Christoph Lütge
Christoph Lütge (* 1969 in Helmstedt) ist ein deutscher Philosoph und Wirtschaftsinformatiker. Sein Arbeitsschwerpunkt ist die Wirtschafts- und Unternehmensethik. Er ist Inhaber des Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhls für Wirtschaftsethik und Direktor des von Meta Platforms (vormals Facebook Inc.) unterstützten Institute for Ethics in Artificial Intelligence an der Technischen Universität München.
Leben
Lütge legte 1989 das Abitur am Gymnasium Anna-Sophianeum in Schöningen ab. Nach dem Studium der Philosophie und Wirtschaftsinformatik in Braunschweig, Göttingen und Paris war Lütge von 1997 bis 1999 Promotionsstudent an den Technischen Universitäten Berlin und Braunschweig.
1999 promovierte er und wurde zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter, ab 2004 wissenschaftlicher Assistent an der philosophischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Lütge habilitierte sich 2005 in München.
Er lehrte als Lehrstuhlvertreter von 2007 bis 2008 an der Universität Witten/Herdecke sowie von 2008 bis 2010 an der Technischen Universität Braunschweig. 2007 erhielt er ein Heisenberg-Stipendium der DFG.
Seit August 2010 hat er den neu geschaffenen Peter-Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik an der Technischen Universität München inne.
Seit 2019 ist Lütge Direktor des neuen „TUM Institute for Ethics in Artificial Intelligence“ an der TU München. Das Institut soll vom Unternehmen Facebook über 5 Jahre verteilt mit insgesamt 7,5 Millionen Euro unterstützt werden, Facebook entscheidet jährlich neu über die Finanzierung.[1][2] Zwischen Facebook und der Universität wurde vereinbart, dass Lütge der Direktor wird, eine Änderung durch die Universität würde eine vorherige schriftliche Zustimmung von Facebook erfordern.[3]
Tätigkeiten
Forschungsinhalte
Arbeitsschwerpunkte Lütges sind Wirtschaftsethik und Allgemeine Ethik, vor allem der Ansatz der Ordnungsethik und normative Aspekte moderner Gesellschaften. Er plädiert dafür, Ethik in modernen Gesellschaften nicht über moralische Appelle, sondern über Regeln umzusetzen. Dazu gehören sowohl formelle als auch informelle Regeln. Lütge hat darüber hinaus an der TU München das Labor „EEL“ (Experimental Ethics Lab) aufgebaut, in dem ethische Forschung mit experimentellen Methoden unterstützt wird.
Stellungnahmen zu aktuellen Themen
Lütge äußert sich regelmäßig in Tagespresse, Radio und Fernsehen zu aktuellen Themen. So kritisierte er Steuerschlupflöcher für Unternehmen,[4] befürwortete einen Ausbau des Faches Wirtschaft an Gymnasien,[5] forderte klare Richtlinien in Unternehmen für den Datenschutz[6] und äußerte sich zu den russisch-deutschen Beziehungen.[7]
Ethik des Wettbewerbs, 2014
Lütge vertritt die These, dass der Wettbewerb in vielen gesellschaftlichen Bereichen stärker als bisher als ethischer Problemlösungsmechanismus eingesetzt werden sollte. Diese These führt er unter anderem anhand von Beispielen aus den Bereichen Ökologie, Gesundheitssektor, Politik, Bildung u. a. aus.
Lütge ist der Ansicht, dass Wettbewerb ein viel allgemeineres Konzept als Kapitalismus und Ökonomie darstellt, da es unterschiedliche Konzepte und Arten von Wettbewerb gibt. Kapitalismuskritiker müssten daher nicht notwendig auch gegen den Wettbewerb eingestellt sein.[8][9][10]
Mitgliedschaften und Funktionen
- Er war Mitglied des Senats und des Hochschulbeirats der Hochschule für Politik München.[11][12][13]
- Lütge ist Mitglied im Advisory Board des Centre for Governance, Leadership and Global Responsibility der Leeds Beckett University.[14][15]
- Im September 2016 wurde Lütge in die Ethik-Kommission zum automatisierten und vernetzten Fahren des Bundesministeriums für Verkehr und digitale Infrastruktur berufen.[16]
- Lütge ist Mitherausgeber der Schriftenreihe Law, Ethics and Economics.
- Er war zudem als Gutachter tätig für eine Reihe von Organisationen und Zeitschriften.
- Lütge begutachtete unter anderem für die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften,
- die Netherlands Organization for Scientific Research,
- die Israel Science Foundation,
- den Schweizerischen Nationalfonds, die Deutsche Forschungsgemeinschaft,
- die Studienstiftung des deutschen Volkes,
- den Wissenschaftsrat,
- die Deutsche Bundesstiftung Umwelt,
- die Society for Business Ethics,
- den Deutschen Akademischen Austauschdienst sowie für
- zahlreiche Fachzeitschriften.[17]
- Lütge war Mitglied im Bayerischen Ethikrat.[18]
- Er erstellte eine Studie für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft[19] und trat als Autor für die INSM auf.[20]
Entlassung aus Bayerischem Ethikrat
Lütge äußerte sich im Januar 2021 wiederholt als Kritiker der Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie. Eine Gefahr der Überbelastung der intensivmedizinischen Kapazitäten sei in keinem Fall gegeben.[21] Die Sterbezahlen relativierte er mit dem ohnehin hohen Durchschnittsalter der Toten.[22] Die vorübergehende Schließung von Hotels und Fitnessstudios sei nicht verhältnismäßig, da das Virus in erster Linie alte Menschen gefährde. Dem Virologen Christian Drosten warf er eine „unverantwortliche Angstrhetorik“ vor.[23] Die Übersterblichkeit sei zudem weniger eine Folge der Pandemie als die der Lockdown-Maßnahmen.[24] Ein Lockdown sei „völlig unnötig und (...) nicht verhältnismässig“, entspreche einem wirkungslosen mittelalterlichen Instrument[25] und müsse deshalb beendet werden, die Prioritätensetzung für Impfungen sei verlangsamende Bürokratie und Händewaschen zusammen mit Abstandhalten als Maßnahmen ausreichend.[26] Hinsichtlich der Virusmutationen aus England, Südafrika und Brasilien und dem Festhalten der Bundesregierung an dem Ziel einer niedrigen Inzidenz von 35 meinte Lütge, dass es keine belastbaren Zahlen gäbe, die belegten, dass die Mutation für zusätzliche Erkrankungen und eine erhöhte Sterblichkeit verantwortlich wäre. Dennoch greife die deutsche Bundesregierung, die von einseitig besetzten Beratergremien beeinflusst sei, „nach dem letzten Strohhalm, um an ihrer Lockdown-Strategie festhalten zu können“. Lütge vermutete dabei einen Ablenkungsversuch der Bundesregierung „vom eigenen Impfversagen“.[27]
Am 2. Februar 2021 wurde Lütge von der Bayerischen Staatsregierung per einstimmigem Kabinettsbeschluss aus dem Bayerischen Ethikrat abberufen, dessen Mitglied er bis dato war.[28]
Während Lütge äußerte, die Entlassung spreche für sich, begrüßte die Vorsitzende des Ethikrats, Susanne Breit-Keßler, die Entlassung und erklärte, Lütge habe wiederholt entgegen der Geschäftsordnung des Ethikrates agiert. Er habe den Eindruck erweckt, als entspreche seine Meinung der des Ethikrates und als seien seine Stellungnahmen vom Ethikrat autorisiert. Zudem erklärte sie, sie habe ihn mehrere Male schriftlich informiert, dass ein solches Handeln nicht mit der Geschäftsordnung des Ethikrates vereinbar sei. Jedoch habe er sein Vorgehen trotz ihrer Bitte nicht ändern wollen.[29][28]
Breit-Keßler hatte sich schon früher kritisch zu der Auffassung Lütges geäußert: „Generell verwahre ich mich gegen die Auffassung, der Tod alter Menschen an und mit Covid-19 lasse sich durch den Hinweis relativieren, diese Menschen wären ohnehin so oder so demnächst gestorben. Diese Meinung ist verächtlich gegenüber Betroffenen. Und sie verachtet sittliche Grundwerte unseres Gemeinwesens“. Der Chef der Bayerischen Staatskanzlei, Florian Herrmann, bezeichnete Lütges Äußerungen als „verstörend“, sie provoziere den Beifall von Corona-Leugnern und schade dem Ansehen des Ethikrates. Auch Armin Nassehi, Mitglied des Ethikrats, distanzierte sich, ebenso die Leitung der TUM.[30]
Kritik
Aufgrund der Vereinbarungen zum Institut von Lütge (siehe Abschnitt Leben) mit dem Unternehmen Facebook wurde von anderen Forschern eine mögliche mangelnde Unabhängigkeit des Instituts von Facebook kritisiert.[31] Lütge befürwortet hingegen diese Kooperation mit Facebook und antwortete auf die Kritik, er sei frei in seinem Wirken am Institut.[32]
Kritik äußerte Christian Kreiß, der der Drittmittelforschung insgesamt sehr kritisch gegenüber steht:[33] „Der ganze Bewerbungsprozess ist an der TU weggefallen, die 6,5 Millionen Euro sind direkt einer bereits existierenden Person zugesprochen worden. (…) So eine Auswahl per Handschlag widerspricht dem Gesetz.“[34]
Schriften
- Business Ethics: An Economically Informed Perspective, Oxford University Press, Oxford 2021 (mit Matthias Uhl), ISBN 9780198864776.
- Ethik in KI und Robotik. Hanser, München 2019 (mit Christoph Bartneck, Alan Wagner, Sean Welsh), ISBN 978-3-446-46227-4.
- The Ethics of Competition: How a Competitive Society is Good for All. Elgar, Cheltenham 2019, ISBN 978-1-78897-298-7.
- Wirtschaftsethik. Vahlen, München 2018 (mit Matthias Uhl), ISBN 978-3-8006-5244-0.
- Order Ethics or Moral Surplus: What Holds a Society Together?. Lexington, Lanham, Md. 2015, ISBN 978-0-7391-9867-4.
- Ethik des Wettbewerbs. Über Konkurrenz und Moral. Beck, München 2014, ISBN 978-3-406-66964-4.
- Experimental Ethics: Toward an Empirical Moral Philosophy. Basingstoke: Palgrave Macmillan 2014 (Hrsg., mit Hannes Rusch und Matthias Uhl), ISBN 978-1-137-40979-9.
- Handbook of the Philosophical Foundations of Business Ethics. Springer, Heidelberg/New York 2013 (Hrsg.), ISBN 978-94-007-1495-3.
- Wirtschaftsethik ohne Illusionen. Ordnungstheoretische Reflexionen. Mohr Siebeck, Tübingen 2012, ISBN 978-3-16-151782-2.
- Entscheidung und Urteil. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2009 (mit Helmut Jungermann), ISBN 978-3-525-40419-5.
- Corporate Citizenship, Contractarianism and Ethical Theory: On Philosophical Foundations of Business Ethics. Ashgate, Aldershot/London 2008 (hrsg. mit Jesus Conill und Tatjana Schönwälder-Kuntze), ISBN 978-0-7546-7383-5.
- Was hält eine Gesellschaft zusammen? Ethik im Zeitalter der Globalisierung. Mohr Siebeck, Tübingen 2007, ISBN 978-3-16-149408-6.
- Einführung in die Wirtschaftsethik. Erstauflage 2004. 3., überarb. Aufl., LIT, Münster 2013 (mit Karl Homann), ISBN 978-3-8258-7758-3.
- Ökonomische Wissenschaftstheorie. Königshausen und Neumann, Würzburg 2001, ISBN 978-3-8260-2017-9.
Weblinks
Einzelnachweise
- Valentin Dornis: Facebook finanziert Ethik-Institut an der TU München, Süddeutsche Zeitung, 20. Januar 2019, abgerufen am 26. Januar 2019.
- Christian Kreiß: "Ein unbeschränktes Forschungsgeschenk" von Facebook an die TU München, Telepolis, 16. Dezember 2019
- TU München und Facebook: Zweifel an Unabhängigkeit. In: sueddeutsche.de. Abgerufen am 11. Januar 2020.
- "Ethik siegt", Süddeutsche Zeitung, 8. Dezember 2014, S. 2.
- "Das Fach Wirtschaft muss an deutschen Schulen dringend ausgebaut werden", Huffington Post, 23. Januar 2015
- "Germany Said to Review ‘No-Spy’ Buying Rules Amid U.S. Row", Bloomberg, 11. Juli 2014.
- Vom Handel und Wandel, Moskauer Deutsche Zeitung, April 2014.
- Christoph Lütge: Ethik des Wettbewerbs: Über Konkurrenz und Moral. C.H.Beck, 2014, ISBN 978-3-406-66965-1 (google.de [abgerufen am 1. Juni 2020]).
- Sendung im WDR zur "Ethik des Wettbewerbs" (Memento vom 29. März 2015 im Internet Archive)
- Interview mit Christoph Lütge - Ist Wettbewerb unethisch? Abgerufen am 1. Juni 2020 (deutsch).
- Hochschule für Politik München: neuer Senat und Hochschulbeirat,, abgerufen am 20. März 2015.
- Hochschule für Politik: Organe. Abgerufen am 29. Mai 2019.
- Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik - Prof. Lütge: Christoph Lütge. Abgerufen am 29. Mai 2019.
- Advisory Board (Memento vom 4. April 2015 im Internet Archive), abgerufen am 20. März 2015.
- Centre Team. Abgerufen am 29. Mai 2019 (britisches Englisch).
- Mitglieder der Ethik-Kommission, abgerufen am 5. April 2017.
- Peter Löscher-Stiftungslehrstuhl für Wirtschaftsethik und Global Governance, abgerufen am 20. März 2015.
- Bayerischer Ethikrat: Ethikrat. Abgerufen am 18. Januar 2021.
- Berufseinstieg im Generationenvergleich. Abgerufen am 18. Januar 2021.
- Ökonomenblog der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft. Abgerufen am 18. Januar 2021.
- Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (12. Februar 2021): «Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar»: Der Ethiker Christoph Lütge bleibt bei seiner Kritik an den Corona-Massnahmen; https://www.nzz.ch/international/der-ethiker-christoph-luetge-kritisiert-weiterhin-den-lockdown-ld.1601465, abgerufen am 18. Februar 2021.
- Mitglied des Bayerischen Ethikrates kritisiert #ZeroCovid In: BR24
- Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (12. Februar 2021): «Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar»: Der Ethiker Christoph Lütge bleibt bei seiner Kritik an den Corona-Massnahmen; https://www.nzz.ch/international/der-ethiker-christoph-luetge-kritisiert-weiterhin-den-lockdown-ld.1601465, abgerufen am 18. Februar 2021.
- Kritik an Initiative: "ZeroCovid handelt massiv unethisch" In: BR24
- Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (12. Februar 2021): «Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar»: Der Ethiker Christoph Lütge bleibt bei seiner Kritik an den Corona-Massnahmen; https://www.nzz.ch/international/der-ethiker-christoph-luetge-kritisiert-weiterhin-den-lockdown-ld.1601465, abgerufen am 18. Februar 2021.
- Krach um Coronamaßnahmen - Marc Hanefeld im Streitgespräch mit Christoph Lütge In: DW Deutsch (Video; Position 10:10, 12:37, 17:45, 22:04 min) vom 19. Januar 2021.
- Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung (12. Februar 2021): «Die Verlängerung des Lockdowns ist nicht vermittelbar»: Der Ethiker Christoph Lütge bleibt bei seiner Kritik an den Corona-Massnahmen; https://www.nzz.ch/international/der-ethiker-christoph-luetge-kritisiert-weiterhin-den-lockdown-ld.1601465, abgerufen am 18. Februar 2021.
- Süddeutsche Zeitung: Christoph Lütge nicht mehr im Bayerischen Ethikrat. Abgerufen am 11. Februar 2021.
- Ethikrat: Staatsregierung entlässt Lockdown-Kritiker Lütge . In: Bayerischer Rundfunk, 11. Februar 2021. Abgerufen am 13. Februar 2021.
- Süddeutsche Zeitung: Bayerische Staatskanzlei auf Distanz zu Ethikrat Lütge. Abgerufen am 14. April 2021.
- Facebook und die TU München: "Wir sind unabhängig". In: sueddeutsche.de. Abgerufen am 11. Januar 2020.
- Chris Köver: Facebook und die TU München - Ein Geschenk auf Raten. In: netzpolitik.org. 18. Dezember 2019, abgerufen am 11. Januar 2020.
- Valentin Dornis: Künstliche Intelligenz: Facebook finanziert Forschung. Abgerufen am 1. Juni 2020.
- Sabine Buchwald: TU München: Wenn Facebook in die Uni investiert. Abgerufen am 1. Juni 2020.