Eigenwelt
Eigenwelt in der von Martin Heidegger (1889–1976) eingeführten Bedeutung bezeichnet in der philosophischen Anthropologie die ausschließlich durch eigene Erfahrungen begründete Welt. Diese Erfahrungen sind in der Beziehung zum eigenen Selbst entstanden. Die Eigenwelt kann daher auch als subjektive oder persönliche Welt bezeichnet werden. Die Eigenwelt steht nur teilweise im Gegensatz zur Umwelt, die Menschen gemeinsam mit anderen Menschen teilen können und die daher auch als ‚Mitwelt‘ oder objektive Welt bezeichnet wird. Das ‚Mitsein‘ mit Anderen lässt das Dasein Anderer in der eigenen Welt begegnen.[1](a) Die Daseinsphilosphie Heideggers wurde insbesondere von Ludwig Binswanger (1881–1966) aufgegriffen, der sie in seiner psychotherapeutischen Praxis umzusetzen versuchte.[2][3]
Weitere begriffliche Entwicklungen und Abgrenzungen
Heidegger verwendet auch die Begriffe des innerweltlich Vorhandenen und Zuhandenen bzw. der Innerweltlichkeit.[1](b) Die Unterscheidung zwischen Innen- und Außenbereich der Eigenwelt eines Individuums (Innenwelt und Außenwelt) hat sich auch im allgemeinen psychologischen Sprachgebrauch durchgesetzt und ist hier durch Begriffe wie Internalisierung oder Externalisierung geläufig.[4](a) Ein ähnliches begriffliches Konzept ist von Carl Gustav Jung (1875–1961) verwendet worden. Dieser spricht von Introversion und Extraversion.[4](b)
Topologie
Heidegger verweist in seiner Daseinsanalyse auf die Arbeit des deutschen Staatsmanns, Sprachwissenschaftlers und Bildungsreformers Wilhelm von Humboldt (1767–1835), der die Ortsadverbien »hier«, »da« und »dort« in Zusammenhang mit den Personalpronomina »ich«, »du« und »er« gebracht hat. Die Ortsadverbien sind nicht nur als rein physikalische Ortsbestimmungen aufzufassen, sondern gleichzeitig auch metaphorisch als innenpsychologische Struktur oder als innerweltliche Raumstellen im Sinne der Existenzphilosophie.[5][1](c) Auf diese Weise lässt sich weiterhin ein Zusammenhang herstellen mit der topologischen Psychologie bzw. mit der Gestaltpsychologie und speziell der Isomorphie[6], gleichzeitig auch mit dem Strukturmodell der Psyche oder der Topik – so wie diese beiden Modelle von Sigmund Freud (1856–1939) und seiner psychoanalytischen Lehre verstanden wurden.[4](c) Binswanger verband eine seit 1907 geknüpfte lebenslange Freundschaft mit dem 25 Jahre älteren Freud. Binswanger war außerdem Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.[7] Rudolf Degkwitz (1920–1990) vertritt die Auffassung, dass Freuds Lehre Wert auf die Sichtweise der Innenpsychologie legte, während die hauptsächlich naturwissenschaftlich ausgerichtete Außenpsychologie mit den Namen ihrer Begründer wie Petrowitsch Pawlow (1848–1936) und Wladimir Michailowitsch Bechterew (1857–1927) einhergeht.[8](a) Diese Art der Außenpsychologie gipfelte in der Lehre einer Reflexologie und enthielt bereits die Grundgedanken des Behaviorismus, der in den USA im Zusammenhang mit den Arbeiten von John B. Watson (1878–1958) steht.[8](b) Der Behaviorismus wiederum war Basis für die spätere Entwicklung der Lerntheorien.[8](c) Vergleicht man die psychoanalytischen Strukturelemente mit den Ortsadverbien, wie sie von Wilhelm von Humboldt charakterisiert wurden, so fällt eine Parallele der Daseinsanalyse mit der Es-Instanz auf. Der Begriff der Eigenwelt korreliert eher mit den Ich-Instanzen, während das ›Du‹ der existentiellen ›Mitwelt‹ entspricht. Diese ›Mitwelt‹ verfügt hingegen über keinen ausdrücklichen topologischen Ort im psychoanalytischen Strukturmodell.
Literatur
- Wolfgang Metzger: Psychologie – Entwicklung ihrer Grundannahmen seit der Einführung des Experiments. 6. Auflage. Verlag Krammer, Wien 2001, ISBN 3-901811-07-9.
Einzelnachweise
- Martin Heidegger: Sein und Zeit. [1926] – 15. Auflage, Max Niemeyer-Verlag, Tübingen 1979, ISBN 3-484-70122-6:
(a) S. 117 ff. (§ 26 Das Mitdasein der Anderen und das alltägliche Mitsein) zu Stw. „Mitsein“;
(b) S. 118 zu Stw. „Vorhandenheit, Zuhandenheit“;
(c) S. 119 zu Stw. „W. v. Humboldt“. - C. George Boeree: Originaltitel: Personality Theories. Dt.: Persönlichkeitstheorien bei Ludwig Binswanger (1881–1966). online; S. 9, 16 zu Stw. „persönliche Welt“, S. 16 zu Stw. „Eigenwelt, Mitwelt, Umwelt“.
- „Eigenwelt“ In: Alleydog.com's online glossary. abgerufen am 16. Dezember 2019.
- Wilhelm Karl Arnold et al. (Hrsg.): Lexikon der Psychologie. Bechtermünz, Augsburg 1996, ISBN 3-86047-508-8:
(a) Sp. 550 zu Stw. „Eigenwelt“ in Lemma „Externalisierung“;
(b) Sp. 551 zu Lemma „Extravertierter Typus“;
(c) Sp. 2334 ff. zu Lemma „Topologische und Vektorpsychologie“. - Wilhelm von Humboldt: Über die Verwandtschaft der Ortsadverbien mit dem Pronomen in einigen Sprachen. [1829], Ges. Schriften (hrsg. von der Preuß. Akad. der Wiss.) Bd. VI, 1. Abt., S. 304–330.
- Peter R. Hofstätter (Hrsg.): Psychologie. Das Fischer Lexikon, Fischer-Taschenbuch, Frankfurt a. M. 1972, ISBN 3-436-01159-2; S. 161 zu Stw. „Topologie“ in Lemma „Gestalt- und Ganzheitspsychologie“.
- Uwe Henrik Peters: Lexikon Psychiatrie, Psychotherapie, Medizinische Psychologie. 5. Auflage, Urban & Fischer, München 2000; ISBN 3-437-15060-X, S. 81 zu Lemma „Binswanger, Ludwig *1881“.
- Rudolf Degkwitz et al. (Hrsg.): Psychisch krank. Einführung in die Psychiatrie für das klinische Studium. Urban & Schwarzenberg, München 1982, ISBN 3-541-09911-9; Spalte nachfolgend mit ~ angegeben:
(a) S. 17~2, 191 zu Stw. „Innen- und Außenpsychologie“;
(b) S. 17~2, zu Stw. „Reflexologie, Behaviorismus“;
(c) S. 17~2, zu Stw. „Lerntheorie“.