Der Kapitän geht als Letzter von Bord
Der Kapitän geht als Letzter von Bord oder der Kapitän geht mit seinem Schiff unter ist eine maritime Regel und Tradition, laut der ein Kapitän beim Untergang des Schiffes bis zuletzt die Verantwortung für Schiff, Besatzung und Passagiere trägt und diese retten muss.
Schifffahrt
Geschichte
Die Phrase wurde 1912 durch den Untergang der Titanic bekannt, existierte aber schon mindestens elf Jahre zuvor.[1]
Das Konzept ist eng mit einer anderen im 19. Jahrhundert niedergeschriebenen Regel verwandt: „Frauen und Kinder zuerst!“ Beide verkörpern das Ideal der Ritterlichkeit, infolgedessen von den oberen Klassen Ehre, Dienst und Respekt für die Benachteiligten verlangt wurde.
Praxis
Das Konzept bedeutet wörtlich, dass der Kapitän die letzte Person ist, die ein Schiff verlässt, bevor dieses sinkt oder vollkommen zerstört wird, und dass er, wenn er nicht in der Lage ist, seine Besatzung und die Passagiere zu retten, auch auf die Rettung seines eigenen Lebens verzichten muss. Im Seerecht ist die Anwesenheit des Kapitäns von höchster Bedeutung, unabhängig vom Zustand des Schiffes, sodass das Verlassen des Schiffes rechtliche Konsequenzen insbesondere für das Bergerecht Fremder hat. Selbst wenn der Kapitän in einer Notlage das Schiff verlässt, endet seine Verantwortung dafür nicht, und er ist verpflichtet, zu seinem Schiff zurückzukehren, sobald die Gefahr nachlässt.
Wenn ein militärischer Kapitän ein Schiff in Kriegszeiten verlässt, kann dies wie Fahnenflucht oder Meuterei als Kapitalverbrechen geahndet werden, sofern er das Schiff anschließend nicht versenkt oder das Sinken abwartet. In vielen Ländern gelten das „vorzeitige Verlassen des Schiffs durch die Schiffsführung“ und das „Zurücklassen Hilfsbedürftiger“ als strafbare Handlungen (beispielsweise der italienische Codice della Navigazione §§ 303, 1097).[2][3][4]
Im deutschen Strafrecht ist das vorzeitige Verlassen des Schiffes durch die Schiffsführung kein eigener Straftatbestand. Jedoch kann sich der Kapitän wegen Totschlags durch Unterlassen (§§ 212, 13 StGB) und Unterlassener Hilfeleistung (§ 323c StGB) strafbar machen, da er eine Garantenstellung gegenüber seinen Passagieren hat, die sich aus seerechtlichen Vorschriften ergibt. Dabei ist es jedoch nicht erforderlich, dass er im Wortsinne als Letzter auf dem Schiff bleibt. Es genügt, wenn er alles Mögliche unternimmt, um seine Passagiere zu retten, ohne sich selbst in Lebensgefahr zu bringen.[5]
Das schweizerische Seeschifffahrtsgesetz[6], Artikel 134, schreibt explizit vor: Der Kapitän, der ein schweizerisches Seeschiff in Gefahr nicht als letzter verlässt, wird mit Gefängnis oder Busse bestraft. Auch ein Seemann, der ein in Gefahr befindliches Schiff ohne Erlaubnis des Kapitäns verlässt, muss mit einer Strafe rechnen.
Kapitän blieb bis zum Schluss
- 12. September 1857: William Lewis Herndon, dem Kapitän des sinkenden Postdampfers Central America, gelang es, trotz eines Orkans noch sämtliche an Bord befindlichen Frauen und Kinder sowie 44 männliche Passagiere auf die Brigg Marine bringen zu lassen, bevor diese durch den Sturm abgetrieben wurde. Kapitän Herndon verblieb mit den restlichen Passagieren auf dem Schiff und ging mit diesem unter.
- 22. Juni 1893: Vizeadmiral Sir George Tryon ging mit seinem Flaggschiff HMS Victoria nach einer Kollision mit einem Kriegsschiff unter. 357 Menschen starben, 358 wurden gerettet. Tryon hatte den Unfall mit einem Schiff seiner Flotte selbst durch seine Manöverbefehle verursacht.
- 15. April 1912: Edward Smith, der Kapitän der Titanic, wusste wenige Minuten nach der Kollision mit einem Eisberg, dass das Schiff nicht zu retten war, aber tat alles in seiner Macht Stehende, um eine Panik zu vermeiden. Als das Schiff sank, ging er in Richtung Brücke und starb vermutlich kurz danach unter nicht geklärten Umständen.[7] Seine letzten überlieferten Worte waren: „Be British“ („seid britisch“).
- 23. Januar 1930: Kapitän Theodor Dreyer starb bei dem Versuch, das auf Grund gesetzte Passagierschiff Monte Cervantes zu verlassen. Aufgrund des langsamen Ablaufes des Schiffbruches konnten sich tags zuvor sämtliche Passagiere und am Tag des Untergangs alle an Bord befindlichen Besatzungsmitglieder retten.
- 5. Juni 1942: Konteradmiral Tamon Yamaguchi blieb während der Schlacht um Midway an Bord des beschädigten Flugzeugträgers Hiryū und der Kommandant des Schiffes, Kapitän Kaku, folgte seinem Beispiel.
- 9. Dezember 1971: Mahendra Nath Mulla, der Kapitän der indischen Fregatte Khukri blieb mit mindestens 194 Besatzungsmitgliedern an Bord, als diese innerhalb von 2 Minuten sank.
- 23. März 2008: Das Krabbenfangschiff Alaska Ranger ging in der Beringsee unter, wobei der Kapitän mit dem Schiff unterging, aber 42 der 47 Besatzungsmitglieder gerettet wurden.[8]
- 29. Oktober 2012: Robin Walbridge, der Kapitän der 1961 vom Stapel gelaufenen Bounty, wurde während der Evakuierung der Besatzung von Bord gespült. 15 Besatzungsmitglieder wurden geborgen, eines verstarb kurz darauf im Krankenhaus, der Kapitän blieb vermisst.[9] Die offizielle Untersuchung des National Transportation Safety Boards sieht in der „fahrlässigen Entscheidung des Kapitäns“, mit einem alternden Schiff und einer unerfahrenen Besatzung in einen vorhergesagten Hurrican zu fahren, die Hauptursache für den Schiffbruch.[10]
- 28. Dezember 2014: Bei der Havarie der Norman Atlantic soll Kapitän Argilio Giacomazzi laut Medienberichten das Schiff als Letzter verlassen haben.[11]
Kapitän blieb nicht bis zum Schluss
- 4. August 1991: Einige Offiziere des sinkenden Kreuzfahrtschiffs Oceanos verließen dieses in einem der ersten Rettungsboote. 225 Menschen mussten zurückbleiben, darunter auch Senioren und Kinder, weil die verbliebenen Rettungsboote nicht mehr zugänglich waren. Kapitän Yiannis Avranas war bei der späteren Luftrettung einer der ersten, die sich vom Deck des nunmehr mit 40 Grad Schlagseite liegenden Schiffs von einem Helikopter hochziehen ließen.[12][13]
- 13. Januar 2012: Francesco Schettino, der Kapitän des Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, verließ sein Schiff vor Abschluss der Evakuierung. Er wurde von den italienischen Behörden in Untersuchungshaft genommen[14] und mehrerer Vergehen (u. a. fahrlässige Körperverletzung und Tötung sowie unterlassene Hilfeleistung durch das vorzeitige Verlassen des Schiffs) angeklagt.[15][16][17][18] Schettino wurde am 11. Februar 2015 erstinstanzlich zu 16 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt.[19] Das Gericht verurteilte ihn wegen Schiffbruchs, fahrlässiger Tötung und fahrlässiger Körperverletzung sowie Zurücklassung Hilfsbedürftiger in Tateinheit mit vorzeitigem Verlassen des Schiffs.
- 16. April 2014: Auf der sinkenden RoRo-Fähre Sewol mit 476 Menschen an Bord verließ der 68-jährige Kapitän Lee Joon-seok das Schiff offenbar 30 bis 40 Minuten nachdem es in Schräglage geraten war. Die Besatzung hatte die Passagiere nach Absetzen des Notrufs aufgefordert, in ihre Kabinen zurückzukehren. Die 174 Geretteten, darunter die meisten Besatzungsmitglieder und der Kapitän, hatten sich etwa eine halbe Stunde, nachdem das Schiff in Schräglage geraten war, dieser Aufforderung widersetzt. Von den 46 Rettungsbooten an Bord der Sewol wurde nur eines zu Wasser gelassen. Am 10. Juni 2014 begann vor Gericht der Stadt Gwangju der Prozess gegen Kapitän Lee Joon Seok und 14 weitere Angeklagte. Am 11. November 2014 wurde der Kapitän zu einer Haftstrafe von 36 Jahren verurteilt, seine Besatzungsmitglieder wurden zu Haftstrafen von jeweils 15, 20 und 30 Jahren verurteilt. Das Urteil gegen den Kapitän wurde in einem späteren Berufungsverfahren zu einer lebenslangen Haft erhöht.[20]
Luftfahrt
Das Konzept wurde in der Luftfahrt explizit auf den verantwortlichen Luftfahrzeugführer (Pilot in Command) übertragen.[21]
Chesley Sullenberger, der Pilot des US-Airways-Flugs 1549, war die letzte Person, die das auf dem Hudson River erfolgreich notgewasserte Flugzeug verließ, nachdem er zweimal das gesamte Flugzeug nach potentiell verbliebenen Insassen durchsucht hatte.
Eisenbahn
Bei der Eisenbahn sind der Zugführer und der Lokomotivführer für die Sicherheit ihrer Fahrgäste verantwortlich.
Der Triebfahrzeugführer André Tanguy forderte kurz vor dem bevorstehenden Eisenbahnunfall im Gare de Lyon über die Sprechanlage des Zuges die Fahrgäste wiederholt auf, den Zug sofort zu verlassen. Als er den auf ihn zukommenden Zug sah, blieb er gleichwohl am Mikrofon und wiederholte seine Warnung. Er rettete damit vielen Fahrgästen das Leben. Er selbst überlebte den Aufprall nicht.
Literatur
- Robert Esser, Susanne Bettendorf: Muss der Kapitän als Letzter von Bord? In: Neue Zeitschrift für Strafrecht 2012, S. 233–237.
Einzelnachweise
- "… for if anything goes wrong a woman may be saved where a captain goes down with his ship." The Night-hawk: a Romance of the '60s, p. 249, Alix John, Frederick A. Stokes Company, New York, 1901.
- Codice della navigazione: 'Abbandono della nave in pericolo', abgerufen am 26. Februar 2013
- Codice della navigazione: 'Abbandono di nave o di aeromobile in pericolo da parte del comandante', abgerufen am 26. Februar 2013
- Christoph Drösser: Stimmt's? Muss ein Kapitän als Letzter das sinkende Schiff verlassen? …fragt Johannes Meißner aus Berlin. zeit.de, 2. Februar 2012, zuletzt abgerufen 20. Oktober 2015.
- Esser, Bettendorf: Muss der Kapitän als Letzter von Bord? NStZ 2012, S. 233–237.
- SR 747.30
- Testimony of Charles Herbert Lightoller
- The Longest Night. GQ
- "Witness recounts Claudene Christian’s last minutes on Bounty (Memento vom 11. Dezember 2013 im Internet Archive)," Beverly Ware, South Shore Bureau, Herald News, 15. Februar 2013.
- Sinking of Tall Ship Bounty, National Transportation Safety Board, 6. Februar 2014.
- Italien feiert einen neuen Helden, Stern-Online, 29. Dezember 2014, abgerufen am 30. Dezember 2014
- Als erster von Bord - Die Havarie der "Oceanos" offenbarte: Unter Schiffsführern wird Heldentum rar. Der Spiegel 33/1991.
- Marike Frick: Besser mit untergehen. (Memento vom 11. Dezember 2013 im Internet Archive) Mare No. 79, April 2010. Abgerufen am 8. Dezember 2013.
- Dario Thuburn: Captain arrested, 41 missing after Italian cruise disaster. Agence France-Presse, 14. Januar 2012, archiviert vom Original am 15. Januar 2012; abgerufen am 15. Januar 2012.
- "Costa Concordia"-Fall: Staatsanwaltschaft arbeitet an Deals mit Angeklagten, Spiegel Online v. 15. Mai 2013
- Schettino chiede il patteggiamento, la Procura dice no, iltirreno.it, 15. Mai 2013
- „Costa Concordia“: Schettino drohen 20 Jahre Haft, orf.at, 15. Mai 2013
- Concordia, il gup di Grosseto ha rinviato a giudizio Schettino, Corriere del Mezzogiorno, 22. Mai 2013
- Urteil im „Costa Concordia“-Prozess: Unglückskapitän Schettino muss 16 Jahre in Haft. In: Spiegel Online. 11. Februar 2015, abgerufen am 11. Februar 2015.
- Gericht bestätigt lebenslange Haft für den Kapitän auf https://ga.de, abgerufen am 26. August 2021
- CFR Title 14 Part 1 Section 1.1. U.S. Federal Government. Abgerufen am 6. Dezember 2010.