Friedrich Liebling
Friedrich Liebling (* 25. Oktober 1893 in Augustowka, Galizien, Österreich-Ungarn, heute Awhustiwka (russisch: Awgustowka), Rajon Kosowa, Oblast Ternopil, Ukraine als Salomon Liebling; † 28. Februar 1982 in Zürich, Schweiz) war ein nicht-akademisch[1] ausgebildeter Psychologe aus der Schule der Individualpsychologie Alfred Adlers.
Biographie
Salomon Liebling wurde als ältester Sohn eines Gutsverwalters in Galizien geboren. Als er fünf Jahre alt war, starb sein Vater. So bald wie möglich musste er sich an dessen Stelle um seine jüngeren Geschwister kümmern. Gesicherte Informationen über seine Jugend sind spärlich. Er soll 1913 nach Wien gekommen sein, um ein Medizinstudium aufzunehmen. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete er sich jedoch als Freiwilliger und kämpfte vier Jahre an der Ostfront. Die Kriegserlebnisse machten ihn zum Pazifisten, der er zeitlebens blieb. Gegen Ende des Krieges änderte er seinen Vornamen und kehrte als Friedrich Liebling nach Wien zurück. Hier lernte er den „Friedenskrieger“ und Anarchisten Pierre Ramus kennen, der sein politisches Denken stark beeinflusste. Liebling wurde in der von Ramus initiierten „Gruppe Kropotkin“ aktiv und begann, sich für die tiefenpsychologischen Grundlagen von Herrschaft zu interessieren.
Er wurde Schüler von Alfred Adler. Es war die Zeit des Roten Wien, in der Adlers Individualpsychologie, neben Freuds Psychoanalyse, dank ihrer Erfolge bei der Wiener Schulreform große Verbreitung fand. 1924 gründete Liebling die erste Praxis in der Fröbelgasse 19 in Wien. Der Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich veranlasste ihn 1938 zur Flucht in die Schweiz. Er und seine Familie fanden zuerst Zuflucht in Schaffhausen, wo er nur in relativer Sicherheit lebte, denn erst 1950 erhielt er die formelle Aufenthaltsbewilligung. 1951 zog er nach Zürich und begann mit dem jungen Josef Rattner, den er als Pflegesohn adoptiert hatte, den Aufbau der „Psychologischen Lehr- und Beratungsstelle“, die später als „Zürcher Schule für Psychotherapie“ bekannt wurde.
Seine Mutter und zwei Geschwister blieben in Wien und wurden im KZ ermordet.[2]
Nach seinem Tod gründeten einige der früheren Mitarbeiter und Studenten, darunter die spätere Leiterin Annemarie Buchholz-Kaiser, den Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM).
Praxis und Werk
Die theoretischen Grundlagen seiner Praxis stützten sich auf die bis dahin gesicherten Erkenntnisse der tiefenpsychologischen Forschung. In der Individualpsychologie Alfred Adlers sah Liebling den fruchtbarsten Ansatz zur Weiterentwicklung der psychologischen Forschung. Um dem einzelnen Menschen in seiner inneren Not helfen zu können, versuchte er jenseits von jedem „Schulstandpunkt“ alle Einsichten und Erfahrungen der modernen Seelenkunde über den Menschen (wie Neopsychoanalyse, Kulturanthropologie usw.) für seine tägliche Praxis nutzbar zu machen. Er verband psychologisches Wissen mit dem Wissen um kulturelle Einflüsse, geschichtliche Entwicklungen und Geistesströmungen.
«Der Mensch, der zu uns kommt, der Mensch, der Schwierigkeiten hat in seinem Leben, mit seiner Frau, mit seinem Mann, seinem Kind, seinem Nachbarn, seinem Chef oder seinem Untergebenen, der Mensch, der beim Lernen Probleme hat, oder sonst in seinem Leben nicht zurecht kommt, der ist bei uns kein «Fall», kein «Patient» und kein «Klient». Er ist auch nicht krank. Nein, er ist in seiner Kindheit falsch informiert worden. Und was wir machen? Wir informieren ihn richtig. Das heisst, wir erklären ihm die Grundlagen der modernen Psychologie. Er erforscht seine Lebensgeschichte, erkennt, wie er geworden ist, welche Meinungen er über das Leben, den Mitmenschen und sich hat. Indem wir ihm die Natur des Menschen erklären, beginnt er selbst zu experimentieren. (…) Wenn sie zu mir kommen, müssen sie selbst zu denken beginnen. (…) Das schwierige an der Psychologie ist, die Veränderung der Gefühle.»
Im Sinne einer wirksamen Prophylaxe gegen die seelische Not förderte er die Volksaufklärung und die Schulung der Menschen im Sinne der Psychohygiene. Zusammen mit Josef Rattner verfasste er unzählige Artikel in Zeitschriften und Büchern, gründete den Verlag Psychologische Menschenkenntnis und organisierte wöchentliche berufsspezifische Kurse und Seminarien für Psychologen, Ärzte, Lehrer und Eltern sowie mehrmals jährlich interdisziplinäre Tagungen und Kongresse. In der Tradition von Alfred Adler wurden Kinder-, Jugend- und Familienferien durchgeführt, in denen gemeinsam gelernt wurde. In einer jahrzehntelangen Entwicklung entstand unter der Leitung von Friedrich Liebling eine Beratungsstelle. Gleichzeitig war die Zürcher Schule für Psychotherapie eine Forschungs- und Ausbildungsstätte. Von den späten 1960er bis in die 1980er Jahre war die Zürcher Schule die größte psychologische Bewegung der Schweiz mit zuletzt gut 3000 Teilnehmern im In- und Ausland.[4]
Werke
- Aufsätze. Verlag Menschenkenntnis, Zürich 1992, ISBN 3-906989-24-0.
- Die Lehrer und ihre Sorgen. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1983, ISBN 3-85999-006-3 (Neue Wege in der Psychologie. Bd. 3).
- Die Eltern und ihre Sorgen. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1982, ISBN 3-85999-005-5 (Neue Wege in der Psychologie. Bd. 2).
- Lebensprobleme im Lichte der modernen Psychologie. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1980, ISBN 3-85999-001-2 (Neue Wege in der Psychologie. Bd. 1).
Literatur
- Marianne Schuler: Die Zürcher Schule. Und der Kampf um Friedrich Lieblings Vermächtnis. Zürich: Edition 381. 2019. ISBN 978-3-907110-06-5
- Peter Boller: Liebling, Friedrich. In: Historisches Lexikon der Schweiz.
- Friedrich Liebling 1893–1982 zum Gedenken. Verlag Psychologische Menschenkenntnis, Zürich 1983, ISBN 3-85999-016-0.
- Reinhard Müller: Friedrich Liebling 1893–1982, Psychologe und Psychotherapeut. In: Archiv für die Geschichte der Soziologie in Österreich. Newsletter Nr. 17, Graz 1997, S. 17–19.
- Gerda Fellay: La conception de l’éducation de Friedrich Liebling (1893–1982). Peter Lang, Bern/Berlin/Frankfurt am Main/New York/Paris/Wien 1997, ISBN 3-906754-65-0, 2 Bände.
- Josef Rattner: Friedrich Liebling und die Gruppentherapie. In: G. Mackenthun und A. Lévy (Hrsg.): Gestalten um Alfred Adler – Pioniere der Individualpsychologie Verlag Königshausen & Neumann, Würzburg 2002, S. 175–202, ISBN 3-8260-2156-8.
- Gerda Fellay: Friedrich Liebling. Psychologue libertaire. Lyon: Atelier de création libertaire 2004, ISBN 2-905691-93-X.
- Moritz Grasenack (Hrsg.): Die libertäre Psychotherapie von Friedrich Liebling. Edition AV, Lich 2005, ISBN 3-936049-51-3.
- Peter Boller: „Mit Psychologie die Welt verändern“: Die „Zürcher Schule“ Friedrich Lieblings und die Gesellschaft 1952-1982. Chronos, Zürich 2007, ISBN 3-0340-0853-8. (Zuerst unter dem Titel: Mit Psychologie die Welt verändern? Friedrich Lieblings „Zürcher Schule“ 1952-1982. Eine psychologische Schule und soziale Bewegung in biographischen Interviews als Dissertation Basel 2005).
- Urs Hafner: Psychologie als Allheilmittel, Rezension zu Peter Boller, Mit Psychologie die Welt verändern, Neue Zürcher Zeitung (NZZ), 16. November 2007
- Caprez Hans: Der Streit um Lieblings Geld und Geist: Ein Denkmal wird angesägt. In: Der Schweizerische Beobachter. Nr. 4,1988. Glattbrugg 26. Februar 1988, S. 10–13.
- Marianne Truttmann, Jutta Gensch, Redaktion: Schüler und Mitarbeiter von Friedrich Liebling, Was einem Menschen bei uns passieren kann, Beitrag zum 24. Kongress der Zürcher Schule für Psychotherapie vom 30. Juli bis 13. August 1983 ("Weissbuch")
- Sebastian Borger, "Dieses seligmachende Grinsen", Der Spiegel, Nr. 43/1992, S. 87–105
- Frank Nordhausen, VPM - Warnung vor einer Psychosekte, Die Zeit, Nr. 43, 22. Oktober 1993, S. 85 f.
- Frank Nordhausen, Liane v. Billerbeck, Psycho-Sekten Die Praktiken der Seelenfänger, für die Fischer TB-Ausgabe aktualisierte und überarbeitete Fassung 1999, hier: Der verdeckte Kampf Der Verein zur Förderung der Psychologischen Menschenkenntnis (VPM), S. 267–306
Weblinks
Einzelnachweise
- Bernhard Handlbauer, in: Die Entstehungsgeschichte der Individualpsychologie Alfred Adlers. Geyer-Edition, Wien 1984, Zitat, Seite 266: Spätestens ab den zwanziger Jahren zeichnete sich jedoch eine Entwicklung ab, die zu einem Charakteristikum für die Individualpsychologie werden sollte, nämlich die Dominanz der Praxis über die Theorie.
- Sorg, E.: Lieblings-Geschichten. Weltwoche Verlag, Zürich 1991, S. 127.
- Beratungsstelle für Lebensfragen: Was das besondere an der Zürcher Schule ist?
- Verlagstext zu Boller (siehe Literatur).