Hertha Nathorff
Hertha Nathorff (* 5. Juni 1895 in Laupheim als Hertha Einstein; † 10. Juni 1993 in New York) war eine deutsche Kinderärztin. Sie leitete als Ärztin von 1923 bis in die 1930er Jahre eine Kinderklinik in Berlin-Charlottenburg.
Biografie
Geboren wurde Hertha Einstein als älteste von drei Töchtern von Mathilde Einstein (1865–1940) und Arthur Einstein (1865–1940), einem Laupheimer Zigarettenfabrikanten. Die jüdische Familie galt als liberal und patriotisch. Verwandtschaftliche Beziehungen bestanden zu dem Physiker Albert Einstein, dem Musikwissenschaftler und Musikkritiker Alfred Einstein sowie dem Filmproduzenten Carl Laemmle.
Hertha Einstein besuchte als erstes Mädchen die Laupheimer Lateinschule, das spätere Carl-Laemmle-Gymnasium, was Anfang des 20. Jahrhunderts zu erheblichem Aufsehen und anfänglichem Widerstand seitens der Schulbehörden führte. 1914 legte sie ihre Abiturprüfung an einem Ulmer Gymnasium ab. Statt des von ihr ursprünglich geplanten Musikstudiums entschied sie sich für ein Medizinstudium, das sie in Freiburg und Heidelberg absolvierte.
Nach ihrem Studienabschluss und der Promotion übernahm Einstein 1923 die ärztliche Leitung eines vom Roten Kreuz getragenen Entbindungs- und Säuglingsheimes in Berlin-Charlottenburg. Im Oktober des gleichen Jahres heiratete sie den Internisten Erich Nathorff (13. Juli 1889–1954). Erich Nathorff war Oberarzt am Krankenhaus Moabit und Leiter der Tuberkulosefürsorge im Berliner Bezirk Tiergarten. Heinz Nathorff, der einzige Sohn des Ehepaares, wurde am 10. Januar 1925 geboren. Er starb 1988.
Neben der Klinikarbeit bauten Nathorffs eine eigene Praxis auf, die sie bis 1938 führten. Beide Nathorffs wurden nach 1933 im Rahmen der „Arisierung“ aus dem Klinikdienst entlassen und sahen sich als Juden wachsender Diskriminierung ausgesetzt. 1938 wurde ihnen seitens der nationalsozialistischen Machthaber als Juden die ärztliche Approbation entzogen, Erich Nathorff durfte die gemeinsame Praxis als „Judenbehandler“ weiterführen. Während der Novemberpogrome 1938 verschleppten ihn die Nationalsozialisten ins KZ Sachsenhausen, aus dem er nach fünf Wochen Tortur entlassen wurde.
„1/2 10 abends. Es klingelt zweimal kurz und scharf hintereinander. Ich gehe an die Tür: ‚Wer ist da?‘ – ‚Aufmachen! Kriminalpolizei!‘ Ich öffne zitternd, und ich weiß, was sie wollen. ‚Wo ist der Herr Doktor?‘ – ‚Nicht zu Hause‘, sage ich – ‚Was? Die Portierfrau hat ihn doch nach Hause kommen sehen.‘ – ‚Er war zu Hause, aber ist wieder weggerufen worden.‘ (…) Doch in diesem Augenblick höre ich, wie die Türe zu unserer Wohnung aufgeschlossen wird. Mein Mann kommt – er kommt, der Unglückselige, in dem Augenblick, da ich ihn gerettet wähne. Und wie er geht und steht, führen sie ihn ab. ‚Danken Sie Ihrem Herrgott, daß Ihrer Frau nicht die Kugel im Hirn sitzt.‘ (…) Ich renne ihnen nach auf die Straße. ‚Wohin mit meinem Mann, was ist mit meinem Mann?‘ Brutal stoßen sie mich zurück. (…) Und ich sehe, wie sie in ein Auto steigen und davonfahren mit meinem Mann in die dunkle Nacht.“
Carl Laemmle riet den Nathorffs zur Auswanderung aus Deutschland und bürgte für sie, so dass sie im August 1938 ein Visum für die USA beantragten. Das Ehepaar reiste 1939 zuerst nach London, wohin sie bereits Monate zuvor den Sohn mit einem Kindertransport in Sicherheit gebracht hatten, von London aus reisten sie weiter nach New York. Inzwischen war die Familie völlig mittellos, da sie von den Nationalsozialisten um ihr Vermögen gebracht wurden. Carl Laemmle war 1939 verstorben, daher konnte die Familie von dieser Seite auch keine Hilfe mehr erwarten. 1940 schrieb Hertha Nathorff:
„Dieses Wartenmüssen, es hat uns um alles gebracht, alles, was wir an irdischen Gütern noch besessen hatten. Unsere Schiffskarten sind verfallen, unser Lift (Umzugsgut) in Holland ist verloren, weil wir jetzt den Transport in Devisen ein zweites Mal zu bezahlen hätten, da die Nazi-Räuber auch dieses Geld nicht transferiert haben. Auf fremde Hilfe und Güte sind wir angewiesen.“[1]
Da die Studienabschlüsse der Nathorffs in den USA nicht anerkannt wurden, konnten sie nicht als Ärzte arbeiten. Die Stimmung gegenüber den deutschen Emigranten in den USA war zudem von Misstrauen geprägt, Unterstützung bekamen die Nathorffs keine. Hertha Nathorff arbeitete daher als Krankenpflegerin, um das Familieneinkommen zu sichern, während Erich Nathorff sich auf amerikanische Studienabschlüsse vorbereitete. Ihre eigene Qualifikation zum Wiedereinstieg in den Arztberuf blieb ihr verwehrt, da das Einkommen der Arztpraxis ihres Mannes niedrig war und er ihr jegliche Unterstützung beim Zusatzstudium verwehrte. So arbeitete sie als Sprechstundenhilfe in seiner Praxis.[2]
Obwohl es für Hertha Nathorff nicht leicht war, ihren Beruf als Ärztin nicht mehr ausüben zu können, setzte sie sich für die sozialen Belange deutscher Emigranten in New York ein. Sie arbeitete als Psychotherapeutin und war Mitglied der Virchow Medical Society sowie der Association for the Advancement of Psychotherapy, zudem gehörte sie der Alfred Adler Mental Hygiene Clinic an. Gerade als die Familie eine neue Existenz aufgebaut hatte, starb Erich Nathorff im Jahr 1954.
Sie publizierte mehrere Werke, darunter einen Gedichtband, und erhielt verschiedene Auszeichnungen wie zum Beispiel 1967 das Bundesverdienstkreuz.[2]
Hertha Nathorff lebte bis zu ihrem Tod 1993 in bescheidenen Verhältnissen in New York. 1986 stiftete sie im Andenken an ihre Schulzeit ihrer ehemaligen Schule in Laupheim einen jährlichen Preis für das beste Abitur.[3] Deutschland selbst hat Hertha Nathorff jedoch nie wieder besucht.
Ehrungen
Für ihr soziales Engagement in Deutschland und den USA wurde Hertha Nathorff 1967 mit dem Bundesverdienstkreuz am Bande ausgezeichnet. 1995 stiftete die Ärztekammer Berlin eine nach Hertha Nathorff benannte jährliche Auszeichnung für die besten Abschlussarbeiten in gesundheitswissenschaftlichen Studiengängen an der Berlin School of Public Health und der Freien Universität Berlin.[4]
Werke
- Wolfgang Benz (Hrsg.): Das Tagebuch der Hertha Nathorff (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. Band 54). Oldenbourg, München 1986.
- Das Tagebuch der Hertha Nathorff. Berlin – New York. Aufzeichnungen 1933 bis 1945. 3. Auflage, Fischer, Frankfurt am Main 2010 (My Life in Hitler’s Germany).
- Er, ich: Liederbuch einer Ehe. Suppan, Solingen 1982.
Literatur
- Wolfgang Benz: Nathorff, Hertha. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 18, Duncker & Humblot, Berlin 1997, ISBN 3-428-00199-0, S. 747 f. (Digitalisat).
- Jutta Dick, Marina Sassenberg (Hrsg.): Jüdische Frauen im 19. und 20. Jahrhundert. Lexikon zu Leben und Werk. Reinbek 1993, ISBN 3-499-16344-6.
- Edda Ziegler: Die verbrannten Dichterinnen. Schriftstellerinnen gegen den Nationalsozialismus. Artemis & Winkler, Düsseldorf 2007.
- Wolfgang Benz: Deutsche Juden im 20. Jahrhundert: eine Geschichte in Porträts. C.H. Beck, München 2011, ISBN 978-3-406-62292-2, darin: Das gelebte Unglück des Exils: Hertha Nathorff. S. 123–142.
Weblinks
Einzelnachweise
- Hertha Nathorff: Das Tagebuch der Hertha Nathorff.
- Sabine Kittel: Frauen im Holocaust – ein überfälliges Buch? Rezension. In: querelles-net, 2001.
- Carl-Laemmle-Gymnasium Laupheim: Der Preis für das beste Abitur, gestiftet von Hertha Nathorff (Memento des Originals vom 5. Februar 2012 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Der Hertha-Nathorff-Preis (Memento des Originals vom 2. Juli 2014 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. , Website der Ärztekammer Berlin, abgerufen am 21. November 2014.