Annie Reich
Annie Reich (auch: Annie Reich-Rubinstein, geboren 9. April 1902 in Wien, Österreich-Ungarn; gestorben 5. Januar 1971 in Pittsburgh Pennsylvania) war eine österreichisch-US-amerikanische Psychoanalytikerin.
Leben
Annie war die Tochter des wohlhabenden jüdischen Geschäftsmanns Alfred Pink,[1] ihre Mutter Theresa, geb. Singer war ausgebildete Lehrerin und als Suffragette aktiv. Annie Pink besuchte das Mädchenrealgymnasium in der Wiener Josefstadt und engagierte sich wie ihre Brüder[2] in der sozialistischen Wiener Jugendbewegung, wo sie Berta Bornstein, Siegfried Bernfeld und Otto Fenichel kennenlernte. Sie studierte ab 1921 in Wien Medizin (Promotion 1926) und besuchte Veranstaltungen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Eine bei Wilhelm Reich begonnene Analyse wurde abgebrochen, weil beide 1922 die Ehe schlossen (aus der zwei Töchter hervorgingen, Eva (1924–2008) und Lore (* 1928)). Ihre Analyse setzte sie zunächst bei Hermann Nunberg fort, später als Lehranalyse bei Anna Freud und Frances Deri. 1928 wurde sie ordentliches Mitglied der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung.
1928 hatten Marie Frischauf und Wilhelm Reich in Wien die „Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung“ gegründet. Annie Reich übernahm neben Anny Angel, Edith Buxbaum und anderen die Leitung einer der sechs kostenlosen Sexualberatungsstellen für Arbeiter[3]. Aus den dort gewonnenen Erfahrungen entstand gemeinsam mit Frischauf die Schrift Ist Abtreibung schädlich?, was im bigotten Bürgertum Empörung auslöste und polizeiliche Durchsuchungen bei den Autorinnen nach sich zog.
1930 ging Annie Reich mit Ehemann und Kindern nach Berlin, wo sie als ao. Mitglied in die Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft aufgenommen wurde. Hier war sie in der Gruppe marxistischer Analytiker um Otto Fenichel politisch aktiv und auch kurzfristig inhaftiert. Sie gehörte später mit Edith Jacobson und Edit Gyömrői zu einer Gruppe von 8 bis 10 Psychoanalytikern, die zwischen 1934 und 1945 mit streng geheimen Rundbriefen, die Fenichel redigierte und versandte, trotz exilbedingter Trennung miteinander in Kontakt blieben.[4]
1933 trennten sich Annie Reich und Wilhelm Reich. Er emigrierte nach Kopenhagen, sie mit den beiden Töchtern nach Prag. Dort lernte sie in der psychoanalytischen Gruppe, die ab 1935 Otto Fenichel leitete, den ehemaligen hochrangigen Geheimagenten der Komintern, der auch Eingeweihten nur unter dem Namen „Genosse Thomas“ bekannt war,[5] kennen. Mit ihm – der als Jakob Reich (1886–1955) in Lemberg geboren wurde, mehrere Pseudonyme benutzte und sich zuletzt Thomas Rubinstein nannte – und den Töchtern ging Annie Reich 1938 in die USA. Während der ehemalige „Genosse Thomas“, insbesondere nach Trotzkis Ermordung 1940 durch Stalins Agenten, im Verborgenen lebte und an einer Geschichte der russischen Revolution arbeitete, hatte Annie Reich in New York City eine analytische Praxis und eine Stelle am Mount Sinai Hospital. Von 1960 bis 1962 war sie Präsidentin des New York Psychoanalytic Institute.
Die Tochter Eva Reich wurde Ärztin, die Tochter Lore Reich Rubin wurde ebenfalls Psychoanalytikerin.
Schriften (Auswahl)
- Wenn dein Kind dich fragt... Gespräche, Beispiele und Ratschläge zur Sexualerziehung (PDF), Leipzig/Berlin/Wien: Verlag für Sexualpolitik 1932
- mit Marie Frischauf: Ist Abtreibung schädlich?, Münster-Verlag, Wien 1930 DNB
- Das Kreidedreieck, Berlin 1932.
- Psychoanalytic Contributions, International Universities Press, New York 1973
Literatur
- Elke Mühlleitner: Biographisches Lexikon der Psychoanalyse. Die Mitglieder der Psychologischen Mittwoch-Gesellschaft und der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung 1902–1938. Tübingen : Edition Diskord, 1992, ISBN 3-89295-557-3
- Élisabeth Roudinesco, Michel Plon: Wörterbuch der Psychoanalyse: Namen, Länder, Werke, Begriffe, Wien [u. a.]: Springer, 2004, S. 853 ISBN 3-211-83748-5
- Uwe Henrik Peters: Psychiatrie im Exil: die Emigration der dynamischen Psychiatrie aus Deutschland 1933–1939, Kupka, Düsseldorf 1992, ISBN 3-926567-04-X.
- Otto Fenichel: 119 Rundbriefe (1934–1945), Frankfurt/M.: Stroemfeld 1998 ISBN 3-87877-567-9.
- Susanne Blumesberger, Michael Doppelhofer, Gabriele Mauthe: Handbuch österreichischer Autorinnen und Autoren jüdischer Herkunft 18. bis 20. Jahrhundert. Band 2: J–R. Hrsg. von der Österreichischen Nationalbibliothek. Saur, München 2002, ISBN 3-598-11545-8.
- Werner Röder; Herbert A. Strauss: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933 / International Biographical Dictionary of Central European Emigrés 1933–1945, Vol II, 2 München : Saur 1983 ISBN 3-598-10089-2, S. 949
- Myron Sharaf: Wilhelm Reich – Der heilige Zorn des Lebendigen. Die Biographie, Berlin: Simon und Leutner 1994 (engl. Orig. 1983)
- Karl Fallend: Reich, Annie. In: Brigitta Keintzel, Ilse Korotin (Hrsg.): Wissenschafterinnen in und aus Österreich. Leben – Werk – Wirken. Böhlau, Wien/Köln/Weimar 2002, ISBN 3-205-99467-1, S. 608f.
Weblinks
- Literatur von und über Annie Reich im Katalog der Deutschen Nationalbibliothek
- Literatur von und über Annie Reich in der bibliografischen Datenbank WorldCat
- Reich Annie bei univie
- Annie Reich bei psychoanalytikerinnen
Einzelnachweise
- Alfred Pink emigrierte aus Österreich und starb ca. 1944 in den USA
- Fritz Pink fiel im Ersten Weltkrieg, Ludwig Pink (* 1898) emigrierte nach Australien
- Karl Fallend: Wilhelm Reich in Wien. Geyer-Edition, Wien/Salzburg 1988, S. 115–127
- Diese Rundbriefe blieben nach 1945 lange verschollen und nur als Teilsammlungen in privaten Nachlässen erhalten. Eine vollständige Ausgabe im Druck war erst 1998 möglich: Fenichel, Otto: 119 Rundbriefe (1934-1945). Hg. v. Elke Mühlleitner und Johannes Reichmayr. 2 Bände, zus. 2137 S. und eine CD-ROM, Frankfurt/M. - Basel: Stroemfeld-Verlag 1998; vgl. dazu die Info-Seite.
- Siehe: Markus Wehner / Aleksandr Vatlin: „Genosse Thomas“ und die Geheimtätigkeit der Komintern in Deutschland 1919–1925. In: IWK, 29. Jg., Heft 1, März 1993, S. 1–19; auch in: Alexander Watlin: Die Komintern 1919–1929: historische Studien, Mainz: Decaton 1993. Neuauflage: Alexander Vatlin: Die Komintern. Gründung, Programmatik, Akteure. Berlin: Dietz 2009, S. 247–271