Intimitätskoordinator
Ein Intimitätskoordinator (weiblich: Intimitätskoordinatorin) oder Intimitätscoach (englisch intimacy coach, intimacy coordinator, intimacy director[Anm. 1]; als Oberbegriff intimacy professionals) berät und betreut im Theater oder Film- beziehungsweise Fernsehproduktion Schauspieler und das Team, insbesondere die Regie, bei der Umsetzung intimer und Sexszenen mit dem Ziel, dass ein respektvoller und sicherer Umgang zwischen den Beteiligten herrscht und keine sexuelle Belästigung geschieht.
Die Tätigkeit ist vergleichbar mit der eines Stuntkoordinatoren, da eine Choreografie und ein konsensbasierter Rahmen entwickelt werden, vom Intimitätskoordinator bei intimen Szenen und vom Stuntkoordinator bei Actionsequenzen, die beide jeweils physische Berührungen zwischen den Schauspielern erfordern.[1]
Entstehung und Etablierung
Für viele Intimitätskoordinatoren entstand die Idee und der Bedarf ihrer Tätigkeiten daraus, dass für physische Szenen und Gewaltdarstellungen Choreografien und Stuntkoordinatoren erforderlich sind, während Regisseure für intime Szenen vorsehen, dass die Schauspieler improvisieren, was zu Grenzüberschreitungen führen kann.[2]
Tänzerin und Bewegungscoach Ita O’Brien stellte 2014 Untersuchungen dazu an, wie ihre Schauspieler sich am Set sicher fühlen könnten, und präsentierte die Ergebnisse in einem Video mit dem Titel „Does My Sex Offend You?“. Sie erstellte Richtlinien, die sie seit April 2015 an Schauspielschulen unterrichtete, und gründete Intimacy on Set.[3][4]
2016 gründeten die Schauspielerinnen und Kampfchoreografinnen Alicia Rhodis und Siobhan Richardson mit Tonia Sina, die 2004 in ihrer Abschlussthesis „Intimate Encounters; Staging Intimacy and Sensuality“ den Begriff Intimacy Directors erfunden hatte, Intimacy Directors International (IDI). Ihnen schloss sich bald darauf Claire Warden an. Ziel der Organisation war, Vorgehensweisen und Abläufe zu standardisieren, mit denen Missbrauch an Filmsets verhindert werden soll, wozu sie mit der Screen Actors Guild zusammenarbeiteten. Aufgrund der Wahl von Donald Trump zum Präsidenten der Vereinigten Staaten 2016, der Entdeckung des Weinstein-Skandals im Oktober 2017 und des Aufkommens der MeToo-Bewegung stieg das Bewusstsein und Interesse von Filmemachern, Fachkräfte für intime Szenen zu engagieren.[2] Die britische Abteilung der IDI wurde aus der 2016 von Lizzy Talbot, Claire Warden und Yarit Dor gegründeten Theatre Intimacy entwickelt und 2020 in Intimacy for Stage and Screen umbenannt.[5]
Schauspielerin Emily Meade, die in der Serie The Deuce von David Simon und George P. Pelecanos für HBO spielte, fragte im Winter 2017 bei diesen nach einem professionellen Beistand für die Sexszenen an, worauf diese über die IDI Rhodis für die Dreharbeiten der zweiten Staffel im Frühling 2018 engagierten. Nachdem Simon in einem Interview geäußert hatte, dass er nie wieder ohne einen Intimitätskoordinator arbeiten wolle, kündigte HBO im Oktober 2018 an, für alle Filme und Serien, die intime Szenen beinhalten, einen Intimitätskoordinator einzustellen.[6]
2018 stellte Netflix das erste Mal mit O’Brien für Sex Education einen Intimitätskoordinator ein.[7]
Die amerikanische Gewerkschaft für Filmschaffende SAG-AFTRA schuf im Januar 2020 Richtlinien für die Arbeit mit Intimitätskoordinatoren, die mit Repräsentanten von IDI und der von Amanda Blumenthal gegründeten Intimacy Professionals Association entwickelt wurden,[8] sowie im April 2021 ein Akkreditierungsprogramm und ein Register für akkreditierte Intimitätskoordinatoren.[9]
Bei der Verleihung der British Academy Television Awards 2021 dankte Michaela Coel, die Auszeichnungen für I May Destroy You gewann, der Intimitätskoordinatorin Ita O’Brien und sagte: „Sie sorgen für physische, emotionale und professionelle Grenzen, damit wir Werke über Ausbeutung, mangelnden Respekt und Machtmissbrauch schaffen können, ohne in dem Prozess ausgebeutet oder missbraucht zu werden.“ Ihre Anleitungen seien essenziell für die Serie gewesen und jede Produktionsfirma solle am Set auf diese Unterstützung zurückgreifen.[10]
Time’s Up UK forderte im Juni 2021, dass der Einsatz von Intimitätskoordinatoren bei Dreharbeiten in Großbritannien verpflichtend werden solle.[11] Im Oktober 2021 erklärte die britische Rundfunkanstalt BBC für alle ihre Fernsehsendungen Intimitätskoordinatoren für verpflichtend.[12]
Die erste zertifizierte Intimitätskoordinatorin in Indien wurde die Regieassistentin Aastha Khanna, die während des ersten Covid-19-Lockdowns ein Training unter Amanda Blumenthal absolvierte.[13] Sie gründete The Intimacy Collective, um weitere Menschen in ihrem Land zu trainieren und zu zertifizieren. Sie arbeitete unter anderem an dem Film Gehraiyaan in einem Team unter der Leitung von Dar Gai.[14] Der Film erhielt lobende Aufmerksamkeit dafür, dass Gai auch auf dem Filmposter als Intimacy Director aufgelistet wurde.[15]
Prinzipien und Funktionen
Amanda Blumenthal der Intimacy Professionals Association bezeichnet den Beruf als „teils Vermittler, teils Berater, teils Choreograf“.[16]
Die Intimacy Directors International stellte als Prinzipien für sichere Intimität die sogenannten fünf Cs auf:
- Context: Zwischen den Entwicklern der Szene sowie den Schauspielern werden das Verständnis und der Kontext der Szene abgeklärt, damit Intimität immer der Geschichte dient.
- Communication: Zwischen allen Beteiligten soll eine fortlaufende Kommunikation und die Möglichkeit zur Diskussion, auch um Unbehagen und Überschreitungen zu melden, bestehen.
- Consent: Für alle Beteiligten werden individuelle Grenzen bestimmt sowie festgelegt, welchen Handlungen und Berührungen sie für eine Szene zustimmen.
- Choreography: Basierend auf dem vereinbarten Konsent wird eine sichere Choreographie erstellt und im Dreh umgesetzt, von der nicht ohne Absprache abgewichen werden darf. An einem Schauspieler soll nicht spontan eine unvorbereitete Handlung oder Berührung ausgeführt werden, der die Person nicht zugestimmt hat.
- Closure: Nach Durchführung der Szene soll mit einem abschließenden Moment wie etwa einem kleinen Ritual das Ende der Intimität markiert und eine Grenze zwischen dem Persönlichen und Professionellen gezogen werden.[17]
Ita O’Brien betont, der Schlüssel sei Konsent, also dass die Schauspieler den Handlungen zustimmen, und es Strategien gibt, bei Handlungen einzugreifen, denen sie nicht zugestimmt haben und bei denen sie sich unwohl fühlen. Sexszenen sollten auf dieselbe Weise behandelt werden wie Kampfszenen: In beiden Fällen werden physische Handlungen abgesprochen und choreografriert, um die Sicherheit der Handelnden zu gewähren.[18]
Da in der Filmindustrie keine einheitliche Definitionen existieren, was alles als Nacktheit, Intimität und Sex gilt, liegt es an dem Intimitätskoordinator, solche Begriffe am Set klar zu definieren und zu benennen, als auch für die Beschreibung intimer Szenen und Handlungen neutrale, nicht geschlechtsbezogene oder sexuell konnotierte Formulierungen durchzusetzen.[19] In der Präproduktion identifiziert ein Intimitätskoordinator anhand des Drehbuchs die intimen Szenen und bespricht zunächst mit dem Autor, was mit Formulierungen gemeint ist, und mit dem Regisseur, wie er sich die Szene vorstellt, was schließlich den Schauspielern vermittelt wird.[20] O’Brien berichtet auch, dass sie manchmal zunächst in einem Workshop mit Besetzung und Crew ihre Richtlinien durchgeht. Mit den Schauspielern wird vor dem Drehtag die Szene und mögliche Bedenken diskutiert. Nach jeder Szene und auch einige Tage später gibt es mit denselben Personen Rücksprache, ob sie mit dem Ergebnis zufrieden sind und sich sicher und wohl fühlten. Während des Drehs geht es darum, sich bei Nacktszenen um die Schauspieler zu kümmern und dafür zu sorgen, dass die Produktionsumstände für diese angenehm und sicher sind, etwa mit der Bereitstellung von Bedeckung, Schutzkissen und Getränken.[3] Der Intimitätskoordinator führt den Überblick über die von den Schauspielern festgelegten Grenzen und akzeptierten Handlungen, um darauf zu achten, dass diese eingehalten werden, und bei Übertritten einschreiten zu können.[16][2] Der Intimitätskoordinator arbeitet mit verschiedenen Bereichen der Produktion und Ausstattung zusammen, um die Wünsche und Grenzen der Schauspieler zu gewährleisten, beispielsweise mit dem Kamera- und Beleuchtungsteam, um abzuklären, in welchen Blickwinkeln und mit welchen nackten Körperstellen ein Schauspieler gezeigt wird, oder mit dem Make-up- und Bekleidungsteam; spielt in einer entsprechenden auch Gewalt eine Rolle, wird eine Vermittlung zu dem Stunt Coordinator hergestellt.[19]
Bekannte Personen (Auswahl an Produktionen)
Vereinigte Staaten
- Alicia Rodis: The Deuce (ab Staffel 2 2018–2019), I Know This Much Is True (2020), Mare of Easttown (2021)
- Amanda Blumenthal: Euphoria (2019), Carnival Row (ab Staffel 2 2019), The Affair (ab Staffel 5 2019), The L Word: Generation Q (2019–2020)
- Tonia Sina: Theaterproduktionen
Vereinigtes Königreich:
- Ita O’Brien: Philip K. Dick’s Electric Dreams (2017–2018), Watchmen (2019), Sex Education (2019–2020), Pennyworth (2019–2020), Gentleman Jack (2019–2021), Gangs of London (2020), I May Destroy You (2020), Roadkill (2020), It’s a Sin (2021), Sie weiß von Dir (2021), Master of None (Staffel 3 2021)
- Lizzy Talbot: Bridgerton (2020), The Nevers (2021)
- Yarit Dor: Domina (2021), The Girlfriend Experience (Staffel 3 2021)
- Enric Ortuño: Bridgerton (2020), Die Bande aus der Baker Street (2021), Domina (2021)
Kanada:
- Lindsay Somers: Jett (2019), Spinning Out (2020), Dein letztes Solo (2020), Jupiter’s Legacy (2021)
- Casey Hudecki: Dein letztes Solo (2020), The Handmaid’s Tale – Der Report der Magd (Staffel 4 2021), Sex/Life (2021)
Deutschland:
- Julia Effertz:[21] Wild Republic (2021)
Weblinks
Dokumente:
- Merkblatt Pillars of Safe Intimacy der Intimacy Directors International
- Intimacy on Set Guidelines von Ita O’Brien
- Standards and Protocols for the Use of Intimacy Coordinators der SAG-AFTRA
- Guidelines for Engaging Intimacy Coordinators in TV/Film der Intimacy for Stage and Screen
Literatur
- Gangloff, Tilmann P.: Erhöhte Fürsorge. Warum die Anwesenheit von Experten beim Dreh intimer Szenen für Schauspielerinnen und Regisseure eine große Erleichterung wäre. in: JMS Jugend Medien Schutz-Report, Jahrgang 43 (2020) Heft 1, Seite 9–10
- Sørensen, Inge Ejbye (2021): Sex and safety on set: Intimacy Coordinators in television drama and film in the VOD and post-Weinstein era. in: Feminist Media Studies, DOI: 10.1080/14680777.2021.1886141
Anmerkungen
- Die Organisation Intimacy Directors & Coordinators unterscheidet Intimacy Directors für Theater und Intimacy Coordinators für Film und Fernsehen.
Einzelnachweise
- Siobhan Hagerty: From Normal People to Game of Thrones, sex on screen matters for actors and audiences alike. In: abc.net.au. 3. Mai 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Amanda Duberman: Meet The 'Intimacy Directors' Who Choreograph Sex Scenes. In: Huffpost. 30. Mai 2018, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Ursula Schmied: Was macht ein "Intimacy Coordinator"? In: Glamour. 26. Oktober 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Pam Pastor: Meet Ita O’Brien, ‘Sex Education’s’ intimacy coordinator. In: Inquirer.net. Abgerufen am 27. Mai 2021.
- Guidelines for Engaging Intimacy Coordinators in TV/Film der Intimacy for Stage and Screen, S. 4; abgerufen am 3. Juli 2021
- Breena Kerr: How HBO Is Changing Sex Scenes Forever. In: Rolling Stone. 24. Oktober 2018, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Lesley Goldberg: 'Sex Education' Star Asa Butterfield Says Working With Intimacy Coordinator Helped Cast "Find Our Boundaries". In: The Hollywood Reporter. 21. Juli 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Dave McNary: SAG-AFTRA Unveils Guidelines for Intimacy Coordinators. In: Variety. 29. Januar 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Gene Maddaus: SAG-AFTRA Sets Accreditation Program for Intimacy Coordinators. In: Variety. 29. April 2021, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Michaela Coel widmet Schauspielpreis ihrer Intimitätskoordinatorin. In: Spiegel Kultur. 7. Juni 2021, abgerufen am 8. Juni 2021.
- Alex Peters: Time’s Up is calling for mandatory intimacy coordinators on all UK sets. In: Dazed Digital. 11. Juni 2021, abgerufen am 18. Juni 2021.
- Jake Kanter: BBC makes sex scene co-ordinators mandatory. In: The Times. 16. Oktober 2021, abgerufen am 16. Oktober 2021.
- India's First Intimacy Coordinator Aastha Khanna: This Job Didn't Even Exist Before #MeToo Movement. In: News18. 23. Juli 2021. Abgerufen am 5. März 2022.
- Karishma Upadhyay: Inside the intimacy department of Gehraiyaan: Intimacy director Dar Gai and her team on the art of shooting sex scenes. In: First Post. 31. Januar 2022. Abgerufen am 3. März 2022.
- Sharan Sanil: ‘Gehraiyaan’ Poster Draws Rare Praise For Giving Credit to Intimacy Director Dar Gai. In: Mans World India. Januar 2022. Abgerufen am 3. März 2022.
- Valeria Perasso: The women helping Hollywood shoot safer sex scenes. In: BBC. 7. März 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Erika Morey: The 5 Cs of Intimacy: In Conversation with Siobhan Richardson. In: Theatre Art Life. 1. April 2018, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Katie Strick: Up close - but not too personal: The 'intimacy workshops' giving actors guidelines for sex scenes. In: Evening Standard. 2. Mai 2018, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Inge Ejbye Sørensen (2021): Sex and safety on set: Intimacy Coordinators in television drama and film in the VOD and post-Weinstein era, Feminist Media Studies
- Kristina Zorita: Interview with Intimacy Coordinator Ita O’Brien. In: EWA Women. 23. Juni 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.
- Vanessa Schneider: "Wie ein Stunt-Koordinator für intime Momente" Die erste deutsche Intimitätskoordinatorin Julia Effertz. In: BR Podcast. 28. Februar 2020, abgerufen am 27. Mai 2021.