Hochfrequente Rückenmarkstimulation
Die hochfrequente Rückenmarkstimulation ist eine technische Weiterentwicklung der Spinal Cord Stimulation (SCS). Schon seit Anfang der 1990er Jahre ist die Rückenmarkstimulation eine etablierte Therapieform bei chronischen Rückenschmerzen. Spezielle Elektroden geben dabei elektrische Reize an das Rückenmark ab, um die Übertragung von Schmerzreizen an das Gehirn weitgehend zu unterbinden. Bei der Hochfrequenten SCS haben diese Impulse eine Frequenz von 10.000 Hertz. Die herkömmliche niederfrequente SCS arbeitet mit 40 bis 70 Hertz.
Dass die Rückenmarkstimulation unter Einsatz dieser hohen Frequenzen eine bessere Wirksamkeit aufweist als herkömmliche Verfahren der SCS, ist seit 2015 belegt, als erstmals die Ergebnisse der bislang größten Studie im Bereich SCS veröffentlicht wurden: Die randomisiert-kontrolliert durchgeführte multizentrische Studie „Senza-RCT“ (Randomized Controlled Trial, RCT) wurde von der Food and Drug Administration (FDA) konzipiert und überwacht. Sie verglich zum ersten Mal direkt die Sicherheit und Wirksamkeit verschiedener SCS-Verfahren. Diese Studie erfüllt mit Evidenzstufe Ib die härtesten Evidenzanforderungen, die eine klinische Studie überhaupt erreichen kann. Die Ergebnisse sind also gesichert und stichhaltig.
Indikationen
Die Hochfrequente Rückenmarkstimulation hilft bei chronischen, vorwiegend neuropathischen, therapierefraktären Schmerzsyndromen des Rumpfes sowie der oberen und unteren Extremitäten.
Chronische Schmerzen
Es gibt unterschiedliche Definitionen, ab wann Schmerzen als chronisch gelten. Laut Weltgesundheitsorganisation (WHO) sind Schmerzen chronisch, wenn sie drei Monate oder länger anhalten. Alternativ wird von chronischen Schmerzen gesprochen, wenn sie einen Monat länger anhalten, als es für eine bestimmte Verletzung, Operation oder Krankheit zu erwarten ist.
Da chronische Schmerzen die Betroffenen meist umfassend beeinträchtigen, geht es bei ihrer Behandlung häufig nicht nur um die Schmerzlinderung, sondern darum, Lebensqualität wiederzuerlangen.
Neuropathische Schmerzen
Sehr stark vereinfacht, gibt es den nozizeptiven Schmerz, der eine konkrete Ursache, etwa eine Verletzung, hat, und den neuropathischen Schmerz, der im Nervensystem selbst begründet ist. Neuropathische Schmerzen kommen somit durch eine Nervenschädigung oder -beeinträchtigung zustande und sprechen meist nicht (mehr) oder nur kurzfristig auf eine Therapie der Ursache an.
Häufig handelt es sich um Mischformen, die anfangs nozizeptiv sind, auf Dauer aber einen neuropathischen Charakter bekommen, wenn sich der Schmerz von der anfänglichen Ursache verselbstständigt hat.
Krankheitsbilder
Die Wirksamkeit der Hochfrequenten Rückenmarkstimulation ist für chronisch-neuropathische Schmerzsyndrome des Rumpfes sowie der oberen und unteren Extremitäten nachgewiesen. Darüber hinaus ist die Hochfrequente SCS bei einer Vielzahl von Indikationen und Diagnosen einsetzbar, die für chronische Schmerzen im Rücken- und/oder Beinbereich verantwortlich sind.
Von Krankenkassen anerkannte Indikationen[1]:
- Lumboischialgien, Rückenschmerzen[2], die in die Beine ausstrahlen
- chronische Schmerzbilder nach wirbelsäulenchirurgischen Eingriffen (Postdiskektomiesyndrom/Failed Back Surgery Syndrome)
- chronische Nervenwurzel-Reizungen (Radikulopathie/Polyradikulopathie)
- degenerative Veränderungen an Bandscheiben und Wirbelkörpern (Degenerative Disc Disease, Spondylosen)
- und nicht zuletzt kann die Hochfrequente Rückenmarkstimulation bei Patienten zu einer Schmerzlinderung führen, die nicht auf eine herkömmliche, niederfrequente SCS-Behandlung angesprochen haben (Nicht-Ansprechen auf herkömmliche SCS)
Da für die Hochfrequente Rückenmarkstimulation ein operativer Eingriff erforderlich ist, ist diese Art von Therapie allerdings der Behandlung chronischer Schmerzen vorbehalten. Sie kommt erst zum Einsatz, wenn einfachere, nicht-invasive Möglichkeiten der Behandlung, wie Schmerzmittel, Physiotherapie usw., auf Dauer keinen Erfolg gebracht haben.
Unterschiede hochfrequente und herkömmliche (niederfrequente) Behandlung
Kein Kribbeln
Bei den herkömmlichen Verfahren der SCS, die mit niedrigen Frequenzen arbeiten, wird die Schmerzwahrnehmung durch sogenannte Kribbelparästhesien maskiert. Dieses Kribbeln wird von einem Teil der Patienten ganz grundsätzlich als störend empfunden. Zudem kann es dabei zu unerwartet starken Parästhesieschwankungen kommen, die sich wie Stromstöße anfühlen. Bei der Hochfrequenten SCS hingegen tritt die Schmerzlinderung unmittelbar ein. Die Amplituden der Stromfrequenz liegen dabei sehr nahe beieinander und die anzuwendende Stromstärke ist sehr gering, sodass Kribbelparästhesien gar nicht erst entstehen. Der Wegfall dieser Missempfindungen ist schon an sich ein Vorteil, schlägt sich jedoch für die Patienten darüber hinaus in deutlich geringeren Einschränkungen im Alltag nieder: Unter der Hochfrequenten SCS, die ohne spürbare, unerwartete, elektrische Impulse arbeitet, ist den Patienten beispielsweise das Autofahren erlaubt und es kommt seltener zu Schlafstörungen.
Zu Wechselwirkungen mit gleichzeitig verabreichten oder eingenommenen Medikamenten kommt es durch die Hochfrequente SCS ebenfalls nicht.
Einfach handhabbarer Impulsgenerator[3]
Der alltägliche Umgang mit dem System gestaltet sich bei der Hochfrequenten SCS einfach. Lediglich der Impulsgenerator ist täglich aufzuladen, was ca. 45 Minuten dauert. Dies lässt sich im Sitzen oder Liegen erledigen, beispielsweise ganz bequem während des Fernsehens.
Einmal eingestellt und regelmäßig im Rahmen einer fachärztlichen Sprechstunde überprüft, funktioniert die Hochfrequente SCS ohne permanentes Nachjustieren. Das heißt, das System reguliert mit einer Einstellung Aktiv- sowie Ruhephasen und kann beim Schlafen eingeschaltet bleiben. Bei der niederfrequenten Rückenmarkstimulation ist die Impulsstärke hingegen an die jeweilige Aktivität wie Liegen, Sitzen oder Laufen anzupassen.
OP in Vollnarkose[3]
Bei der hochfrequenten SCS kann der Patient während der Implantation des Impulsgenerators in Vollnarkose verbleiben, weil der Operateur zur Platzierung der Elektroden nicht auf seine Rückmeldung angewiesen ist. Eine intraoperative Impedanzmessung, also die Messung des Wechselstromwiderstandes, ist zur Validierung der Position ausreichend und funktioniert zuverlässig. Damit wird die wirksame Platzierung der Elektroden sichergestellt. Für die niederfrequente SCS-Therapie muss der Patient hingegen bei der Implantation der Elektroden aus der Narkose geweckt werden. Dieses „intraoperative Mapping“ ist für den Patienten unangenehm, aber notwendig, damit er bei der Platzierung der Elektroden Auskunft darüber geben kann, ob und wo genau er die Kribbelparästhesien spürt. Bei der Hochfrequenten SCS entfällt dieses Vorgehen hingegen. Das erleichtert den Eingriff sowohl für den Patienten als auch für den Operateur.
Therapie/Ablauf
Nach Indikationsstellung erfolgt vor der dauerhaften Implantation des Impulsgenerators zunächst eine Testphase, während der die individuelle Wirksamkeit der Hochfrequenten Rückenmarkstimulation geprüft wird. Ein Spezialist nimmt die minimalinvasiven Eingriffe vor, die für diese Behandlung notwendig sind. Dafür werden zwei Elektroden rückenmarksnah implantiert, was minimal-invasiv erfolgt und reversibel ist, das heißt, die Elektroden lassen sich falls erforderlich auch ganz einfach wieder entfernen. In einem Testtagebuch dokumentiert der Patient die Schmerzintensität. Erst nach einigen Tagen wird anhand dessen über die weitere Therapie entschieden. Nur bei erfolgreichem Test, also guter Wirksamkeit, erhält der Patient anschließend den dauerhaften Impulsgenerator implantiert. Neun von zehn Patienten, die die Hochfrequente Rückenmarkstimulation auf diese Weise ausprobierten, blieben auf Dauer dabei.[4]
Während der Testphase erfolgt die Rückenmarkstimulation über ein externes Gerät, das sich am Gürtel tragen lässt. Der dauerhafte, wiederaufladbare Impulsgenerator ist etwa so groß wie eine Streichholz-Schachtel und wird üblicherweise im Bereich des unteren Rückens oder in der Gesäßregion unter der Haut platziert, was sich von außen als kleine Unebenheit zeigen kann. Patienten bezeichnen dieses Gerät zum Teil als „Schmerzschrittmacher“.
Nachweis der Wirksamkeit
Die Vorteile, die sich mit der Hochfrequenten SCS im Vergleich zur niederfrequenten Rückenmarkstimulation erzielen lassen, sind vielfältig – und ihre klinische Evidenz ist in mehreren Studien nachgewiesen.
2009 US-Machbarkeitsstudie
5 Prüfzentren, 24 Patienten, die sowohl mit herkömmlicher als auch mit Hochfrequenter SCS getestet wurden. Nachweis der Sicherheit und Wirksamkeit beim Menschen. 88 Prozent der Patienten zogen die Hochfrequente Rückenmarkstimulation vor. Veröffentlicht in der Zeitschrift „Neuromodulation“.[5]
2013 Europäische Multizentrische 24-Monats-Studie (Senza-EU)
2 Prüfzentren, 72 Patienten implantiert. Nachweis der langfristigen Sicherheit und Wirksamkeit bei Rücken- und Beinschmerzen (24-monatige Nachbeobachtung). Veröffentlicht in der Zeitschrift „Pain Medicine“.[6]
2015 Senza-RCT – erste, randomisiert-kontrolliert durchgeführte multizentrische, prospektive Pivotalstudie
2015 wurden erstmals die Ergebnisse der bislang größten Studie im Bereich SCS in der Ausgabe 04/2015 der „Anesthesiology“,[4] dem Fachmagazin der American Society of Anesthesiologists, veröffentlicht. Die „Senza-RCT“ (Randomized Controlled Trial, RCT) wurde von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde (FDA) überwacht und hat erstmals verschiedene SCS-Verfahren direkt verglichen und erfüllt dabei die härtesten Evidenzanforderungen. Ein Teil der Patienten wurde mit der herkömmlichen Form der SCS, also mit niederfrequenten Impulsen behandelt, die andere Patientengruppe erhielt die Hochfrequente Rückenmarkstimulation. Die Studie war darüber hinaus die erste randomisierte SCS-Vergleichsstudie, an der Probanden mit Rücken- und Beinschmerzen teilnahmen und bei der alle Teilnehmer über einen Zeitraum von zwölf Monaten begleitet und kontrolliert wurden.
2016 Fortführung von Senza-RCT über 24 Monate
Die 2015 dokumentierte bessere Wirksamkeit der Hochfrequenten SCS gegenüber der niederfrequenten Rückenmarkstimulation bestätigte sich auch in der Fortführung der Senza-RCT über 24 Monate. Das belegen die Daten, die im September 2016 in der Zeitschrift „Neurosurgery“[7] veröffentlicht wurden. Die Überlegenheit der Hochfrequenten SCS zeigt sich dabei in höheren Responderraten und in der besseren Wirksamkeit, dokumentiert unter anderem im Vergleich der Remitterraten (Probanden, die nach der Behandlung einem Gesunden gleichgesetzt werden können) und der ermittelten Schmerzintensität über die Visuelle Analogskala (VAS).
Ausgewählte Detailergebnisse[4][7]
Die Senza-RCT-Studie hat gezeigt, dass auch Patienten mit langandauernder Schmerzanamnese von der Behandlung profitieren. Die hohe Zahl voroperierter Senza-RCT-Probanden zeigt außerdem, dass die Hochfrequente SCS geeignet ist, Patienten mit einem Failed Back Surgery Syndrome, also bei fortwährenden Beschwerden nach einer Bandscheiben- oder Wirbelsäulen-OP, Schmerzlinderung zu verschaffen.
In der Senza-RCT-Studie wurde eine Definition für sogenannte „Remitter“ festgelegt, also für Patienten, die nach Behandlung einem Gesunden gleichgesetzt werden können und somit als geheilt gelten. Demnach gehören diejenigen Patienten zu den Remittern, die unter Rückenmarkstimulation einen VAS-Wert von 2,5 oder weniger erreichen konnten. Für die 24-Monats-Betrachtung behielt diese Definition weiterhin Gültigkeit. Nach 12 Monaten erreichten ca. 67 Prozent der Studienteilnehmer, die eine Hochfrequente Rückenmarkstimulation erhielten, Remitterstatus – und zwar gleichermaßen bei den von Beinschmerzen Geplagten, als auch bei denjenigen mit Rückenschmerzen. Nach 24 Monaten blieb die Remitterrate mit etwa 66 Prozent stabil auf demselben hohen Niveau. Der Anteil der mit niederfrequenter SCS therapierten Patienten, die eine Remission erreichten, belief sich zu den unterschiedlichen Messzeitpunkten jeweils zwischen 31 und knapp 43 Prozent. Fazit: Mit der Hochfrequenten Rückenmarkstimulation lassen sich in etwa doppelt so viele Patienten komplett von ihren Schmerzen befreien, als mit der herkömmlichen SCS. Diese Verminderung der Schmerzwerte wurde erreicht, obwohl gleichzeitig die Schmerzmedikation reduziert wurde.
Der konkrete Vergleich der Schmerzintensität über die VAS-Skala über 24 Monate Behandlungsdauer hinweg zeigt besonders eindrücklich, wie groß der Unterschied zwischen den beiden SCS-Methoden tatsächlich ist. Bei den Rückenschmerzen reduzierte sich der VAS-Wert ausgehend von durchschnittlich 7,5 unter Hochfrequenter Rückenmarkstimulation auf 2,5 nach 12 Monaten und auf 2,4 nach 24 Monaten. Im Vergleich dazu lagen die VAS-Werte bei der niederfrequenten SCS-Therapie ausgehend von im Durchschnitt 7,7 bei 4,3 nach 12 Monaten und bei 4,5 nach 24 Monaten. Auch bei den Beinschmerzen lagen die VAS-Werte bei der Hochfrequenten SCS deutlich niedriger: Ausgehend von 7,2 sanken sie auf 2,1 nach 12 Monaten und auf 2,4 nach 24 Monaten; während unter niederfrequenter SCS-Therapie der Ausgangswert bei 7,4, der 12-Monats-Wert bei 3,8 und der 12-Monats-Wert bei 3,9 lag.
Dokumentierte Überlegenheit der Hochfrequenten Rückenmarkstimulation
Die Hochfrequente Rückenmarkstimulation ist die einzige SCS-Therapie, die ohne Kribbelparästhesien wirksam ist. Mehr Patienten sprechen darauf an; bei ihnen ist die Therapie gleichzeitig wirksamer und lindert die Schmerzen besser – diese Resultate kamen bei der Senza-RCT-Studie nicht nur deutlich zum Vorschein, die FDA erlaubte diese Aussagen sogar explizit.
Einzelnachweise
- S-3 Leitlinie "Epidurale Rückenmarkstimulation zur Therapie chronischer Schmerzen". Registernummer 008 - 023. Deutsche Gesellschaft für Neurochirurgie e.V. et al., 31. Juli 2013, abgerufen am 15. Mai 2017.
- Rückenschmerzen. In: Robert Koch-Institut (Hrsg.): Gesundheitsberichterstattung des Bundes. Heft 53, 2012 (gbe-bund.de [abgerufen am 18. April 2017]).
- Braunsdorf, Werner: EK: Hochfrequente Neuromodulation bei chronischen Rücken- und Beinschmerzen. Hrsg.: MOT Medizinisch-Orthopädische Technik. 136. Jahrgang 2016, Heft 1, S. 27–33.
- Kapural, L., et al.: Novel 10 kHz High Frequency Therapy (HF10 Therapy) is Superior to Traditional Low Frequency Spinal Cord Stimulation for the Treatment of Chronic Back and Leg Pain: The SENZA-RCT Randomized Controlled Trial. Hrsg.: Anesthesiology. V 123, Nr. 4, 2015 (asahq.org [abgerufen am 18. April 2017]).
- Al-Kaisy, A., et al.: The Use of 10-Kilohertz Spinal Cord Stimulation in a Cohort of Patients With Chronic Neuropathic Limb Pain Refractory to Medical Management. Hrsg.: Neuromodulation. Nr. 18, 2015, S. 18–23.
- Al-Kaisy, A., et al.: Sustained Effectiveness of 10 kHz High-Frequency Spinal Cord Stimulation for Patients with Chronic, Low Back Pain: 24-Month Results of a Prospective Multicenter Study. Hrsg.: Pain Medicine. V 15, 2014, S. 347–354.
- L. Kapural, C. Yu, et al.: Comparison of 10-kHz High-Frequency and Traditional Low-Frequency Spinal Cord Stimulation for the Treatment of Chronic Back and Leg Pain: 24-Month Results From a Multicenter, Randomized, Controlled Pivotal Trial. In: Neurosurgery. Band 79, Nummer 5, November 2016, S. 667–677, doi:10.1227/NEU.0000000000001418, PMID 27584814, PMC 5058646 (freier Volltext).