Der Hase mit den Bernsteinaugen
Der Hase mit den Bernsteinaugen. Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi (Originaltitel: The Hare with Amber Eyes. A Hidden Inheritance) ist ein Werk des britischen Schriftstellers Edmund de Waal. Das Buch erschien 2010 in London und 2011 auch als deutsche Übersetzung und wurde zum Bestseller. 2021 entschloss sich die Gemeinde Wien, das Werk in einer Auflage von 100.000 Gratisexemplaren zu verteilen.
Inhalt
Es handelt sich dabei um einen liebevollen und einfühlsamen Familienroman, der die Schwierigkeiten des Autors – eines Ururenkels von Ignaz von Ephrussi – thematisiert, sich in der vielfältig verzweigten Welt seiner Vorfahren zu orientieren. Verschiedene Mitglieder der sephardischen Familie Ephrussi übersiedelten im 19. Jahrhundert von Odessa nach Wien und Paris und nutzten ihre Verbindungen in das russische Zarenreich, um lukrative Geschäfte zu machen. Der Erzähler schildert die langwierige Recherche nach verschiedenen – längst verstorbenen – Familienmitgliedern und konzentriert seinen Bericht um die berührende Geschichte einer Sammlung von 264 Netsuke, japanische Miniaturen, aus Holz oder Elfenbein geschnitzt. Diese Sammlung wurde in Paris von Charles Ephrussi erworben, kam als Geschenk nach Wien zum Cousin von Charles, zu Victor Ephrussi und wurde, als Organe des NS-Staates das Palais Ephrussi und die dort befindliche Kunstsammlung der Familie beschlagnahmten, von einem Kindermädchen namens Anna versteckt und nach 1945 wieder der Familie ausgehändigt.
Das Buch ist mit einem Stammbaum der Familie ausgestattet und wird etwa vom Literaturwissenschaftler Oliver vom Hove als „beispiellos genaues Erinnerungsbuch“ bezeichnet.[1] Allerdings wurde auch darauf hingewiesen, dass der Familienroman keine wissenschaftliche Familiengeschichte ist und etwa die berichtete Geschichte des Bankhauses Ephrussi & Co. nicht den historischen Tatsachen entspricht. Etwa kommt Alexander Weiner, der Chef des Bankhauses ab 1924, im gesamten Buch nicht vor.[2] Und es gibt weitere Ungenauigkeiten: Die Darstellung von Ignaz von Ephrussi widerspricht den Dokumenten, die sich im Verlassenschaftsakt, der sich im Wiener Stadt- und Landesarchiv befindet, erhalten haben.[3] Der Sozial- und Wirtschaftshistoriker Roman Sandgruber bemerkt zum Reichtum Victor Ephrussis, der als reichster Bankier Wiens nach Rothschild charakterisiert wird: "Auch de Waal überschätzt ihn. Er war keineswegs mehr der zweitreichste Bankier der Stadt, sondern rangierte 1910 an 258. Stelle der Einkommensskala."[4] Und dem Kindermädchen Anna hat der Zeithistoriker Oliver Rathkolb eine eigene Spurensuche gewidmet, allerdings ohne Erfolg.[5]
Das mindert allerdings weder den Wert des Buches noch die Vielzahl faszinierender Eindrücke, sofern man nicht vergisst, dass es sich nicht um wissenschaftliche Forschung handelt, sondern um einen Familienroman, dessen Autor sich die Freiheit genommen hat, manche Dinge abzuändern, manche Figuren der Geschichte zu ignorieren, manche vielleicht – wie das Kindermädchen Anna – zu erfinden. Der Autor eines Familienromans ist keineswegs verpflichtet, die Geschichte „korrekt“ oder vollständig zu erzählen. Doch der Leser sollte sich dieser Tatsache bewusst sein.
Bibliographische Daten
- Edmund de Waal: The Hare with Amber Eyes: a Hidden Inheritance. Chatto & Windus, London 2010 ISBN 978-0-7011-8417-9.
- deutsch: Der Hase mit den Bernsteinaugen – Das verborgene Erbe der Familie Ephrussi. Übersetzt von Brigitte Hilzensauer. Zsolnay, Wien 2011, ISBN 978-3-552-05556-8.[6]
Literatur
- Roman Sandgruber, Traumzeit für Millionäre. Die 929 Reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910, Wien/Graz/Klagenfurt 2013.
- Oliver vom Hofe, Unersetzliche Kulturgeschichte. Vor zehn Jahren erschienen – und bald als Gratisbuch in Wien verteilt: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ von Edmund de Waal. Eine Wiederlektüre, in: Wiener Zeitung, 30./31. Oktober 2021, S. 31–32.
- Peter Melichar, Wer war Alexander Weiner? In Edmund de Waals Erinnerungsbuch über die Familie Ephrussi fehlt eine für die Geschichte bedeutende Person. Eine Ergänzung, in: Wiener Zeitung, 30./31. Oktober 2021, S. 33.
- Gabriele Kohlbauer-Fritz, Tom Juncker (Hrsg.): Die Ephrussis. Eine Zeitreise. Zsolnay, Wien 2019, ISBN 978-3-552-05982-5.
- Peter Melichar, Neuordnung im Bankwesen. Die NS-Maßnahmen und die Problematik der Restitution, Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission 11, Wien und München 2004.
- Peter Melichar, Bankiers in der Krise: Der österreichische Privatbankensektor 1928–1938. In: Geld und Kapital, Bd. 7 (= Jahrbuch der Gesellschaft für mitteleuropäische Banken- und Sparkassengeschichte. Privatbankiers in Mitteleuropa zwischen den Weltkriegen 2003), Stuttgart 2005, S. 135–191.
Künstlerische Aufarbeitung
- 2019 Uraufführung des Musicals Der Hase mit den Bernsteinaugen von Henry Mason (Buch und Gesangstexte) und Thomas Zaufke (Musik) am Landestheater Linz.[7]
Weblinks
Einzelnachweise
- Oliver vom Hofe, Unersetzliche Kulturgeschichte. Vor zehn Jahren erschienen – und bald als Gratisbuch in Wien verteilt: „Der Hase mit den Bernsteinaugen“ von Edmund de Waal. Eine Wiederlektüre, in: Wiener Zeitung, 30./31. Oktober 2021, S. 31–32; https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/2126098-Edmund-de-Waals-Bestseller.html
- Peter Melichar, Wer war Alexander Weiner? In Edmund de Waals Erinnerungsbuch über die Familie Ephrussi fehlt eine für die Geschichte bedeutende Person. Eine Ergänzung, in: Wiener Zeitung, 30./31. Oktober 2021, S. 33; https://www.wienerzeitung.at/nachrichten/reflexionen/geschichten/2126003-Wer-war-Alexander-Weiner.html.
- Wiener Stadt- und Landesarchiv, Verlassenschaftsakt Ignaz von Ephrussi.
- Roman Sandgruber: Traumzeit für Millionäre. Die 929 Reichsten Wienerinnen und Wiener im Jahr 1910. Wien/Graz/Klagenfurt 2013, S. 33.
- Oliver Rathkolb: Wer kennt Anna? Zeithistorische archäologische Spurensuche zum Hasen mit den Bernsteinaugen. In: Gabriele Kohlbauer-Fritz, Tom Juncker (Hrsg.): Die Ephrussis. Eine Zeitreise. Zsolnay, Wien 2019, ISBN 978-3-552-05982-5, S. 124–129.
- Dezember 2011: ORF-Bestenliste.
- Landestheater Linz: Der Hase mit den Bernsteinaugen; abgerufen am 3. November 2021