Gesellschaft für Völkerrecht in der Deutschen Demokratischen Republik
Die Gesellschaft für Völkerrecht in der Deutschen Demokratischen Republik war eine juristische Vereinigung in der DDR. Sie wurde am 13. Januar 1965 in Ost-Berlin im Senatssaal der Humboldt-Universität[1] gegründet und bestand bis zur Wiedervereinigung Deutschlands.
Geschichtlicher Hintergrund
Die DDR hatte zur deutschen Frage nach 1945 eine Zwei-Staaten-Theorie entwickelt. Die völkerrechtliche Stellung der DDR war Ende der 1960er Jahre außerhalb des sozialistischen Lagers jedoch umstritten. Die Bundesrepublik Deutschland hatte ihren Alleinvertretungsanspruch auf Grund der Hallstein-Doktrin so erfolgreich verteidigen können, dass die DDR noch Anfang des Jahres 1969 nur zu elf Ostblockstaaten diplomatische Beziehungen unterhielt. Es gelang der DDR erst im Jahre 1969 zu sechs weiteren, von der Sowjetunion politisch und wirtschaftlich abhängigen Staaten der Dritten Welt volle diplomatische Beziehungen aufzunehmen.[2]
Das Völkerrecht war in der DDR maßgeblich von den innerdeutschen Beziehungen und dem Bestreben um internationale Anerkennung geprägt. Im Gründungsjahr der Gesellschaft hatte Außenminister Otto Winzer auf einer Konferenz in Anwesenheit von Präsident Rudolf Arzinger davon gesprochen, dass
- „der Weg zur Wiedervereinigung nur mit der schrittweisen Verwirklichung der Grundprinzipien von Potsdam auf den Gebieten der Abrüstung, der Friedenssicherung und der Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden deutschen Staaten sowie einer echten Demokratisierung in Westdeutschland beginnen könne“[3]
und „die nationale Einheit Deutschlands nicht von ihren friedlichen und demokratischen Voraussetzungen zu trennen“ sei. Im September 1967 wurde ein internationales Kolloquium zusammen mit der Deutschen Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft zum „internationalen Status beider deutscher Staaten und seiner Bedeutung für die europäische Sicherheit“ in Potsdam abgehalten.[4]
Daneben befasste sich auch das DDR-Völkerrecht mit den Konsequenzen des „Dritten Reichs“, beispielsweise dem Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess.[5][6]
Aufgabe
Aufgabe der neu geschaffenen Organisation war hauptsächlich die Politikberatung. Es wurde festgelegt,
- „einen Beitrag zur Erhaltung des Friedens und der Sicherung des Selbstbestimmungsrechts zu leisten, indem sie die Kodifizierung der völkerrechtlichen Prinzipien der friedlichen Koexistenz unterstützt und ihre Durchsetzung fördert.“
Zum Präsidenten wählten die Gründer den an der Leipziger Universität seit 1955 lehrenden Völkerrechtler Rudolf Arzinger.
Die in der Satzung verankerten Zielvorgaben wurden mehrfach entsprechend den politischen Erfordernissen angepasst, insbesondere nach der Aufnahme beider deutscher Staaten in die Vereinten Nationen im Jahre 1973. So beschloss die Plenarversammlung am 10. Februar 1977 eine Satzungsneufassung,[7] welche die Gesellschaft als „wissenschaftliche Vereinigung von Bürgern der DDR“ kennzeichnete,
- „die in Lehre Forschung und Praxis auf dem Gebiet des Völkerrechts, des internationalen Wirtschaftsrechts und des internationalen Privatrechts tätig sind.“[8]
Zudem konnte eine Ehrenmitgliedschaft „an ausländische Staatsbürger“ verliehen werden, darunter an bundesdeutsche Völkerrechtler, „die sich besondere Verdienste bei der Entwicklung des internationalen Rechts oder in der Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern der DDR erworben“ hatten.[9] Die Gesellschaft war von Anfang an bestrebt, enge Kontakte mit der International Law Association (ILA) zu pflegen. So wurde namentlich Wolfgang Seiffert Mitglied der später gegründeten DDR-Sektion der ILA.[10]
Die Plenarversammlung war höchstes Organ der Gesellschaft. Sie musste mindestens einmal innerhalb von vier Jahren einberufen werden. Zwischen den Plenartagungen nahm ein von der Plenarversammlung gewählter Vorstand, der so genannte Exekutivrat, die Aufgaben und Rechte der Gesellschaft wahr. Dieser bestand aus dem Präsidenten, zwei Vizepräsidenten, einem Generalsekretär und seinem Stellvertreter sowie einem Schatzmeister. Letzter Präsident der Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR vor der Wiedervereinigung Deutschlands wurde im Mai 1990 der Völkerrechtler Reinhard Müller (* 1954) von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.[11] Müller folgte dem Völkerrechtler Harry Wünsche (1929–2008), der nach dem Tod von Rudolf Arzinger 1973 Präsident der Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR war.[12]
Mitglieder
Maßgebliche Mitglieder, die sich im Völkerrecht bzw. Internationalen Recht in der DDR profiliert hatten, waren insbesondere Rudolf Arzinger, Bernhard Graefrath, Herbert Kröger, Reinhard Müller, Joachim Peck[13], Walter Poeggel[14], Gerhard Reintanz, Rolf Lieberwirth[15], Wolfgang Seiffert, Hans Spiller, Peter Alfons Steiniger und Harry Wünsche.[16] Sie übten eine leitende Funktion in der Gesellschaft aus, teils als Präsident und teils als Vizepräsident oder zuvor als Generalsekretär wie Harry Wünsche, der bereits in dieser Position dem Exekutivrat der Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR angehörte.[17] Nach Konstituierung des Exekutivrats arbeiteten Hans Nathan, Professor für Zivil- und internationales Privat-Recht sowie seit 1963 Leiter des Instituts für Erfindungs- und Urheberrecht an der Humboldt-Universität zu Berlin und Joachim Schulz[18], Professor für Völkerrecht an der Potsdamer Akademie für Rechts- und Staatswissenschaft der DDR (ASR), in diesem Leitungsgremium mit.
Vizepräsident Wolfgang Seiffert wurde nach seiner Kritik an den geänderten Zielen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands in der Deutschlandpolitik nach 1974 öffentlich nicht mehr erwähnt.
Tätigkeit
Die Gesellschaft für Völkerrecht veranstaltete Tagungen, auf denen über Entwicklungen auf den Gebieten des Völkerrechts, des internationalen Wirtschaftsrechts und des internationalen Privatrechts diskutiert und berichtet wurde.
Sie führte aus Anlass des 400. Geburtstages von Hugo Grotius gemeinsam mit der Rostocker Universität, der DDR-Sektion der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie und der Gesellschaft für Seerecht der DDR am 15. und 16. März 1983 eine wissenschaftliche Tagung in der Ostseestadt durch.[19] Mit der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg führte die Gesellschaft 1988 in Halle (Saale) ein Ehrenkolloquium aus Anlass des 65. Geburtstages von Hans Spiller durch.[20]
Einzelnachweise
- Neues Deutschland, 14. Januar 1965, S. 2
- Seppo Hentilä: Der Einfluss der DDR auf Finnland Vortrag am 16. Juni 2005 in der Stiftung Archiv der Parteien und Massenorganisationen der DDR im Bundesarchiv, Berlin
- Neues Deutschland, 3. August 1965, S. 1/2
- Chronik der DDR 1967 DDR-Lexikon, abgerufen am 8. April 2017
- Nürnberger Prozess, gestern und heute: internationale wissenschaftliche Konferenz aus Anlass des 20. Jahrestages des Beginns des Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses veranstaltet von der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und der Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR am 3. Dezember 1965
- Tageszeitung Neue Zeit vom 4. Dezember 1965, S. 1
- Satzung der Gesellschaft für Völkerrecht in der Deutschen Demokratischen Republik in der von der Plenarversammlung am 10. Februar 1977 beschlossenen Fassung. DNB 208474706
- Handbuch gesellschaftlicher Organisationen in der DDR, Hrsg. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR Potsdam-Babelsberg, Berlin 1985, Stichwort: Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR, S. 87. DNB 850743540
- Handbuch gesellschaftlicher Organisationen in der DDR, Hrsg. Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR Potsdam-Babelsberg, Berlin 1985, Stichwort: Gesellschaft für Völkerrecht in der DDR, S. 88
- „Genosse, wir brauchen dich ...“ Der Spiegel, 15. Mai 1978
- Michael Stolleis: Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft in West und Ost 1945–1990 (= Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band 4). Verlag C. H. Beck, München 2012, S. 583. ISBN 978-3-406-63203-7
- Bock, S./Muth, I./Schwiesau, H.: DDR-Außenpolitik. Ein Überblick. Daten, Fakten; Personen (III), Berlin, 2010, S. 368; ISBN 978-3-643-10559-2
- Zeitweilig Vizepräsident, geboren am 30. November 1915 in Bromberg, gestorben am 4. Dezember 1979; Catalogus professorum lipsiensium
- Professorenkatalog der Universität Leipzig catalogus professorum lipsiensium Zeitraum: 1945-1968; Juristenfakultät
- Breithaupt: Rechtswissenschaftliche Biographie DDR. 1993, S. 365 [Stichwort: Lieberwirth, Rolf]; DNB 940131013
- Lebenslauf Chemnitz-Geschichte: Prof. Harry Wünsche
- Neues Deutschland, 15. Januar 1966, S. 6
- Laut "Zeit online" wurde ihm seine "wissenschaftliche Ehrlichkeit zum Verhängnis"; Interview mit Joachim Schulz 1990.
- Nachricht von ADN, veröffentlicht in Tageszeitung Neues Deutschland vom 19. März 1983, S. 13
- Thema: „Internationales Wirtschafts-, Finanz- und Währungsrecht und ökonomische Sicherheit“; Herausgeber der Veröffentlichung: Reinhard Müller; ISBN 978-3-86010-201-5