Herbert Spencer
Herbert Spencer (* 27. April 1820 in Derby; † 8. Dezember 1903 in Brighton) war ein englischer Philosoph und Soziologe. Als Erster wandte er die Evolutionstheorie (hier: das Konzept des Survival of the Fittest) auf die gesellschaftliche Entwicklung an und begründete damit das Paradigma des Evolutionismus, das oft als Vorläufer des Sozialdarwinismus angesehen wird.
Leben
Nach seiner Erziehung, die er größtenteils zu Hause erhielt, arbeitete Spencer von 1837 bis 1846 bei der London and Birmingham Railway als Eisenbahningenieur (technischer Zeichner), Hilfslehrer und von 1848 bis 1853 als Redakteur beim Economist und freier Schriftsteller. Innerhalb der Chartistenbewegung engagierte er sich im Kampf für das allgemeine Wahlrecht. Der Tod seines Onkels Thomas Spencer 1853 und die damit verbundene Erbschaft erlaubten es Spencer, seinen Posten aufzugeben und als freier Autor zu leben.
Als Soziologe und Philosoph war Spencer ein Autodidakt. Er las vor allem naturwissenschaftliche Texte (Jean-Baptiste de Lamarck, William Benjamin Carpenter) und wandte die dort gewonnenen Ideen auf die Gesellschaft an. Er insistierte in seinen Schriften auf der Anwendung (natur)wissenschaftlicher Methodik und Erkenntnis für philosophische Untersuchungen.
Politisch war Spencer fest im klassischen Liberalismus verwurzelt, was sich vor allem in seinem Spätwerk niederschlug. Spencer versuchte das gesamte Wissen seiner Zeit in einem „System der synthetischen Philosophie“ zu vereinen.
Werk und Wirkung
Wie Claude Henri de Rouvroy de Saint-Simon, Auguste Comte oder Karl Marx suchte Spencer nach einer Erklärung gesellschaftlichen Wandels beziehungsweise der Entwicklungsstufen einer Gesellschaft. Beeindruckt von den Thesen Lamarcks wandte er diese in Soziale Statik (1851) erstmals auf soziale Systeme an. Lamarck postulierte, dass die Evolution der Lebewesen aufgrund äußerer Faktoren stattfinde, während das gängige sozialwissenschaftliche Paradigma jener Zeit, der Positivismus, die Gesellschaft nur mit gesellschaftlichen Faktoren erklärte. In Soziale Statik beschreibt Spencer die Gesellschaft als einen „Überorganismus“ mit Organen, die den Lamarckschen Gesetzen von Wachstum und Niedergang folgen. In Der Soziale Organismus (1860) arbeitet er diese Ideen aus.
Um 1860 begann Spencer sein Lebenswerk: Die Synthese des gesamten menschlichen Wissens, bezogen auf ein allgegenwärtiges, in allem Lebenden wirkendes Prinzip: die Evolution. Erst die Evolutionsgesetze erlauben nach Spencer die Strukturierung und Eingliederung der empiristischen Daten aus allen physikalischen, sozialen und psychologischen Wissenschaftsbereichen unter ein Prinzip; deshalb stelle der Evolutionismus die erste wissenschaftlich fundierte Weltsicht dar. Als begeisterter Anhänger des Darwinismus glaubte er, das Evolutionsprinzip in allen Wissenschaften anwenden und diese dadurch zu einem "System synthetischer Philosophie" vereinigen zu können. Spencer war davon überzeugt, in der sich selbst organisierenden Genese der Dinge einen wichtigen Schlüssel zu ihrem Verständnis gefunden zu haben. Der Ansatzpunkt, dass sich die Dinge in der Welt ohne göttliche (oder anderweitige) Lenkung entwickeln und dabei aus „Einfachem“ etwas „Komplexeres“ oder „Höheres“ entsteht, war für seine Zeit revolutionär. Wie John Stuart Mill bekannte sich Spencer zum strikten Empirismus; mit Immanuel Kant trennte er zwar kategorisch zwischen Phänomenen, jedoch schrieb er den Gegenständen der Erfahrung eine inhärente Kraft zu, die er als Manifestation des "Unergründlichen" sah. Wissenschaftliche Erkenntnis unterscheide sich daher vom Alltäglichen nur durch besonders präzise Beschreibung der Erfahrungswelt und durch die Entdeckung universaler Gesetze innerhalb der Wissenschaftsdisziplinen.
Nach der Lektüre von Carpenter übernahm Spencer dessen Thesen in seinen Ersten Prinzipien (1860) und postulierte, dass sich auch im gesellschaftlichen Bereich alle Dinge vom Homogenen zum Heterogenen hin entwickeln. Per Deduktion begründete er sein „Universelles Postulat der kulturellen Evolution“: nicht nur biologische Organismen, sondern auch die Erziehung, die Lebensweisen, die sozialen Konventionen, die Psychologie, die Politik usw. würden diesem Gesetz folgen und zwar ohne „göttliche“ oder anderweitige Einwirkung von außen (Erste Prinzipien, 1862). In einem Punkt befand sich Spencer hier auf einer Linie mit seinen positivistischen Zeitgenossen (beispielsweise Comte): Auch sie sahen die Entwicklung der Soziologie eingebettet in eine breite Entwicklung beziehungsweise Reorganisation aller Wissenschaftsdisziplinen einerseits und eine gleiche, alles durchdringende Gesetzmäßigkeit, andererseits.
Schließlich entwickelte Spencer in seinen weiteren Prinzipien, ausgehend von den verschiedenen zuvor entwickelten Evolutionstheorien, eine allgemeine Philosophie: Das gesamte Universum funktioniere wie ein gigantischer Organismus, die immer höhere Spezialisierung und Differenzierung führt mit der Zeit zu einer immer harmonischeren Koordination der einzelnen Komponenten. Wie zuvor schon Comte, stellte Spencer dieselbe Entwicklung nicht nur für das Gesamte, sondern innerhalb jeder einzelnen Komponenten fest. In den Prinzipien der Biologie (1864–67) integrierte Spencer sowohl die Theorien von Charles Darwin, Alfred Russel Wallace, aber auch Henri Milne Edwards über die Arbeitsteilung in Organismen.
Als Soziologe und Evolutionstheoretiker wird Spencer von einigen als Begründer des Sozialdarwinismus betrachtet. Er popularisierte den Begriff der Evolution für gesellschaftliche Entwicklung, ebenso wie er (und nicht Charles Darwin) den Begriff des „Survival of the fittest“ (Überleben des am besten Angepassten, siehe Evolutionstheorie) prägte, wobei er Darwins „natürliche Auslese“ zum „Kampf ums Dasein“ machte.
Eine gesellschaftliche Entwicklung verläuft Spencer zufolge ähnlich der eines biologischen Organismus. Gesteuert durch die unsichtbare Hand der Evolution setzt sich langfristig das durch, was am besten zum Überleben des Organismus beiträgt. In diesem Prozess steht der Nicht-Angepasste, d. h. der sozial Schwächere, dem Fortschritt der Gesellschaft im Wege. Spencer sah in Indiens „Eurasiern“ ein Beispiel von „Degeneration“ infolge von ethnischer Mischung und wünschte, dass Ehen zwischen verschiedenen Ethnien „entschiedenst verboten“ würden.[1]
Anders als spätere Sozialdarwinisten war Spencer fest im Liberalismus verwurzelt. Ausgehend von seiner protestantischen Ethik postulierte er das Law of Equal Freedom (LEF; Gesetz gleicher Freiheit), dass ein Mensch jede Freiheit habe, solange er nicht in die Freiheit eines anderen eingreife. Sowohl aus diesen ethischen Gründen als auch, weil sie der Logik der Evolution widersprächen, lehnte Spencer jeden Eingriff des Staates in die menschliche Gesellschaft ab. In seinem politischsten Werk The Man Versus the State ging er konsequenterweise so weit, das Recht eines jeden Individuums auf Sezession vom Staat zu fordern.
Spencer wurde gemäß seinem letzten Willen im Golders Green Crematorium eingeäschert, sein Grabmal befindet sich in der Nähe desjenigen von Karl Marx auf dem Londoner Highgate Cemetery.
Literatur
Primärliteratur
- Social Statics (1851)
- A System of Synthetic Philosophy (1860)
- The Social Organism (1860)
- Education (1861)
- First Principles (veröffentlicht in 6 Teilen 1860–62)
- The Principles of Biology (1864–67)
- The Principles of Psychology (1870–72)
- The Principles of Sociology (1874, ISBN 0-7658-0750-5) (dt.: Die Principien der Sociologie 1877 B. Vetter Band 1–4)
- dt. Erläuterung: Die Prinzipien der Soziologie. (2001). Kellermann P. S. 468–471 ISBN 3-531-13235-0. auch: Jolandos Verlag, ISBN 3-936679-52-5.
- Principles of Ethics (1879–93)
- Rezension von Samuel Alexander. Mind (N. S.) 2(1893), 102–110
- The Man 'versus' the State (1884)
- Autobiography (1904)
Sekundärliteratur
- Wolfram Forneck: Die Vererbung individuell erworbener Eigenschaften. Dargestellt am Disput zwischen August Weismann und Herbert Spencer. 2. Auflage. BoD – Books on Demand, Norderstedt 2014, ISBN 978-3-7357-9153-5.
- Otto Gaupp: Herbert Spencer. Frommanns 1897.
- August Stadler: Herbert Spencer – Spencers Ethik – Schopenhauer. R. Voigtländers Verlag Leipzig 1913.
- David Duncan: Life and Letters of Herbert Spencer. (2 Bände), University Press of the Pacific, 2002.
- Johann G. Muhri: Normen von Erziehung. Analyse und Kritik von Herbert Spencers evolutionistischer Pädagogik. 1982. ISBN 3-7705-2065-3.
- W. C. Owen: The Economics of Herbert Spencer. 2002, ISBN 1-4102-0004-3.
- Uwe Krähnke: Herbert Spencer. In: Ditmar Brock, Uwe Krähnke/Matthias Junge: Soziologische Theorien von Auguste Comte bis Talcott Parsons 2. Auflage, München: Oldenbourg 2007. Seiten 79–98.
Weblinks
- Literatur von und über Herbert Spencer im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Werke von und über Herbert Spencer in der Deutschen Digitalen Bibliothek
- David Weinstein: Eintrag in Edward N. Zalta (Hrsg.): Stanford Encyclopedia of Philosophy.
- William Sweet: Herbert Spencer (1820–1903). In: J. Fieser, B. Dowden (Hrsg.): Internet Encyclopedia of Philosophy.
- Michael Beetz: Das unliebsame System. Herbert Spencers Werk als Prototyp einer Universaltheorie ZfS 2010, S. 22–37
Einzelnachweise
- David Duncon (ed), Life and Letters of Herbert Spencer, New York 1908, II, S. 16F; Spencers Brief vom 26. August 1892 an Kentaro Kaneko.