Gummiinsel
Geschichte
Wegen ihrer Lage in der Nähe der Lahn mit Überflutungen und des früher größten lokalen Arbeitgebers, der Gummifabrik Poppe & Co., wurde das Areal, in dem die Fabrikarbeiter wohnten, als Gummiinsel bezeichnet. Das Gebiet lag damals isoliert vom Rest der Stadt auf der gegenüberliegenden Seite der Lahn. Auch heute noch lässt sich das Gebiet durch seine bauliche Struktur klar von der übrigen (West)stadt abgrenzen.
Das Wohngebiet entstand 1932–1939 als Siedlung aus kleinen zweigeschossigen roten Backsteinhäuschen ohne Unterkellerung, jeweils mit einem kleinen Vorgarten. Errichtet wurden sie als Notquartiere vor allem für Familien jenischer Gewerbetreibender – regionale Fremdbezeichnung „Mäckeser“ –, Schausteller, Altwarenhändler und Nachfahren regionaler Sintifamilien.[1][2]
Im späteren Verlauf wurden diese Häuser saniert, teilweise abgerissen, durch Hochhäuser des Sozialen Wohnungsbaus ersetzt und das Wohngebiet zur Weststadt erweitert. Soweit sie noch bestehen, sind sie heute im Besitz der städtischen Wohnungsgesellschaft, der Wohnbau Gießen GmbH.
Die Gummiinsel galt und gilt als sozialer Brennpunkt. Der Name des Quartiers hatte einen abschätzigen Klang. Die Bevölkerungsstruktur des Gebiets ist bis heute (Stand: 31. Dezember 2012) gekennzeichnet durch eine hohe Konzentration an einkommensschwachen und sozial benachteiligten Haushalten sowie durch eine große ethnische Vielfalt.
Die Weststadt zählt ganz wie das ähnlich strukturierte Problemquartier der Margaretenhütte zu den kinderreichsten Stadtteilen Gießens. Der Anteil von Haushalten, die mit Sozialleistungen am Existenzminimum leben, ist sehr hoch. Aufgrund des Wegfalls von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe bestehen für die Menschen in der Weststadt nur geringe Chancen auf Erwerbstätigkeit. Für einen Teil der Betroffenen bedeutet dies dauerhafte Arbeitslosigkeit und chronische Armut. In der letzten Zeit gab es einen verstärkten Zuzug von Familien mit Migrationshintergrund. Dies verschärft Integrations- und Toleranzprobleme zwischen eingesessener alter Armut, deklassierter neuer Armut und Migrantengruppen.[3]
Unter dem Einfluss der Studentenbewegung entstanden Initiativgruppen, die sich um das Elend in diesem Randbezirk kümmerten und vor allem den vielen kinderreichen Familien Unterstützung anboten. Gemeinwesenarbeit im Stadtteil und umfangreiche Gebäudesanierungen entschärften den sozialen Brennpunkt. Seit Anfang der 1970er Jahre versuchte die Stadt Gießen der fortgesetzten Isolierung und drohenden Verelendung durch städteplanerische Maßnahmen – Zuzug anderer Bevölkerungsgruppen – entgegenzuwirken. Über die Bewohner dieser Quartiers drehte das ZDF in seiner Reihe ZDF.reportage einen Film (Titel: Deutsche Desperados). Von den Bewohnern wurde er abgelehnt. Sie sahen sich falsch dargestellt.
Die Projektgruppe Margaretenhütte e.V. leistet seit Anfang der 1970er Jahre in dem Wohngebiet Henriette-Fürth-Straße Gemeinwesenarbeit. Der Verein folgte einer Bürgerinitiative, die sich in den 1960er Jahren aus Bewohnerinnen und Bewohnern, Studentinnen und Studenten und Bürgerinnen und Bürgern der Stadt Gießen zusammenfand, um die Wohn- und Lebensbedingungen im Brennpunkt grundlegend zu verändern.
Innerhalb der traditionellen Quartierbevölkerung sowohl der Gummiinsel als auch der Margaretenhütte war mindestens bis in die 1980er Jahre ein stark vom Romanes geprägter, als Manisch bezeichneter Soziolekt verbreitet.[4] Heute dürfte das Manische nur mehr in Relikten vorhanden sein und seinen ursprünglichen Charakter als Geheimsprache weitgehend eingebüßt haben.
Mit der Peripherie-Siedlung Eulenkopf (Gießen Nord-Ost) ist ein dritter sozialer Brennpunkt zu nennen, in dem auch Manisch geraggert (= gesprochen) wird.[5]
Literatur und Medien
- Diakonisches Werk Gießen (Hrsg.): Die Weststadt, gruselig und bunt. Ein Beteiligungsprojekt im Rahmen der Gemeinwesenarbeit Gießen-West. Gießen 2004.
- Hans-Günther Lerch: „Tschü lowi“. Das Manische in Gießen. Die Geheimsprache einer gesellschaftlichen Randgruppe, ihre Geschichte und ihre soziologischen Hintergründe. Gießen 1976. ISBN 978-3-89687-485-6
- Fritz Neuschäfer: Die Geschichte der „Jenischen“ und „Manischen“ in Gießen. In: Manfred H. Klös (Bearb.): Ein Stück Gießener Geschichte. Gießen o. J. (1988), S. 51–55.
- Marc Wiese (Regie), Heiner Gatzemeier (Red.): Deutsche Desperados. Das Dorf der Schrottler, Schausteller und Hausierer. 1998. (VHS, 30 Min.)
Einzelnachweise
- Schulprogramm der Grundschule Gießen-West - Ganztagsschule - der Universitätsstadt Gießen (PDF; 945 kB), S. 8
- T. Naumann: Die Gummiinsel in Gießen an der Lahn (Memento des Originals vom 5. April 2009 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. .
- Siehe die Aussagen des Magistrats der Stadt Gießen/Soziale Stadterneuerung: Archivlink (Memento des Originals vom 10. April 2011 im Internet Archive) Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis. .
- Wenn der Tschabo die Spannuckele aufsetzt in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 22. Oktober 2017, Seite R3
- Hans-Günther Lerch: „Tschü lowi …“. Das Manische in Gießen. Die Geheimsprache einer gesellschaftlichen Randgruppe, ihre Geschichte und ihre soziologischen Hintergründe. VVB Laufersweiler Verlag, Gießen 1976.
Weblinks
- Gemeinwesenarbeit Gießen-West, Homepage der Gemeinwesenarbeit Gießen-West
- Landesamt für Denkmalpflege Hessen (Hrsg.): Gesamtanlage XVIII „Gummiinsel“ In: DenkXweb, Online-Ausgabe von Kulturdenkmäler in Hessen