Auswirkungen der Nutzung digitaler Medien auf die psychische Gesundheit
Die Zusammenhänge zwischen digitaler Mediennutzung und psychischer Gesundheit wurden insbesondere seit Mitte der 1990er Jahre, nach dem Aufkommen des World Wide Web, von verschiedenen Forschern – vor allem Psychologen, Soziologen, Anthropologen und Medizinern – untersucht. Ein bedeutender Teil der Forschung hat Phänomene der „Übernutzung“ untersucht, die allgemein als „digitale Süchte“ oder „digitale Abhängigkeiten“ bekannt sind. Diese Phänomene manifestieren sich in vielen Gesellschaften und Kulturen unterschiedlich. Einige Experten haben die Vorteile einer moderaten Nutzung digitaler Medien in verschiedenen Bereichen untersucht, einschließlich der psychischen Gesundheit und der Behandlung psychischer Probleme mit neuartigen technologischen Lösungen.[1]
Die Abgrenzung zwischen nützlicher und pathologischer Nutzung digitaler Medien ist nicht etabliert. Es gibt keine allgemein akzeptierten diagnostischen Kriterien, obwohl einige Experten eine Überbeanspruchung als Manifestation einer zugrunde liegenden psychiatrischen Störung ansehen. Auch die Prävention und Behandlung pathologischer digitaler Mediennutzung ist nicht standardisiert, obwohl Leitlinien für eine sicherere Mediennutzung für Kinder und Familien entwickelt wurden. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition (DSM-5) und die International Classification of Diseases (ICD-11) enthalten keine Diagnosen für problematische Internetnutzung und problematische Social-Media-Nutzung; der ICD-11 beinhaltet die Diagnose einer Spielstörung (allgemein bekannt als Videospielsucht), während der DSM-5 dies nicht tut. Experten diskutieren immer noch, wie und wann diese Erkrankungen diagnostiziert werden sollen. Auch die Verwendung des Begriffs Sucht zur Bezeichnung dieser Phänomene und Diagnosen wurde in Frage gestellt.
Digitale Medien und Bildschirmzeit haben die Art und Weise, wie Kinder denken, interagieren und sich entwickeln, auf positive und negative Weise verändert, aber die Forscher sind sich nicht sicher, ob es hypothetische kausale Verbindungen zwischen der Nutzung digitaler Medien und den Ergebnissen der psychischen Gesundheit gibt. Diese Links scheinen von der Person und den von ihnen verwendeten Plattformen abzuhängen. Mehrere große Technologieunternehmen sind Verpflichtungen eingegangen oder haben Strategien angekündigt, um zu versuchen, die Risiken der Nutzung digitaler Medien zu verringern.[2]
Geschichte und Terminologie
Die Beziehung zwischen digitaler Technologie und psychischer Gesundheit wurde aus vielen Perspektiven untersucht. Es wurden Vorteile der Nutzung digitaler Medien in der kindlichen und jugendlichen Entwicklung festgestellt. Forscher, Kliniker und die Öffentlichkeit haben Bedenken in Bezug auf das scheinbar zwanghafte Verhalten von Nutzern digitaler Medien geäußert, da Korrelationen zwischen Technologieübernutzung und psychischen Gesundheitsproblemen offensichtlich werden. Terminologien, die verwendet werden, um sich auf zwanghaftes Nutzungsverhalten digitaler Medien zu beziehen, sind nicht standardisiert oder allgemein anerkannt. Dazu gehören „digitale Sucht“, „digitale Abhängigkeit“, „problematische Nutzung“ oder „Übernutzung“, oft abgegrenzt durch die genutzte oder untersuchte digitale Medienplattform (z. B. problematische Smartphone-Nutzung oder problematische Internetnutzung).[3]
Die uneingeschränkte Nutzung technologischer Geräte kann das entwicklungsbezogene, soziale, geistige und körperliche Wohlbefinden beeinträchtigen und zu Symptomen führen, die anderen psychischen Abhängigkeitssyndromen oder Verhaltenssüchten ähneln. Der Fokus auf problematischen Technologieeinsatz in der Forschung, insbesondere in Bezug auf das Paradigma der Verhaltenssucht, wird trotz schlechter Standardisierung und widersprüchlicher Forschung immer akzeptierter. Internetsucht wird seit Mitte der 1990er Jahre als Diagnose vorgeschlagen und soziale Medien und ihr Zusammenhang mit Sucht werden seit 2009 untersucht. Ein Bericht der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2018 stellte die Vorteile einer strukturierten und begrenzten Internetnutzung bei Kindern und Jugendlichen für Entwicklungs- und Bildungszwecke fest, aber dass eine übermäßige Nutzung sich negativ auf das psychische Wohlbefinden auswirken kann.[4]
Es stellte auch fest, dass die Internetnutzung von Kindern im Schulalter zwischen 2010 und 2015 insgesamt um 40 % gestiegen ist und dass verschiedene OECD-Länder deutliche Unterschiede bei der Nutzung von Technologien im Kindesalter sowie bei den verwendeten Plattformen aufwiesen. Das Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders hat die problematische Nutzung digitaler Medien nicht formal in diagnostischen Kategorien kodifiziert, aber es erachtete Internet-Spielstörungen als Bedingung für weitere Studien im Jahr 2013.[5]
Spielstörung, allgemein bekannt als Videospielsucht, wurde in der ICD-11 anerkannt. Unterschiedliche Empfehlungen in DSM und ICD sind teilweise auf den fehlenden Expertenkonsens, die unterschiedlichen Schwerpunkte in den Klassifikationshandbüchern sowie auf die Schwierigkeiten bei der Verwendung von Tiermodellen für Verhaltenssüchte zurückzuführen. Die Nützlichkeit des Begriffs Sucht in Bezug auf die Übernutzung digitaler Medien wurde in Bezug auf ihre Eignung zur Beschreibung neuer, digital vermittelter psychiatrischer Kategorien in Frage gestellt, im Gegensatz dazu, dass Übernutzung eine Manifestation anderer psychiatrischer Störungen ist. Die Verwendung des Begriffs wurde auch kritisiert, weil sie Parallelen zum Substanzkonsumverhalten zieht.[6]
Ein unachtsamer Gebrauch des Begriffs kann weitere Probleme verursachen – sowohl das Schadensrisiko bei schwer betroffenen Menschen herunterzuspielen als auch das Risiko einer übermäßigen, nicht pathologischen Nutzung digitaler Medien zu überschätzen. Die Entwicklung der Terminologie, die die übermäßige Nutzung digitaler Medien eher mit problematischer Nutzung als mit Sucht in Verbindung bringt, wurde von Panova und Carbonell, Psychologen an der Ramon Llull University, in einem Review aus dem Jahr 2018 gefördert. Aufgrund fehlender Anerkennung und fehlender Konsens über die verwendeten Konzepte sind Diagnosen und Behandlungen schwer zu standardisieren oder zu entwickeln. Erhöhte öffentliche Ängste vor neuen Medien (einschließlich sozialer Medien, Smartphones und Videospiele) verschleiern bevölkerungsbasierte Bewertungen weiter und stellen Managementdilemmata dar.[7]
Radesky und Christakis, die 2019-Herausgeber von JAMA Paediatrics, veröffentlichten eine Überprüfung, in der „Bedenken über Gesundheits- und Entwicklungs-/Verhaltensrisiken einer übermäßigen Mediennutzung für die kognitive, sprachliche, literarische und sozial-emotionale Entwicklung von Kindern“ untersucht wurden Da Kindern weltweit zahlreiche Technologien zur Verfügung stehen, ist das Problem bidirektional, da das Wegnehmen digitaler Geräte in Bereichen wie Lernen, Familienbeziehungsdynamik und Gesamtentwicklung nachteilige Auswirkungen haben kann.[8][9]
Problematische Verwendung
Obwohl Zusammenhänge zwischen der Nutzung digitaler Medien und psychischen Symptomen oder Diagnosen beobachtet wurden, wurde keine Kausalität festgestellt; Nuancen und Vorbehalte, die von Forschern veröffentlicht werden, werden von der Öffentlichkeit oft missverstanden oder von den Medien falsch dargestellt. Frauen nutzen häufiger soziale Medien und Männer Videospiele. Daraus folgt, dass problematische digitale Mediennutzung nicht singuläre Konstrukte sein kann, anhand der genutzten digitalen Plattform abgegrenzt oder in Bezug auf spezifische Aktivitäten (und nicht die Abhängigkeit vom digitalen Medium) neu bewertet werden kann.[9]
Bildschirmzeit und psychische Gesundheit
Der Evolutionsbiologen George C. Williams argumentiert, dass die Evolutionsmedizin die meisten chronischen Erkrankungen darauf zurückführt, dass die Anlagen des Menschen, sich in der steinzeitlich-nomadischen Lebensphase von Jäger-Sammlern herausbildeten und sich seither der Lebensweisen des zeitgenössischen Menschen in sesshaften, technologisch modernen Staatsgesellschaften zu wenig angepasst haben (z. B. WEIRD-Gesellschaften). Auch der Psychiater Randolph M. Nesse argumentiert, dass ein evolutionäres Mismatch ein wichtiger Faktor bei der Entstehung bestimmter psychischer Störungen sei.
1948 besaßen 50 Prozent der US-Haushalte mindestens ein Auto.1955 besaß die Mehrheit der US-Haushalte mindestens ein Fernsehgerät und 1992 erhielten 60 Prozent aller US-Haushalte Kabelfernsehabonnements. Im Jahr 2000 verfügte die Mehrheit der US-Haushalte über mindestens einen PC und im darauffolgenden Jahr einen Internetzugang. Im Jahr 2002 gab die Mehrheit der Umfrageteilnehmer in den USA an, ein Mobiltelefon zu besitzen. Im September bzw. Dezember 2006 waren Luxemburg und die Niederlande die ersten Länder, die vollständig vom analogen zum digitalen Fernsehen umgestellt haben, während die Vereinigten Staaten 2008 mit der Umstellung begonnen haben. Im Januar 2013 gaben die meisten Umfrageteilnehmer in den USA an, ein Smartphone zu besitzen. Nach Schätzungen von Nielsen Media Research besaßen 2006 ungefähr 45,7 Millionen US-Haushalte (oder ungefähr 40 Prozent von ungefähr 114,4 Millionen) eine dedizierte Heimvideospielkonsole und bis 2015 besaßen 51 Prozent der US-Haushalte eine dedizierte Heimvideospielkonsole laut einem jährlichen Branchenbericht der Entertainment Software Association.[10]
Einzelnachweise
- http://eppi.ioe.ac.uk/cms/Portals/0/PDF%20reviews%20and%20summaries/Systematic%20Map%20of%20Reviews%20on%20Screen-based%20activties_08.01.19.pdf?ver=2019-01-29-155200-517
- Francesca C. Ryding, Linda K. Kaye: “Internet Addiction”: a Conceptual Minefield. In: International Journal of Mental Health and Addiction. Band 16, Nr. 1, 2018, ISSN 1557-1874, S. 225–232, doi:10.1007/s11469-017-9811-6, PMID 29491771, PMC 5814538 (freier Volltext).
- Wayback Machine. (PDF) 5. Juli 2019, abgerufen am 17. Oktober 2021.
- Yolanda (Linda) Reid Chassiakos, Jenny Radesky, Dimitri Christakis, Megan A. Moreno, Corinn Cross: Children and Adolescents and Digital Media. In: Pediatrics. Band 138, Nr. 5, 1. November 2016, ISSN 0031-4005, doi:10.1542/peds.2016-2593, PMID 27940795 (aappublications.org [abgerufen am 17. Oktober 2021]).
- Neza Stiglic, Russell M Viner: Effects of screentime on the health and well-being of children and adolescents: a systematic review of reviews. In: BMJ Open. Band 9, Nr. 1, 3. Januar 2019, ISSN 2044-6055, S. e023191, doi:10.1136/bmjopen-2018-023191, PMID 30606703, PMC 6326346 (freier Volltext).
- Katriona Beales, Fiona MacDonald, Vanessa Bartlett, Henrietta Bowden-Jones: Are we all addicts now? : digital dependence. Liverpool 2017, ISBN 978-1-78694-081-0.
- Igor Pantic: Online Social Networking and Mental Health. In: Cyberpsychology, Behavior, and Social Networking. Band 17, Nr. 10, 1. Oktober 2014, ISSN 2152-2715, S. 652–657, doi:10.1089/cyber.2014.0070, PMID 25192305, PMC 4183915 (freier Volltext).
- Jon E. Grant, Samuel R. Chamberlain: Expanding the Definition of Addiction: DSM-5 vs. ICD-11. In: CNS spectrums. Band 21, Nr. 4, August 2016, ISSN 1092-8529, S. 300–303, doi:10.1017/S1092852916000183, PMID 27151528, PMC 5328289 (freier Volltext).
- Are smartphones really that bad? Improving the psychological measurement of technology-related behaviors. Abgerufen am 17. Oktober 2021.
- Melina R. Uncapher, Lin Lin, Larry D. Rosen, Heather L. Kirkorian, Naomi S. Baron: Media Multitasking and Cognitive, Psychological, Neural, and Learning Differences. In: Pediatrics. Band 140, Suppl 2, November 2017, ISSN 0031-4005, S. S62–S66, doi:10.1542/peds.2016-1758D, PMID 29093034, PMC 5658797 (freier Volltext).