Ernesto Neto
Ernesto Saboia de Albuquerque Neto (* 1964 in Rio de Janeiro, Brasilien) ist ein brasilianischer bildender Künstler, der durch raumgreifende Skulpturen aus Stoff international bekannt wurde.
Leben
Der Vater Netos war Bauingenieur, seine Mutter Landschaftsarchitektin. Nach Ansätzen, Ingenieurwissenschaften und Astronomie zu studieren, begann Ernesto Neto das Studium in einer Bildhauerklasse der renommierten Escola de Artes Visuais do Parque Lage.[1] Neto lebt und arbeitet in Rio de Janeiro.[2]
Werk
Ein großer Teil der Werke Ernesto Netos besteht aus raumgreifend biomorphen Gebilden, die aus seinem Arbeitszusammenhang kommend, für einen bestimmten Ausstellungsort umgesetzt werden. Oft sind sie als Räume aus Textilien angelegt, in die Besucher sich hineinbegeben können.[2] Neto verwendet dafür elastische Gewebe wie Tüll aus Nylon oder Lycra. Meist werden die textilen Körper, Räume und Höhlen durch Ballast von einer Deckenebene nach unten aufgespannt. Als Ballast dienen Gewürze, die ihren Duft verströmen, oder Sand und Reis, aber auch Glasperlen, Kunststoffe und Formen aus Gips.[3][4]
Die teils transparenten textilen Räume transformieren und überspielen die umgebende konventionelle Architektur. Die damit entstehende sinnliche Welt vermittelt das Gefühl, sich in einem Körperinneren zu befinden, dessen Häute Wärme und Geborgenheit vermitteln.[2] Sie spricht nicht nur das Sehen, sondern auch das Hören, den Tastsinn und das Riechen an.[5] Die Architektur der Ausstellungsräume wird so verwandelt, dass die Interaktion zwischen den Benutzern gefördert und verändert wird.[5][2] Neto zielt auf eine Kunst, die Menschen vereint und ihnen hilft, mit anderen zu interagieren. Sie soll Grenzen nicht als Hindernisse zeigen, sondern als Ort der Empfindungen, des Austausches und der Kontinuität.[2] Die spielerisch wirkenden und spielerisch benutzbaren Räume sind präzise kalkuliert, einschließlich der Festigkeit des Stoffes, der Gewichte und Gegengewichte und der Zugkräfte.[6]
Eine weitere Werkgruppe sind die Humanóides, Skulpturen aus Lycra, gefüllt mit Gewürzen und Styroporpellets, die von Ausstellungsbesuchern angezogen werden können. Sie umhüllen und ergänzen den menschlichen Körper so durch Massen, dass Bewegung neu erfahren wird.[7][5]
Ergänzend dazu entstehen weniger textilbetonte Werke. Teil der Ausstellung The Edges of the World in der Hayward Gallery im Jahr 2010 war eine benutzbare Badeskulptur als Aussenskulptur.[2]
Die organisch weichen Formen der Arbeiten Netos regen dazu an, sie als autonome, poetische und humorvolle Organismen zu entdecken. Dennoch bezieht er sich auf klassischen Fragen der Bildhauerei: Raum, Körper, Schwerkraft, Masse und Licht.[5][8]
Bei großer Besucherzahl müssen die Werke betreut und repariert werden.
Anthropodino
Anthropodino könnte eine psychedelische Fantasie der biomorphen Werke von Miró und Gaudí sein. Neto bezieht sich damit jedoch ebenso auf brasilianische Vorgänger wie Lygia Clark und Hélio Oiticica. Die Skulptur entsteht aus zwei verbundenen Ebenen:
Vom Boden erhebt sich ein Skelett aus knochenähnlich zugeschnittenen Sperrholzformteilen, wie ein dreidimensionales Puzzle ohne Schrauben oder Kleber. Es bildet, zeltartig mit durchsichtig blass-gelbem Stoff überspannt, einen zentralen Raum, zu dem die Zuschauer durch ebenso über Holzrippen gezogene blau-rosafarbene Stofftunnel gelangen. Nach Abgabe der Schuhe sinken sie zur Entspannung in eine lilafarbene Kissenlandschaft oder lassen sich in ein mit Kugeln gefülltes Becken fallen.
Über der an den Boden gebundenen Architektur schwebt ein Baldachin aus weißem Stoff, aus dem Geweberöhren zur unteren Haut der Struktur verbinden. Andere Stoffröhren hängen wie lange, an den Enden gefüllte Strümpfe im Raum. Die Füllung aus gemahlenen Gewürzen wie Kurkuma, Nelken, Ingwer, schwarzer Pfeffer und Kreuzkümmel verbreitet ein Aroma, das in einer kindlich-erotischen Dimension an die Küche der „Großen Mutter“ erinnert, während der durchsichtige Stoff erotische Phantasien über Nylonstrümpfe in den Sinn ruft.[9]
Ausstellungen
Ernesto Neto stellte seit 1988 in Brasilien aus und wurde ab 1995 mit Einzelausstellungen im Ausland bekannt. Gemeinsam mit Vik Muniz vertrat er Brasilien im nationalen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2001 und in der internationalen Gruppenausstellung Arsenale.
- 2002: Directions – Ernesto Neto, Hirshhorn Museum and Sculpture Garden, Washington DC[10]
- 2002: Ernesto Neto, Kunsthalle Basel[5]
- 2005: Tropicália: A Revolution in Brazilian Culture, Museum of Contemporary Art, Chicago (Beteiligung)[11]
- 2005: Tractatus IDeuses, Sigmund Freud Museum, Wien[12]
- 2006: Leviathan Thot, Panthéon (Paris)[13][14]
- 2006: Globiobabel nudelioname landmoonaia, Daros Latinamerica Collection, Zürich[15][16]
- 2009: Anthropodino, begehbare Skulptur in der Wade Thompson Drill Hall, Park Avenue Armory, New York[3][17]
- 2010: The Edges of the World, Hayward Gallery London[2]
- 2010: Navedenga, Museum of Modern Art (MoMA), New York.[18]
- 2012: O Bicho Suspenso na Paisajem, Faena Arts Center, Buenos Aires[19]
- 2014/2015: Ernesto Neto, Arp Museum Bahnhof Rolandseck, Remagen[20]
- 2015: Ernesto Neto, Kunsthalle Krems, Niederösterreich
- 2018: GaiaMotherTree, eine Ausstellung der Fondation Beyeler in der Bahnhofshalle Zürich Hauptbahnhof[21]
- 2019: Ernesto Neto, Museum der bildenden Künste Leipzig
Ehrungen
Nach der Ausstellung Leviathan Thot im Panthéon Paris im Jahr 2006 wurde Neto zum Ritter des Ordre des Arts et des Lettres ernannt.[14]
Literatur
- Germano Celant, Vik Muniz, Ernesto Neto. In occasione della serie di mostre "Brasil in Venezia/Brasil in Venice", tenutesi nel Padiglione Brasile alla Biennale di Venezia, nel Palazzo Fortuny, nella Peggy Guggenheim Collection e nella Chiesa di San Giacomo dall'Orio a Venezia dal 6 giugno al 4 novembre 2001; in occasione della 49esima Biennale di Venezia. Saõ Paulo, 2001. (Italienisch)
- Ralf Christofori, André Bideau, Peter Pakesch, Christina Végh, Raumkörper, Netze und andere Gebilde. Ausstellungskatalog Kunsthalle Basel, 26. August – 12. November 2000. ISBN 3-7965-1412-X
- Hans-Michael Herzog, Valeska Soares, Daros-Latinamerica AG: Seduções: Installations. Hatje Cantz, Ostfildern, 2006, ISBN 978-3-7757-1884-4 Katalog zur Ausstellung mit Werken von Cildo Meireles, Ernesto Neto und Valeska Soares in der Daros-Latinamerica Collection in Zürich, 9. Juni bis 15. Oktober 2006. (Englisch, Spanisch, Portugiesisch)
- Léviathan Thot. Ernesto Neto. Festival d'Automne 2006. Ausstellungskatalog mit Texten von Jean-Marc Prevost und Ernesto Neto. Editions du Regard, Paris 2006, ISBN 2-84105-201-X
- Ernesto Neto: Anthropodino, Texte von Adriano Pedrosa, Tom Eccles und Ernesto Neto. 2010, ISBN 978-0-9800242-3-4 (Englisch)
- Ernesto Neto; Cecilia Pereira, Ernesto Neto: o corpo, nu tempo. Ausstellungskatalog mit Texten von Miguel Fernández-Cid und einem Interview von Cecilia Pereira mit Ernesto Neto. Centro Galego de arte contemporánea. Xunta de Galicia, Santiago de Compostela 2002, ISBN 84-453-3434-4 (Spanisch, Portugiesisch, Englisch)
- Ernesto Neto: The edges of the world, Ausstellungskatalog mit Texten von Cliff Lauson, Moacir dos Anjos, Philip Ursprung und einem Interview des Künstlers von Ralph Rugoff. Hayward Gallery, London und New York 2010, ISBN 978-1-85332-284-6
Weblinks
- Astrup Fearnley Museum of Modern Art
- Fotogalerie der Ausstellung anthropodino. Park Avenue Armory, New York 2009
- Ernesto Neto auf der Website der Tanya Bonakdar Gallery (englisch)
- Ernesto Neto auf kunstaspekte.de
Belege
- Ernesto Neto. Munzinger-Archiv GmbH, 13. September 2011, abgerufen am 16. September 2012.
- Ernesto Neto: The Edges of the World. Hayward Gallery, Southbank Centre, abgerufen am 9. April 2019 (englisch).
- Randy Kennedy: Hey, Drill This! Park Avenue Armory Goes Sci-Fi. The New York Times, 2. Mai 2009, abgerufen am 16. September 2012 (englisch).
- Gunnar B. Kvaran: Ernesto Neto - Intimacy. Astrup Fearnley Museum od Modern Art, 2010, abgerufen am 20. September 2012 (englisch).
- Ernesto Neto: 17. Januar–10. März 2002. Kunsthalle Basel, abgerufen am 9. August 2019.
- Florencia Malbrán: Is it Day or is it Night? Astrup Fearnley Museum od Modern Art, 2010, abgerufen am 20. September 2012 (englisch).
- Ernesto Neto. (Nicht mehr online verfügbar.) Daros Latinamerica Collection, ehemals im Original; abgerufen am 18. September 2012. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- ernesto neto. In: designboom.com. designboom, abgerufen am 9. August 2019 (englisch).
- Ken Johnson: Into the Embrace of a Great Spicy, Gauzy Mother. The New York Times, 14. Mai 2009, abgerufen am 20. September 2012 (englisch): „The culinary aroma alone tells us we are in the realm of the Great Mother. There is the suggestion of a kind of an Oedipal — or pre-Oedipal — erotic dimension too, as the sheer fabric calls to mind nylon stockings.“
- Olga M. Viso zu Directions – Ernesto Neto (PDF-Datei; 593 kB)
- Tropicália 2005/06 (Memento vom 24. Oktober 2013 im Internet Archive), MCA Chicago, abgerufen am 8. August 2019 (englisch).
- Ernesto Neto: Mente molhada. Multitudes 2008/2 (n° 33), abgerufen am 22. Juli 2015.
- http://www.festival-automne.com/leviathan-thot-spectacle79.html
- Steve Sampson: Art at home with heroes. franglaise, 4. August 2010, abgerufen am 18. September 2012 (französisch).
- Ernesto Neto. (Nicht mehr online verfügbar.) Daros Latinamerica Collection, ehemals im Original; abgerufen am 18. September 2012. (Seite nicht mehr abrufbar, Suche in Webarchiven) Info: Der Link wurde automatisch als defekt markiert. Bitte prüfe den Link gemäß Anleitung und entferne dann diesen Hinweis.
- Philip Ursprung: Ernesto Neto. (PDF) Parkett Kunstzeitschrift, 2007, abgerufen am 18. September 2012.
- Ernesto Neto, anthropodino. Park Avenue Armory, 2009, abgerufen am 18. September 2012 (englisch).
- Navedenga. MoMA, abgerufen am 23. September 2012 (englisch).
- Ernesto Neto in Buenos Aires. Universes in Universe, abgerufen am 23. September 2012.
- Informationstext über die Ausstellung von Ernesto Neto im Arp Museum Bahnhof Rolandseck auf der Website des Museums. Archiviert vom Original am 6. Februar 2015; abgerufen am 9. August 2019.
- Fondation Beyeler - Ernesto Neto. Abgerufen am 29. Juni 2018 (deutsch).