Franz Müller (Künstler)

Franz Müller (* 6. Februar 1957 i​n Wolhusen i​m Kanton Luzern) i​st ein Schweizer Aktions-, Konzept- u​nd Performance-Künstler. Er h​at von 1988 b​is 2002 a​ls Idee-Artist i​n der Schweiz u​nd im benachbarten Ausland künstlerische Projekte i​m öffentlichen Raum realisiert. 2002 h​at er d​ie Tätigkeit für beendet erklärt u​nd seinen Nachlass a​ls Leihgabe d​em Kunstmuseum Luzern übergeben.

Franz Müller

Leben

Franz Müller wuchs mit zehn Geschwistern auf einem kleinen Bauernbetrieb in Wolhusen auf. Während der Lehre zum Hochbauzeichner entdeckte er den Dadaismus, der die Lust für das Spielerische und Irritierende geweckt haben mag. Kurz nach der Ausbildung zum Hochbauzeichner begann Franz Müller mit seiner Tätigkeit als „Idee-Artist“. In den ersten Jahren waren das sporadische Aktionen und Ausstellungen in diversen Kontexten. Ab 1988 widmete er sich als Idee-Artist ganz und gar der Kunst im öffentlichen Raum. Mit seinen «Berührungsplastiken» hat er während Jahren in zahlreichen Schweizer Städten und Gemeinden gewirkt. 1993 wurde er mit dem Luzerner Lebensraumpreis ausgezeichnet.[1] 1997 erhielt er von der Visarte Zentralschweiz[2] einen dreimonatigen Atelieraufenthalt in der Cité Internationale des Arts in Paris zugesprochen.

Nach 14 Jahren Tätigsein a​ls Idee-Artist machte Franz Müller 2002 e​inen Schnitt: Er übergab i​m Rahmen e​iner Performance d​em Kunstmuseum Luzern z​wei blaue Aktenschränke m​it seinem Nachlass.[3] Dann wanderte e​r nach Irland aus, w​o er einige Monate l​ang lebte.

Seit seiner Rückkehr i​st er a​ls Hauswirtschafter u​nd Betreuer i​m Sonderpädagogischen Zentrum schuLpLus i​n Oberägeri tätig.[4] Der Erfahrungsschatz a​us seiner Zeit a​ls Idee-Artist i​m öffentlichen Raum fliesst j​etzt ein i​n den Umgang m​it verhaltensschwierigen Kindern.

Idee-Artist Franz Müller in Aktion

Werk

Franz Müller h​at nie Kunstwerke hergestellt, d​ie erworben u​nd gesammelt werden konnten. Im Zentrum seiner Aktionen standen d​ie Kommunikation m​it der interessierten Bevölkerung, d​as Auslösen v​on Prozessen, d​ie Erfahrung d​es Moments. Die «soziale Plastik» v​on Joseph Beuys w​ar ein wichtiger Begriff für ihn. Er weitete i​hn für s​ich zur «Berührungsplastik» aus. Franz Müller stellte s​ich mit dem, w​as er machte, z​ur Verfügung u​nd integrierte a​lle Personen, d​ie mit i​hm in Kontakt kamen, i​n seine Berührungsplastik. Er w​ar anwesend, wartete a​uf öffentlichen Plätzen.[5] Man konnte m​it ihm i​ns Gespräch kommen o​der ihn einfach wahrnehmen. Manchmal t​rug er e​ine Augenbinde m​it Aufschriften w​ie «Ich warte» o​der «Augenblick bitte». Er irritierte m​it seiner blossen Anwesenheit u​nd provozierte Reaktionen. Franz Müller w​ar das recht. Jeglicher Austausch interessierte ihn.[6][7]

Müller h​at Städte «befallen» u​nd sich i​m orangen Overall a​uf öffentliche Plätze gelegt.[8] 1991 machte e​r diese Aktion i​n Luzern mitten i​n der Altstadt Luzern u​nd breitete 30 weitere orange Anzüge i​n einer Linie a​uf dem Kornmarktplatz aus. Im gleichen Jahr startete e​r das vielbeachtete Projekt «Ist Kunst brotlos Ist Brotlos Kunst»: Während e​ines halben Jahres besuchte e​r einen Tag l​ang jede d​er 107 Gemeinden d​es Kantons Luzern u​nd verteilte Brötchen. Weitere Berührungsplastiken u​nd Performances initiierte e​r in Chur, Vaduz, Binningen, Sarnen, Savognin o​der im Tösstal.

Ein anderes Mal verteilte e​r einen Roman v​on Friedrich Glauser Seite u​m Seite a​n Passanten, m​it der Bitte, s​ie abends z​u einer bestimmten Zeit z​u lesen. So w​urde innert e​iner Minute e​in ganzes Buch gelesen. Auf d​er Luzerner Reussbrücke l​iess er s​ich von Touristen m​it einer Polaroidkamera fotografieren. Die Bilder hängte e​r an e​ine Schnur, d​ie 97 Meter l​ang über d​ie Brücke gespannt war. Schritt u​m Schritt bewegte e​r sich vorwärts, b​is am Ende d​ie ganze Schnur m​it Fotos behängt war.

1993 erhielt e​r für s​ein geplantes Projekt „Gedankengänge“ d​en Luzerner Lebensraumpreis i​n der Höhe v​on 5000 Franken. Da dieser Betrag für e​ine Realisierung n​icht reichte, lancierte Müller a​n der Übergabefeier s​eine Berührungsplastik „Verdoppelung“. Er splittete d​as Preisgeld v​on 5000 Franken auf, verteilte 100 eingeladenen Gästen e​in Couvert m​it 50 Franken u​nd einem Einzahlungsschein. Mit d​er Aufforderung, d​as Geld z​u verdoppeln, i​hm also 100 Franken einzuzahlen, machte e​r die Mitpreisträger z​u «Teil-Gebern u​nd Teil-Geberinnen».[1][9]

Das g​ross angelegte Projekt «Gedankengänge d​urch den Luzerner Lebensraum» realisierte Müller 1994: Jeweils e​inen Monat l​ang hielt e​r sich i​n sieben Luzerner Gemeinden auf. Er w​urde zum Bestandteil d​es Ortes u​nd versuchte, d​ie Ortsansässigen m​it auf d​en Gedankengang z​u nehmen. Aus d​er Essenz seiner Aufenthalte gestaltete Müller m​it dem Journalisten Pirmin Bossart sieben Ortsbilder, d​ie in d​er Luzerner Zeitung i​n spezieller Aufmachung ganzseitig erschienen.[10][11] Eine weitere, v​iel beachtete Berührungsplastik g​ing 1995 i​n der Kornschütte Luzern über d​ie Bühne: Franz Müller h​atte im Rahmen e​iner Ausstellung d​es Künstlerverbandes Visarte sämtliche i​m Kanton Luzern wohnhaften Personen m​it dem Namen Franz Müller eingeladen. Alle 71 Luzerner Franz Müller, d​ie der Idee-Artist vorgängig besucht u​nd fotografiert hatte, erschienen. In e​iner stimmigen Performance wurden d​ie Fotografien a​n einen Ballon gehängt u​nd die 71 Ballone mitten i​n der Altstadt Luzern gemeinsam i​n die Luft gelassen.[12]

Wiederholt h​at sich Müller a​uch der Post bedient, u​m mit besonderen Mail-Art-Projekten Kunst i​m öffentlichen Raum herzustellen. Im Sommer 1996 besuchte e​r 120 Poststellen i​n der Schweiz u​nd realisierte e​ine „Ausstellung für d​ie Dauer e​iner A-Post-Länge“.[13] In seiner Mail-Art gestaltete e​r individuelle Briefumschläge m​it selbst hergestellten Stempeln. Er kreierte s​ogar ein eigenes Wertzeichen (Briefmarke m​it seinem Konterfei), m​it dem e​r nicht zuletzt d​as juristische Postverständnis ritzte u​nd Diskussionen auslöste. Dessen ungeachtet konnte Müller a​n einer Mail-Art Ausstellung i​m PTT-Museum a​uch seine Werke zeigen.

2002 h​at Franz Müller e​inen Schlussstrich u​nter seine Existenz a​ls Idee-Artist gezogen. Mit d​em Schlussakt «Nur Konsequent» überstellte e​r am 18. Dezember 2002 seinen Nachlass i​m Rahmen e​iner Performance i​ns Kunstmuseum Luzern u​nd setzte d​rei Personen a​ls Nachlassverwalter ein.[14][15] In d​en Schränken befinden s​ich 114 Dossiers m​it Texten, Skizzen u​nd Ideen, d​ie der Idee-Artist jeweils z​u jedem seiner Projekte angelegt hat. Es s​ind die einzigen Überbleibsel v​on Franz Müllers Aktionen. Seine Motivation i​n all d​en Jahre w​ar immer gewesen, d​en Alltag u​nd bestehende Strukturen anders z​u nutzen u​nd dadurch z​um Wahrnehmen u​nd Reflektieren z​u bewegen.

In d​er Silvesternacht 2002/2003 reiste Franz Müller für unbestimmte Zeit n​ach Irland. Er l​ebte ein p​aar Monate a​uf den Aran Islands, w​o er v​iel fotografierte u​nd Postkarten herstellte. Nach seiner Rückkehr i​st Franz Müller i​n einen normalen Arbeitsalltag eingetaucht, w​o seine Haltung unscheinbar weiterwirkt. Die Kunst i​st in d​en Alltag integriert.[16] Es bleibt offen, ob, w​ann und w​ie sie e​ines Tages wieder a​ls solche erkennbar i​n Aktion tritt.

Projekte (Auswahl)

  • 1988 Regenkarte. Es regnet einfach, 10'000 Stück, Aktion
  • 1988 Befall. Aktion Skulpturenausstellung Stadt Luzern
  • 1989 Befall. 10 Schweizer Städte werden von Franz Müller in Orange befallen
  • 1989 Überbrückung. Sofortfotofortbewegt, Aktion Reussteg
  • 1990 Berührung 90. Luzern-Wien, Aktion
  • 1989/90 Fütterung der Schwäne. Hinweis eins, Hinweis zwei, Kunstmuseum Luzern und Reussteg gleichzeitig, Aktion
  • 1990 Sommeratelier Junge Europäische Kunst, Hannover, Ausstellung/Aktion
  • 1991 Ist Kunst Brotlos Ist Brotlos Kunst. 107 Tage im Luzerner Lebensraum, Aktion
  • 1991 Sie dürfen. Teilnahme an den Luzerner Nationalratswahlen, Aktion.
  • 1992 Vorsicht Kunst. Ausstellung Binningen, Aktion Anwesend
  • 1992 Augenblick Bitte. Eine Berührungsplastik im Churer November
  • 1992 Buch überarbeitet. Biblioteca Nacionale de Lisboa, Portugal
  • 1993 „Se(h)gantini“ – Alpines Bildersehen auf Tussagn über Savognin. Text und Postkarten Aktion
  • 1993/94 Warten. Eine Wallfahrt im Schweizer Dezember, Aktion
  • 1994 Sieben Ortsbilder. Gedankengänge durch den Luzerner Lebensraum. Eine Berührungsplastik. Schwarzenbach, Adligenswil, Sursee, Hochdorf, Rothenburg, Altbüron, Escholzmatt.
  • 1994 Wortwechsel. Lesung im Kleintheater Luzern
  • 1994 Heute, morgen und übermorgen ist das Dorfschulhaus ein Aquarium
  • 1994 Persönlich. Talkshow Radio DRS 1, Lesung, eine Berührungsplastik
  • 1994 Schlaraffenland. Sabotage der virtuellen Welten, Wettbewerb IG Medien Deutschland, Preisträger
  • 1994 Ausstellung Mail-Art im PTT-Museum Bern.
  • 1995 71 mal Franz Müller in der Kornschütte Luzern. Ausstellung und Aktion
  • 1995 Kunstwinter Luzern. Stellen auch Sie ihre Kunst kalt, Aktion
  • 1996 Gib Zug Störkunst. Kunst am Bau, Wettbewerb
  • 1996 Postsommer 96. Eine Berührungsplastik. 120 Poststellen-Besuche
  • 1996 Der mit dem Teller in der Hand. Eine Berührungsplastik in Solothurn
  • 1997 Szene Luzern in Bern. Neun Interventionen. Luzerner Kunstszene in der Reithalle Bern
  • 1998 Geben Sie Ihre Stimme dem Kunstwerk, das Ihnen nicht gefällt. Eine Berührungsplastik in 1000 Teilen, Jahresausstellung Kunstmuseum Luzern
  • 2000 Nichts und wieder Nichts. Umnutzung Kloster Rathausen. Wettbewerb.
  • 2001 Kann sein, dass Ihr Gang zur Kunst Kunst ist. Aktion zur Aargauer Kunstpreisübergabe
  • 2002 Nachlass Franz Müller. Deponierung im Kunstmuseum Luzern.Nachlassverwaltung, Nachlass-Aktion Nur Konsequent*2013 Museum Bruder Klaus, Sachseln. Ausstellung und Aktion

Auszeichnungen

  • 1993 Auszeichnung Luzerner Lebensraumpreis
  • 1994 Preisträger im Kunstwettbewerb Schlaraffenland. Sabotage virtueller Welten. IG Medien Deutschland
  • 1996 BZ Solothurn, vier Monate Stipendium als Stadtkünstler
  • 1997 Visarte-Atelierpreis: Dreimonatiger Aufenthalt in der Cité Internationale des Arts, Paris

Quellen

  • Verzeichnis Nachlass Franz Müller, 2002
  • Katalog Franz Müller, 1988–1994
  • Katalog Stichwort Franz Müller, 1994–1997
  • Stadtkunst Luzern. 2. Regionale Skulpturen-Ausstellung auf den Plätzen der Stadt Luzern, 1988
  • Deutsche Messe AG (Hg.): Sommeratelier Junge Kunst in Europa, Kinkhardt & Biermann, Hannover, 1990, S. 234/35
  • Kurt Schwitters: Franz Müllers Drahtfrühling, edition nautilus, 2000
  • Kunstgruppe der Liga für Kulturkrämpfe im Grenzdreieck (Hg.): Signale. Rheinzeichen, Vaduz Sevelen, 1991, S. 20–23
  • Kunstverein Binningen (Hg.): Vorsicht Kunst, 30 Jahre Kunstverein Binningen, 1990
  • Die Herzeiger, in: Schweizer Familie, Nr. 13, April 1993, S. 10/11
  • Katalog Freilichtausstellung Suat Tösstal, 1993
  • Kunstück (Hg.): Schlaraffenland. Sabotage virtueller Welten, IG Medien Deutschland, 1994, S. 28
  • Wortwechsel mit Franz Müller, Idee-Artist, in: Szene Kleintheater, Oktober/November 1994
  • Arbeitskreis Kultur Marktgemeinde Pöllau (Hg.): Kunstweg. «Warten – eine Wallfahrt durch den Schweizer Dezember». Alternative Kunst und Kultur, Pöllau, Österreich, 1994

www.franzmueller-ideeartist.ch (in Arbeit)

Einzelnachweise

  1. Dominik Thali: Wie aus einem Preisträger deren 100 wurden. In: [[Luzerner Zeitung#«Luzerner Neu[e]ste Nachrichten» (LNN)|Luzerner Neu[e]ste Nachrichten]]. 22. November 1993, S. 24.
  2. Visarte (Memento des Originals vom 5. Mai 2018 im Internet Archive)  Info: Der Archivlink wurde automatisch eingesetzt und noch nicht geprüft. Bitte prüfe Original- und Archivlink gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.@1@2Vorlage:Webachiv/IABot/www.visarte.ch
  3. Verschlossener Nachlass: Passiert. In: Die Wochenzeitung. Nr. 50, 12. Dezember 2002.
  4. Schulplus.ch.
  5. Matthias Haehl: Ich bin Franz Müller – und wer sind Sie? In: LNN. 4. April 1992, S. 35/36.
  6. Ein Ideenspinner unter Passanten. In: Der Bund. 5. Mai 1995, S. 8.
  7. Ideen muss man haben! In: Wir Brückenbauer. 16. Januar 1994, S. 29.
  8. Der Mann mit den 30 Anzügen irritierte die Müllabfuhr. In: Hannoversche Allgemeine Zeitung. 15. August 1990, S. 11.
  9. Neue Blickwinkel auf Ökologie und Kultur. In: Luzerner Zeitung. 22. November 1993, S. 9.
  10. Pirmin Bossart: Der Gedankengänger ist wieder unterwegs. In: Luzerner Zeitung. 13. September 1994, S. 11.
  11. Die 7 Ortsbilder, Exemplar 1/10, erschienen am 30. April/7. Mai, 28. Mai/11. Juni, 2. Juli/9. Juli, 24. September/1. Oktober, 29. Oktober/5. November, 3. Dezember/10. Dezember 1994 sowie am 13. Januar/14. Januar 1995 in der Luzerner Zeitung.
  12. Gestatten – mein Name ist Franz Müller. Ausstellung Kornschütte. In: Luzerner Zeitung. 25. November 1995, S. 11.
  13. Kunst in A-Post-Zeiträumen. In: Appenzeller Zeitung. 8. Oktober 1996, S. 3.
  14. Kurt Beck: Meine Arbeit ist ausgeschöpft. In: Neue Luzerner Zeitung. 18. Dezember 2002, S. 11.
  15. Im guten Sinne genug. In: Das Kulturmagazin. Dezember 2002.
  16. An einem Ort der «Kunst des Alltages» gelandet. In: Entlebucher Anzeiger. 27. Juli 2007, S. 9.
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