Iljuschin Il-62 auf dem Flugplatz Stölln/Rhinow
Die Iljuschin Il-62 auf dem Flugplatz Stölln/Rhinow (Luftfahrzeugkennzeichen DDR-SEG; auch als Lady Agnes bezeichnet) ist ein Langstrecken-Verkehrsflugzeug der 1991 aufgelösten Fluggesellschaft Interflug, das am 23. Oktober 1989 auf der nur ca. 860 Meter langen Bahn des Flugplatzes Stölln/Rhinow in Stölln, Ortsteil der Gemeinde Gollenberg im Havelland, zu Ehren des Flugpioniers Otto Lilienthal erfolgreich gelandet wurde. Inzwischen ist das Flugzeug als geschütztes Baudenkmal unter der Objektnummer 09151009 in der Denkmalliste des Landes Brandenburg verzeichnet und weiterhin für die Öffentlichkeit zugänglich.
Geschichte
Vorgeschichte
Der bekannte Flugpionier Otto Lilienthal nutzte den Gollenberg, der namensgebend für die Gemeinde Gollenberg ist, seit 1894 als Ort für seine Erprobungsflüge. Stölln war auch der Ort, an dem sich im August 1896 bei einem Flug ein Unfall ereignete, an dessen Folgen Lilienthal einen Tag später verstarb. Sowohl Lilienthal als auch der Luftsport allgemein haben noch heute eine große Bedeutung für die Gemeinde Gollenberg. Seit 2013 bezeichnet sich die Gemeinde auch offiziell als Lilienthal-Gemeinde. Bereits seit 1969 wird Lilienthal dort mit einem Fest geehrt.[1] Im Jahr 1988 besuchten Mitglieder der Führungsebene der Fluggesellschaft Interflug das Lilienthal-Fest. Dort entstand wohl die Idee, ein Verkehrsflugzeug zu Ehren Lilienthals nach Stölln zu überführen. Ausgewählt wurde ein außer Dienst gestelltes, vierstrahliges Langstrecken-Verkehrsflugzeug vom sowjetischen Typ Iljuschin Il-62, das in der Sowjetunion 1973 gebaut, anschließend in die DDR überführt wurde und seitdem im Dienst der Interflug stand.
Vorbereitende Maßnahmen
In Zusammenarbeit mit der Bürgermeisterin der damals eigenständigen Gemeinde Stölln Sybille Heling und dem Generaldirektor der Interflug, Klaus Henkes, gleichzeitig Vorsitzender des Lilienthal-Komitees der DDR, wurde mit den Vorbereitungen begonnen. Die Frage der Finanzierung stellte das Unternehmen indes anfangs in Frage, denn die Gemeinde sollte für die Treibstoffkosten der Überführung aufkommen sowie den Schrottwert des Flugzeugs bezahlen, was aber deren finanzielle Möglichkeiten überstiegen hätte. Am 8. August 1988 entschied die Interflug jedoch, diese Kosten zu übernehmen.[2] Heling koordinierte die Maßnahmen vor Ort, wozu beispielsweise das Erreichen von Sondergenehmigungen sowie das Fällen von Bäumen auf dem Gollenberg gehörte. Die Kosten dafür beliefen sich auf etwa 90.000 Mark.[2] Bei der Umsetzung unterstützten auch lokale Betriebe durch Arbeits- und Geldleistungen. Dennoch gab es auch viel Kritik an den Plänen. Stark kritisiert wurde das Projekt zum Beispiel von einigen Betrieben sowie vom Bürgermeister der benachbarten Stadt Rhinow.[3]
Um die technische Umsetzung kümmerte sich der erfahrene Pilot Heinz-Dieter Kallbach, der seit 1961 bei der Interflug bzw. bei deren Vorläufer, der Deutschen Lufthansa in der DDR beschäftigt war, gemeinsam mit seinem Team, bestehend aus Co-Pilot Peter Bley, Bordingenieur Ulrich Müller und Navigator Rudolf Döge. Eine besondere Herausforderung ergab sich nicht nur durch den Umstand, dass das Flugzeug auf einer Landebahn mit einer Länge von nur rund 860 Meter statt der üblichen ca. 2500 Meter gelandet werden sollte. Im Gegensatz zu regulären Verkehrsflughäfen, deren Landebahnen zumeist aus hartem Beton bestehen, war die Landebahn des Flugplatzes Stölln/Rhinow weitgehend unbefestigt. Im Vorfeld musste also durch zahlreiche Berechnungen ermittelt werden, welche Bremskräfte wirken müssen, um die Maschine rechtzeitig zum Stillstand zu bekommen.[4] Auch wurde das Flugzeug durch den Ausbau nicht benötigter technischer Einrichtung um etwa acht Tonnen geleichtert.[5] Dies betraf neben sämtlichen Passagiersitzen vor allem das Stützfahrwerk im Heck samt Getriebe und das ebenfalls im Heck befindliche Hilfstriebwerk.[2] Das Flugzeug sollte nach Landung in den Besitz der Gemeinde übergehen.[3]
Bei einem Probeflug und einer anschließenden Kontrolle des Flugzeugs wenige Tage vor dem geplanten Fug wurde ein Defekt der Schubumkehr festgestellt. Wäre dieser Fehler unentdeckt geblieben, dann wäre die sichere Ladung womöglich gescheitert.
Letztlich wurde am 4. Oktober 1989 von der Hauptverwaltung für zivile Luftfahrt der DDR eine Ausnahmegenehmigung erteilt und so der Weg für die Landung geebnet. Zunächst wurde angestrebt die Landung – für den Fall des Scheiterns – ohne Zuschauer durchzuführen. Angesichts des enormen Vorbereitungsaufwandes, der in der ländlichen Region allerdings nicht unbemerkt blieb, war dies schnell hinfällig.
Erfolgreiche Landung
Am 23. Oktober 1989 startete das Flugzeug zu seiner letzten Reise auf dem Flughafen Schönefeld. Nach zwei Überflügen wurde das Flugzeug um 13.03 Uhr im dritten Anlauf erfolgreich auf dem Flughafen Stölln/Rhinow gelandet. Durch einen hohen Anstellwinkel bei der Landung sorgte der entstehende Luftwiderstand für zusätzliche Bremskraft. Die Schubumkehr wurde bereits wenige Sekunden vor dem Aufsetzen auf die Landebahn in 50 Metern Höhe aktiviert. Nach dem Aufsetzen fuhr der Pilot sofort die Bremsklappen aus und behielt den Anstellwinkel solange bei, bis sich der Bug durch das Unwirksamwerden des Höhenruders bei etwa 140 km/h nach unten senkte.[2] So konnte das Flugzeug nach rund 850 Metern erfolgreich zum Stillstand gebracht werden, wobei eine große Staubwolke entstand. Am Boden warteten bereits Menschenmassen, die Bürgermeisterin der Gemeinde Sybille Heling gratulierte der Besatzung als eine der Ersten. Die Landung wurde in das Buch der Guinness World Records aufgenommen.[3] Schließlich wurde das Flugzeug auf den Namen Lady Agnes getauft, in Gedenken an Agnes Fischer, die Ehefrau von Otto Lilienthal.
Nutzung nach der Landung
In Stölln wird seit der Landung jährlich das sogenannte Landefest veranstaltet, wobei an die Landung erinnert wird. Häufig waren dabei bisher auch Mitglieder der ehemaligen Crew anwesend. Bis heute ist das Flugzeug eine Touristenattraktion in der Region. Es beherbergt die Dauerausstellung Unterwegs mit der Interflug, die über die Geschichte der Interflug informiert und zum Beispiel einen Servierwagen und originale Rettungsmittel umfasst.[6] Seit 1991 wird das Flugzeug auch als Standesamt genutzt. Im August 2021 wurde dort die 1000. Trauung vollzogen.[7] Zur Bundesgartenschau 2015 wurde das Gelände um das Flugzeug umgestaltet.[3]
Sanierungsarbeiten
2018 wurde das Flugzeug für insgesamt rund 140.000 Euro generalsaniert. Die Sanierungsarbeiten betrafen unter anderem die Inneneinrichtung, aber auch die etwa 1.900 Quadratmeter umfassende äußere Hülle. Im Innenbereich wurden Fenster saniert, Korrosionsschäden beseitigt und der Fußboden sowie Elektroleitungen erneuert. Für die Sanierung der äußeren Hülle musste die alte Farbe zunächst abgetragen, Korrosionsschäden beseitigt und anschließend in mehreren Schichten rund 630 Liter Farbe wieder aufgetragen werden.[5][8]
Flugzeug
Beim ausgewählten Flugzeug handelt es sich um ein im Staatlichen Flugzeugwerk Nr. 22 von Kasan in der Sowjetunion mit der Werknummer 31403 gebautes, in die DDR überführtes und dort am 4. Mai 1973 als DM-SEG registriertes vierstrahliges Langstrecken-Verkehrsflugzeug vom Typ Iljuschin Il-62 mit über 30.000 Flugstunden und 7.500 Landungen. Es trägt seit dem 15. Oktober 1981 das Luftfahrzeugkennzeichen DDR-SEG. Es wurde am 16. August 1989 außer Dienst gestellt und nach der letzten Landung am 20. November 1989 aus dem Luftfahrtregister gelöscht.[9] Standort ist der nordwestliche Bereich des Flugplatzes Stölln/Rhinow am südlichen Ende der Straße Am Gollenberg. Die Interflug-typische, überwiegend weiß-rot-graue Lackierung ist erhalten. In weißer Schrift auf rotem Grund ist nahe dem Cockpit die Typbezeichnung IL-62 lesbar. Im vorderen, oberen Bereich des Rumpfes steht in roter Schrift auf weißem Grund der Name der Fluggesellschaft Interflug. Im hinteren Bereich des Rumpfes steht in schwarzer Schrift auf weißem Grund das Luftfahrzeugkennzeichen. Auf dem Seitenleitwerk befinden sich in weiß auf rotem Grund das Logo der Interflug sowie darüber die Flagge der Deutschen Demokratischen Republik.
Sonstiges
- Zu Ehren des Flugpioniers Hans Grade wurde in Borkheide (Landkreis Potsdam-Mittelmark) wenige Wochen später unter ähnlichen Bedingungen ein Verkehrsflugzeug vom deutlich kleineren Typ Il-18 erfolgreich gelandet (siehe Iljuschin Il-18 am Flugplatz Borkheide). Dieses ist heute ebenfalls denkmalgeschützt und beherbergt Ausstellungen des örtlichen Hans-Grade-Museums.
Weblinks
- Eintrag zur Denkmalobjektnummer 09151009 in der Denkmaldatenbank des Landes Brandenburg
Einzelnachweise
- Märkische Allgemeine: Stölln feiert das 52. Otto-Lilienthal-Fest , herausgegeben am 9. August 2021, abgerufen am 26. Januar 2022
- Sebastian Schmitz: Interflug. Die Fluglinie der DDR. Motorbuch, Stuttgart 2021, ISBN 978-3-613-04389-3, S. 178ff.
- Märkische Allgemeine: Das Husarenstück vom Gollenberg: Wie vor 30 Jahren ein Passagierflugzeug in Stölln landete, herausgegeben am 22. Oktober 2019, abgerufen am 28. Januar 2022
- Märkische Allgemeine: Das Wunder von Stölln: Als die „Lady Agnes“ auf dem Feld landet, herausgegeben am 26. Oktober 2021, abgerufen am 28. Januar 2022
- Märkische Allgemeine: Dieser Moment ging in die Geschichte ein, herausgegeben am 28. Oktober 2018, abgerufen am 28. Januar 2022
- Ausstellung in der Lady Agnes, abgerufen am 28. Januar 2022
- Märkische Allgemeine: Stölln: Die 1000. Hochzeit im Flugzeug „Lady Agnes“, herausgeben am 28. August 2021, abgerufen am 28. Januar 2022
- Märkische Allgemeine: Neuer Anstrich für die Lady Agnes, herausgegeben am 9. September 2018, abgerufen am 29. Januar 2022
- Detlef Billig, Manfred Meyer: Flugzeuge der DDR. Typenbuch Militär- und Zivilluftfahrt. II Band bis 1972. TOM Modellbau, Friedland 2002, ISBN 3-613-02241-9, S. 184.