Indo-Griechisches Königreich
Das Indo-Griechische Königreich war der Nachfolger des Griechisch-Baktrischen Königreiches mit Schwerpunkt in Gandhara. Es bestand im 2. und 1. Jahrhundert v. Chr. Die Chronologie der Herrscher und einzelner Ereignisse ist sehr unsicher und umstritten, da die teilweise stark auf Hypothesen beruhende Rekonstruktion der Geschichte dieses äußersten Vorposten des Hellenismus weitgehend auf den Münzfunden, die die einzigen Quellen für die meisten bekannten Könige darstellen, und einigen wenigen verstreuten Aussagen in den schriftlichen Quellen beruht.
Bemerkenswert sind jedoch die schön gestalteten Münzen und die ethnische wie kulturelle Vielfalt des Reiches (z. B. Graeco-Buddhismus). Trotzdem wird der Einfluss der Griechen (von den Indern als Yavana bezeichnet, abgeleitet von der persischen Bezeichnung Yauna, d. h. Ionier) auf die indische Kultur und Geschichte als eher zweitrangig eingestuft, wenn auch gerade im Bereich der Münzprägung entscheidende Impulse ausgingen.
Geschichte
Die griechisch-baktrischen Könige ab Demetrios I. (ca. 200–182 v. Chr.)[1] hatten bis zur Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. ihren Machtbereich südlich des Hindukusch ausgedehnt. Sie übernahmen Gandhara und angrenzende Gebiete. Bald danach jedoch zerfiel ihr Reich in Folge von Thronstreitigkeiten, und das alte Kernland Baktrien wurde um 135 v. Chr. von den Yüe-tschi erobert. Somit bestanden griechisch-hellenistische Herrschaften nur noch südlich des Hindukusch. Anhand der Münzen aus dem Raum Peschawar, Taxila und Gardes und trotz spärlicher Quellen wird traditionell eine grundlegende, aber heute umstrittene Abfolge der Machthaber im indischen Bereich rekonstruiert: Apollodotos I. – Menander – Antialkidas – Straton und Archebios.[2] Andere Forscher nehmen an, Menanders Vorgänger auf dem Thron sei Eukratides I. gewesen.
König Menander (ca. 165/55–130 v. Chr.), ein Mann mit unklarer Regierungszeit und von unbekannter Herkunft (so ist es unklar, ob er mit Demetrios I. verwandt war), führte das Restreich jedenfalls zu einem frühen Machthöhepunkt. Er war wohl ein General des Königs Demetrios I. von Baktrien gewesen und vielleicht mit dessen Tochter Agathokleia verheiratet. Er kam offenbar jung an die Macht, vermutlich als Usurpator, und seine Machtbasis war Gandhara. Von dort aus versuchten sich die Griechen ein letztes Mal an der Eroberung Indiens, aber nach der Einnahme von Pataliputra im Bündnis mit zwei indischen Fürsten brach offenbar Streit aus, und die Griechen mussten das Gangesgebiet wieder räumen.[3] Trotzdem ging Menander sowohl in die griechische (Strabon behauptet, er habe mehr indische Städte und Stämme unterworfen als Alexander der Große)[4] als auch in die indische Tradition als Held ein – er ist der Milinda des buddhistischen Milindapanha. Auf Münzen trägt Menander den typisch hellenistischen Beinamen Soter („Retter“).
Unklarheit besteht auch hinsichtlich der Religion der Herrscher. Einige Münzen Menanders tragen Symbole, die teils als Hinweis auf Buddha gedeutet werde. Sein wahrscheinlicher Nachfolger Antialkidas wiederum wurde rückblickend bereits als frommer Hindu dargestellt und wird vermutlich in einer Inschrift des Shunga-Königs Bhagabhadra (= Bhagavata?) erwähnt. Fest steht, dass die indo-griechischen Könige als einzige hellenistische Herrscher zweisprachige Münzen ausprägten; offenbar wollte man sich ausdrücklich auch auf die nichtgriechische Bevölkerungsmehrheit stützen. Ein Herrscher wie Straton I. nannte sich so einerseits Basileus, andererseits aber auch Mahārāja.
Straton hatte anscheinend verschiedene Regierungszeiten und -orte, als Minderjähriger auch zusammen mit seiner Mutter Agathokleia. Er wurde dabei von Heliokles (II., vielleicht der aus Baktrien) vertrieben und löste später seinerseits Amyntas ab, der wegen seiner großen Münzen als erwähnenswert eingeschätzt wird. Allgemein betrachtet löschten sich die indo-griechischen Herrscher in destruktiven Bürgerkriegen zwischen rund 35 über Münzen bezeugte Machthabern gegenseitig aus. Diese Kämpfe nahmen nach Menanders Tod anscheinend an Intensität zu. Erkennbar ist, dass mehrere Könige die Münzen anderer überprägten.
Diese Bürgerkriege wurden von den Saken ausgenutzt. Diese waren durch den Druck der Yüe-tschi bis ins heutige Afghanistan (Sakastana = Sistan, um 139 v. Chr.) getrieben worden. Dort traten sie vermutlich zunächst als Verbündete oder Söldner der Griechen (z. B. Zoilos I.) auf. Unter ihrem König Maues unterwarfen die Saken („Indo-Skythen“) ab etwa 70 v. Chr. die meisten der zersplitterten und untereinander verfeindeten Herrschaften der Indo-Griechen unter ihr Supremat und griffen dann nach Indien über, wo sie sich aber ein paar Jahrzehnte später schnell auflösten. In dieser Schwächephase ihrer sakisch-skythischer Suzeräne erneuerten lokale indo-griechische Herren ihre Macht. Als letzter unabhängiger indo-griechischer Herrscher gilt Straton II.
Der Gründer des Kuschana-Reiches sah sich später als Nachfolger der Indo-Griechen und machte Griechisch zur Verwaltungssprache seines Reiches.
Siehe auch
Literatur
- Gunnar Dumke: Grieche sein um jeden Preis? Strategien zur Überwindung gesellschaftlicher Spaltungen im hellenistischen Fernen Osten. In: Stefan Pfeiffer, Gregor Weber (Hrsg.), Gesellschaftliche Spaltungen im Zeitalter des Hellenismus. Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2021, S. S. 181–195.
- Rachel Mairs: The Hellenistic Far East. Archaelogy, Language, and Identity in Greek Central Asia. University of California Press, Oakland CA 2014, ISBN 978-0-520-28127-1 (Standardwerk).
- Rachel Mairs (Hrsg.): The Graeco-Bactrian and Indo-Greek World. Routledge, London 2020, ISBN 978-1-138-09069-9.
- Abodh K. Narain: The Indo-Greeks. Revisited and Supplemented. 4th Reprint with supplement. B. R. Publishing Corporation, Delhi 2003, ISBN 81-7646-349-3 (Originalausgabe: Clarendon Press, Oxford 1957; argumentiert teils explizit gegen Tarns Ansichten).
- Hatto H. Schmitt: Indien. In: Hatto H. Schmitt, Ernst Vogt: Kleines Lexikon Hellenismus. Studienausgabe (Nachdruck der 2. überarbeiteten und erweiterten Auflage 1993). Harrassowitz, Wiesbaden 2003, ISBN 3-447-04727-5, S. 267–270 (knapper Überblick mit Literatur).
- Hatto H. Schmitt: Indien. In: Hatto H. Schmitt, Ernst Vogt: Lexikon des Hellenismus. Harrassowitz, Wiesbaden 2005, ISBN 3-447-04842-5, S. 470–472, (knapper Überblick mit Literatur).
- Richard Stoneman: The Greek Experience of India. From Alexander to the Indo-Greeks. Princeton University Press, Princeton 2019.
- William W. Tarn: The Greeks in Bactria and India. 2. Auflage. Cambridge University Press, Cambridge 1951 (grundlegendes, wenngleich in Teilen überholtes Standardwerk; Digital Library of India).
- Werner Widmer: Hellas am Hindukusch. Griechentum im Fernen Osten der antiken Welt. Fischer, Frankfurt am Main 2015.
- Osmund Bopearachchi: Monnaies gréco-bactriennes et indo-grecques. Bibliothèque Nationale, Paris 1991.
- Osmund Bopearachchi: Indo-Greek Dynasty. In: Ehsan Yarshater (Hrsg.): Encyclopædia Iranica. Band 13(1), 2006, ISBN 978-0-933273-95-5 (englisch, iranicaonline.org, Stand: 9. November 2004 [abgerufen am 6. Juni 2011] inkl. Literaturangaben).
- Pierre Leriche, Franz Grenet: Bactria. In: Ehsan Yarshater (Hrsg.): Encyclopædia Iranica. 15. Dezember 1988 (englisch, iranicaonline.org [abgerufen am 6. Juni 2011] inkl. Literaturangaben).
Weblinks
- Münzen der Indo-Griechen (Memento vom 25. März 2008 im Internet Archive)
Einzelnachweise
- Die Angaben zu den Herrschaftszeitensind nur Schätzwerte, die überwiegend auf Münzen fußen und zudem in der modernen Forschung teils sehr schwanken.
- David Bivar: Nomadenreiche und Ausbreitung des Buddhismus. In: Gavin Hambly (Hrsg.): Zentralasien (= Fischer Weltgeschichte. Bd. 16). Fischer Taschenbuch-Verlag, Frankfurt am Main 1966, S. 46–60.
- Eine Interpretation von indischen Literaturtexten. Vgl. Propyläen Weltgeschichte, Bd. 2, S. 423.
- Strab. Geogr. 11,11,1.