Heinrich Cunow
Heinrich Cunow (* 11. April 1862 in Schwerin; † 20. August 1936 in Berlin) war Hochschullehrer (Ethnologe), Redakteur, Politiker (SPD) und bedeutender marxistischer Theoretiker. Cunow war 1919 für die SPD Abgeordneter der Weimarer Nationalversammlung und von 1921 bis 1924 Abgeordneter des Preußischen Landtags.
Leben
Heinrich Cunow wurde als Sohn eines Bühnenarbeiters in Schwerin geboren. Durch finanzielle Unterstützung eines Verwandten konnte er eine höhere Schule besuchen. Danach machte er eine kaufmännische Lehre in Hannover. Nach Abschluss der Lehre arbeitete er als Buchhalter in einer Tapetenfabrik in Hamburg. Dort begann er, sich politisch innerhalb der SPD zu betätigen. Als Autodidakt studierte er den Marxismus sowie die Philosophie von Kant und Hegel.
Ab 1898 war Cunow Redakteur der Zeitschrift Die Neue Zeit, dem von Karl Kautsky herausgegebenen wissenschaftlichen Organ der Sozialdemokratie. Daneben arbeitete er ab 1902 als Redakteur des SPD-Zentralorgans Vorwärts, wo er neben Heinrich Ströbel als Wortführer der antirevisionistischen Linken galt und sich gegen Kurt Eisner wendete. Ab 1907 folgte die Tätigkeit als Dozent an der Parteischule der SPD in Berlin, neben Franz Mehring, Rudolf Hilferding, Rosa Luxemburg und Heinrich Schulz. Daneben betrieb Cunow schon frühzeitig wissenschaftliche Studien im Bereich der Ethnologie, auf die er die marxistische Methode anwendete.
Im August 1914 war Cunow wie seine Redaktionskollegen im Vorwärts noch gegen die Bewilligung der Kriegskredite. Ab Mitte Oktober 1914 änderte er diese Beurteilung und trat der Meinung der SPD-Mehrheit um Friedrich Ebert bei; ab 1915 formierte sich die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe innerhalb der SPD, die versuchte, die Haltung der Parteimehrheit zum Thema Kriegskredite marxistisch zu begründen, dabei entwickelte sie die Theorie des „Kriegssozialismus“. Cunow veröffentlichte im Hamburger Echo und anderen SPD-Parteizeitungen. Ab Mitte 1915 wurde Die Glocke, eine von Parvus gegründete Zeitschrift, das Organ der Gruppe. Später hielt Franz Neumann Cunows Schrift Parteizusammenbruch? aus dem Jahre 1915 für einen prägnanten Ausdruck für das Vorhandensein sozialimperialistischer Tendenzen in der Sozialdemokratie, d. h. „einer durch und für die Arbeiterklasse erstrebten imperialistischen Politik“.[1]
Im Oktober 1917 spaltete sich die USPD von der SPD ab, ohne Cunow. Er wurde Nachfolger von Karl Kautsky in der Neuen Zeit, die er bis zu ihrer Einstellung 1923 leitete. Cunow teilte in seinem Werk "Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie" mit, dass Kautsky nicht einmal die einfachsten Grundelemente der Marxschen Gesellschaftslehre begriffen habe. 1919 war Cunow SPD-Abgeordneter der Nationalversammlung und später von 1919 bis 1924 Abgeordneter des Preußischen Landtags. Er wurde Mitglied der Programmkommission des Görlitzer Programms der SPD, doch zog sich danach immer mehr aus der aktiven Parteipolitik zurück.
1919 folgte Cunow dem Ruf der Berliner Universität und wurde von Konrad Haenisch, inzwischen preußischer Kultusminister, zum Außerordentlichen Professor für Völkerkunde ernannt. Er publizierte zahlreiche ethnologische Schriften und eine vierbändige Wirtschaftsgeschichte. Bedeutend wurde er als Staatstheoretiker: 1920 und 1921 publizierte er sein Hauptwerk: Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie in zwei Bänden. Darin vertrat er, abweichend von Marx, die Möglichkeit der Entwicklung des Staates im Zuge einer friedlichen „sozialen Revolution“ hin zum sozialen Verwaltungsstaat. Die bolschewistische Revolution 1917 lehnte er als voluntaristische Übernahme des Staates ohne Rücksicht auf den Entwicklungsstand der russischen Gesellschaft ab.
1933 verlor Cunow nach der „Machtübernahme“ der NSDAP sein Ruhegehalt, seine Schriften wurden öffentlich verbrannt. Am 20. August 1936 starb er verarmt und vergessen in Berlin.
Einzelnachweise
- Franz Neumann: Behemoth. Struktur und Praxis des Nationalsozialismus 1933–1944. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1984 (zuerst: Oxford University Press 1942, 1944), ISBN 3-596-24306-8. S. 262.
Veröffentlichungen
- Die Verwandtschaftsorganisation der Australneger, 1894
- Die soziale Verfassung des Inkareichs, 1896 (Volltext)
- Theologische oder ethnologische Religionsgeschichte?, 1910
- Die Technik in der Urzeit, [1912] 1921 (2. Auflage)
- Der Ursprung der Religion und des Gottesglaubens, [1913] 1924 (5. Auflage)
- Zur Urgeschichte der Ehe und Familie, 1913
- Partei-Zusammenbruch? Ein offenes Wort zum inneren Parteistreit, 1915 (Digitalisat)
- Die Marxsche Geschichts-, Gesellschafts- und Staatstheorie. Grundzüge der Marxschen Soziologie, 2 Bände, [1920 + 1921] 1923 (4. Auflage). Band 1: online und Band 2 online bei Archive.org.
- „Klassenkampftheorie“, in: Jahrbuch für Soziologie, H. 2, 1926
- Technik und Wirtschaft des europäischen Urmenschen. Der Bücherkreis, Berlin 1927
- Liebe und Ehe im Leben der Völker. Der Bücherkreis, Berlin 1929
- Geschichte und Kultur des Inkareichs, 1937 (postum).
Literatur
- Helga Grebing: Cunow, Heinrich Wilhelm Carl. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Band 3, Duncker & Humblot, Berlin 1957, ISBN 3-428-00184-2, S. 439 f. (Digitalisat).
- Robert Sigel: Die Lensch-Cunow-Haenisch-Gruppe. In: Beiträge zu einer Geschichte Bayerns im Industriezeitalter. Band 14. Duncker & Humblot, Berlin 1976 ISBN 3-428-03648-4.
- Ferdinand Tönnies: [Rez. von Cunows Allgemeiner Wirtschaftsgeschichte, Bde. 3+ 4], [1932], in Ferdinand Tönnies Gesamtausgabe, Bd. 22, Berlin/New York 1998, S. 489–493.