heiratsantrag macht, fühlt Lene sich verpflichtet, ihm von ihrem Vorleben zu erzählen. Gideon, ein Laienprediger, der schon einen Amerika-Aufenthalt hinter sich hat, ist geneigt, über diese Vorgeschichte hinwegzusehen, sucht aber dennoch Botho in dessen Wohnung auf, um sich von der Beziehung zu Lene erzählen zu lassen. So erfährt der Baron erneut von Lene und auch davon, dass die von ihm verehrte alte Nimptsch inzwischen gestorben ist. Von alten Erinnerungen aufgewühlt, verbrennt er Lenes Briefe und die Blumen, die Lene auf seinen Wunsch hin mit einem ihrer Haare zusammengebunden hatte. Doch kann dieser symbolische Akt seine Sehnsucht nach seiner ehemaligen Geliebten nicht auslöschen. Anlässlich der Hochzeitsanzeige von Lene und Gideon Franke in der Zeitung gesteht sich Botho am Schluss des Romans ein: „Gideon ist besser als Botho.“
Das Motiv der standesübergreifenden Liebe
Das Motiv der Standesschranken überwindenden Liebe war 1888 in der Literatur nicht neu. Schon im 18. Jahrhundert sah man einen Zusammenhang zwischen der Freiheit des Individuums und der freien Partnerwahl. Die gesellschaftliche Realität jedoch blieb davon noch weitgehend unberührt – so wie auch Botho und Lene, ganz ohne großes Aufbegehren, in ihre jeweils zugehörige Schicht zurückkehren. Am Ende des Romans haben beide einen allgemein akzeptierten Partner. Käthe sorgt für die finanzielle Absicherung und macht sich ansonsten keine großen Gedanken. Als sie die verbrannten Briefe von Lene im Kamin findet, geht sie recht oberflächlich darüber hinweg.
Auch Gideon sichert seine Partnerin finanziell ab. Im Gegensatz zu Käthe weiß er über Lenes frühere Liebschaft genauer Bescheid, entschließt sich aber bewusst, ihr diese zu verzeihen. Allerdings wird die Eheschließung zwischen Lene und Gideon Franke schon vor der Kirche von Passantinnen negativ kommentiert – sie betonen, dass ein Ehemann, der doppelt so alt sei wie seine junge Frau, ohnehin keine großen Ansprüche erheben könne – und ein mögliches Scheitern der Ehe angedeutet: Franke könne Lene, wenn es wieder munkele, mit seinen Vatermördern töten. Da Lene bei der Hochzeit außerdem keinen Hochzeitskranz trägt, das Zeichen für die Jungfräulichkeit der Braut also fehlt, führt das ebenfalls zu irritierten und spöttischen Kommentaren der Zuschauer.
Rezeption des Romans
Der Roman erschien im Jahre 1887 zunächst in der Vossischen Zeitung und stieß bei den Lesern fast durchgängig auf Kritik, ja heftige Ablehnung. Selbst einer der Mitinhaber der Vossischen Zeitung äußerte der Schriftleitung gegenüber: „Wird denn die gräßliche Hurengeschichte nicht bald aufhören?“
Heute ist nur noch schwer zu verstehen, dass das Liebesverhältnis zwischen Lene und Botho als zu freizügig angesehen wurde. Auf Ablehnung stieß nicht nur, dass der Roman eine Beziehung zeigt, die keine Standesschranken respektiert. Als problematisch empfunden wurde vor allem, dass Fontane die Frau aus niederem Stand nicht nur als gleichwertig, sondern in mancher Hinsicht sogar als moralisch überlegen darstellt.
Die Wahl der Namen in Irrungen, Wirrungen
Zweimal wird im Roman selbst auf die Namen der Personen eingegangen: Frau Dörr meint, ein Christenmensch könne doch eigentlich gar nicht Botho heißen, und Botho selbst kommentiert Lenes Eheschließung gegenüber seiner jungen Frau mit dem vieldeutigen Satz: Gideon ist besser als Botho.
Dies bezieht sich im Kontext des Romans allerdings eher auf die Namensträger als auf die Namen selbst, denn während Botho der Gebieter bedeutet, lässt sich Gideon mit Hacker, Zerstörer übersetzen – beides keine ausschließlich positiven Assoziationen. In Kombination mit den Nachnamen der Figuren ergeben sich jedoch weitere Zusammenhänge.
Botho, dessen klägliche Vermögenslage immer wieder betont wird, gebietet über fast nichts. Tatsächlich bestehen die Ländereien der Familie Rienäcker nicht mehr aus Äckern, sondern aus sumpfigen Ranunkelwiesen und einem romantischen, aber nutzlosen Maränensee. Er hat außerdem dieselben Initialen wie Rexin (B. v. R.), dem er ebenfalls von der Liebe zu einer Bürgerlichen abrät.
Gideon, der wie sein biblischer Namensvetter gegen Ungläubige ins Feld zieht, trägt den Nachnamen Franke – der Freie. Tatsächlich erhebt er sich über gesellschaftliche Konventionen und besitzt die Freiheit, Lene trotz ihres nicht mehr makellosen Rufes zu ehelichen.
Lenes Vorname Magdalene wird dem Leser erst in der zweiten Hälfte des Romans deutlich. Man kann hier an die Assoziationen denken, die die katholische Kirche zeitweise mit Maria Magdalena verband, aber auch daran, dass diese Frau eine der wenigen weiblichen biblischen Gestalten ist, die nicht nur über ihren Mann oder ihren Vater definiert werden, sondern eine gewisse Selbstständigkeit besitzen. In der ersten Hälfte des Romans allerdings lässt Lene auch an den Namen Helena denken, die an Helena von Troja erinnert, die schönste Frau im alten Griechenland. Auch Lene Nimptsch hat sich von Jugend auf daran gewöhnt, für sich selbst zu entscheiden und einzustehen. Ihr von der Adoptivmutter übernommener Nachname Nimptsch spielt an auf Nikolaus Franz Niembsch, Edler von Strehlenau, einen österreichischen Dichter des Biedermeier, der unter dem Künstlernamen Nikolaus Lenau bekannt wurde.
Käthe, eigentlich also Katharina, ist durch ihren Namen, im Gegensatz zu Lene, als „rein“ gekennzeichnet (der Name Katharina wird nach einer gängigen, aber irrigen Volksetymologie oft als „die Reine“ gedeutet). Obwohl im Klub besprochen wird, dass ihr schon mit vierzehn Jahren in der Berliner Pension der Hof gemacht wurde, hat sie offenbar kein nennenswertes Vorleben hinter sich, sondern ihr Lebenslauf entspricht den Normen und Standeskonventionen.
Immer wieder – auch in anderen Romanen Fontanes – haben Namen Signalwirkung: Sie lassen den Leser Zusammenhänge assoziieren, ohne dass der Erzähler diese direkt ansprechen muss, und aktivieren so die Phantasie des Lesers. Die Hauptgestalten in der Welt der Bürgerlichen sind gekennzeichnet durch bodenständig klingende Namen wie „(Suselchen) Dörr“ oder „Nimptsch“; Lene Nimptsch bildet schon durch ihren Familiennamen einen Kontrast zu Bothos Ehefrau mit dem vergleichsweise kapriziös klingenden „Sellenthin“. Auch die handelnden Personen selbst benutzen Namen bewusst zur Kennzeichnung: Botho und seine Kameraden geben sich ausländische „Necknamen“, und die Freunde haben ihre „Damen“ nach Frauengestalten aus Schillers „Jungfrau von Orleans“ benannt. Lene – wie wohl auch kaum eine der sogenannten „Damen“ – kennt aufgrund ihres einfachen Bildungsniveaus die Herkunft der Namen nicht, merkt also auch nicht, wie Botho sie herabsetzt, indem er ihr den Spitznamen „Mademoiselle Agnès Sorel“ gibt und sie damit der Mätresse Karls VII. gleichstellt.
Bezug zu Zeuthen
Fontane soll die letzten Kapitel von Irrungen, Wirrungen auf dem Holzlagerplatz Hankels Ablage geschrieben haben, der ebenso Schauplatz einiger Szenen des Romans ist. Die Ablage war ein Holzlagerplatz in der damaligen Gemeinde Miersdorf, die später in der Gemeinde Zeuthen aufging. Auf Fontanes Wirken am Ort verweist ein Gedenkstein auf dem Fontaneplatz.
Verfilmungen
Der Roman wurde unter dem Titel Ball im Metropol von Regisseur Frank Wysbar 1937 verfilmt. 1966 verfilmte Rudolf Noelte den Roman als Fernsehfilm unter seinem Originaltitel.[3] Der Deutsche Fernsehfunk produzierte unter der Regie von Robert Trösch 1963 eine Fernsehspielversion mit Jutta Hoffmann und Jürgen Frohriep in den Hauptrollen.
Ausgaben
- Erste Buchausgabe: Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Leipzig: Verlag von F. W. Steffens, o. J. [1888], 284 S., s. Abb. rechts (Digitalisat und Volltext im Deutschen Textarchiv)
- Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Bearbeitet von Karen Bauer. Aufbau, Berlin 1997 (= Große Brandenburger Ausgabe. Das erzählerische Werk. Bd. 10), ISBN 3-351-03122-X.
- Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Mit einem Kommentar von Helmut Nobis. Suhrkamp, Frankfurt am Main 2006, ISBN 3-518-18881-X.
- Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. Roman. Hrsg. von Wolf Dieter Hellberg. Reclam, Stuttgart 2013, ISBN 978-3-15-019038-8.
Sekundärliteratur
- Walther Killy: Abschied vom Jahrhundert. Fontane: ‚Irrungen, Wirrungen‘. In: Walther Killy: Wirklichkeit und Kunstcharakter. Neun Romane des 19. Jahrhunderts. Beck, München 1963, S. 193–211.
- Horst Schmidt-Brümmer: Formen des perspektivischen Erzählens. Fontanes „Irrungen Wirrungen“. Fink, München 1971.
- Konrad, Susanne: Die Unerreichbarkeit von Erfüllung in Theodor Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ und „L‘Adultera“. Peter Lang, Frankfurt am Main 1991.
- Gisa Frey: Der Passionsweg des Botho von Rienäcker. In: Fontane-Blätter. Heft 59 (1995), S. 85–89.
- Martin Lowsky: Theodor Fontane: Irrungen, Wirrungen. C. Bange Verlag, Hollfeld 2011 (= Königs Erläuterungen. Textanalyse und Interpretation. Bd. 330), ISBN 978-3-8044-1928-5.
- Otto Eberhardt: „Finessen“ Fontanes in seinem Roman „Irrungen, Wirrungen“. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 56 (2012), ISBN 978-3-8353-1138-1, S. 172–202.
- Otto Eberhardt: Fontanes „Irrungen, Wirrungen“ als Werk des poetischen Realismus. In: Archiv für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen, 251 (2014), ISSN 0003-8970, S. 283–309.
Hörbücher
- Sabine Falkenberg liest Irrungen, Wirrungen. Ungekürztes Hörbuch mit Gesamttext und Worterklärungen als PDF-Datei. HörGut! Verlag, Hamburg 2007. ISBN 978-3-938230-16-9
- Gert Westphal liest Irrungen, Wirrungen. Vollständige Lesung 5 CDs, ca. 345 Minuten. Genre: Deutschsprachige Weltliteratur. Verlag: Deutsche Grammophon. ISBN 3-8291-1354-4
- Claus Boysen liest Irrungen, Wirrungen. Vollständige Lesung, 352 Minuten. Verlag: Voltmedia, Paderborn (Juli 2006). ISBN 978-3938891117
Weblinks
- Irrungen, Wirrungen bei Zeno.org.
- Irrungen, Wirrungen im Projekt Gutenberg-DE
- Figurenlexikon zu Irrungen, Wirrungen von Anke-Marie Lohmeier im Portal Literaturlexikon online.
- Inhaltsangaben zu allen Kapiteln aus Irrungen, Wirrungen
Quellen
- Die Erstveröffentlichung in der Vossischen Zeitung bezeichnet den Roman im Untertitel als Berliner Alltagsgeschichte.
- So Fontane am 16. Juli 1887 an Friedrich Stephany, den Chefredakteur der Vossischen
- Irrungen, Wirrungen bei krimiserien.heimat.eu, abgerufen am 25. März 2017